28.06.2011
Finanzgericht Baden-Württemberg: Urteil vom 06.04.2011 – 1 K 808/08
1. Das FA hat die Möglichkeit der Aufrechung gegen Vorsteuerüberhänge des Insolenzschuldners durch eine anfechtbare Rechtshandlung erlangt, wenn die Eingangsleistung in der Zeit der vorläufigen Insolvenzverwaltung erfolgt ist.
2. Die gläubigerbenachteiligende Wirkung ergibt sich daraus, dass das FA erst durch die Bestellung der Insolvenzschuldnerin und den daraus folgenden Anspruch auf Vorsteuervergütung die Möglichkeit zur Aufrechnung erhalten hat.
3. Wegen des grundsätzlichen Vorrangs des Insolvenzrechts vor dem Steuerverfahrensrechts ändert die Saldierung steuerrechtlicher unselbständiger Ansprüche nach § 16 UStG nichts an dem Aufrechnungsverbot nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO.
Im Namen des Volkes
Urteil
In dem Finanzrechtsstreit
hat der 1. Senat des Finanzgerichts Baden-Württemberg aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 6. April 2011 durch Vorsitzenden Richter am Finanzgericht … Richter am Finanzgericht … Ehrenamtliche Richter …
für Recht erkannt:
Der Abrechnungsbescheid vom 18. April 2007 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 8. Januar 2008 in der Form vom 6. April 2011 wird dahin abgeändert, dass die Erstattungsansprüche aus den Umsatzsteuer-Voranmeldungszeiträumen für April 2006 i.H.v. 37.557,71 EUR, für Mai 2006 i.H.v. 20.013,88 EUR und für Juni 2006 i.H.v. 20.957,19 EUR (insgesamt 78.578,29 EUR) nicht durch Aufrechnung erloschen sind.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Ermöglicht der Kostenfestsetzungsbeschluss eine Vollstreckung im Wert von mehr als 1.500 EUR, hat der Kläger in Höhe des vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruches Sicherheit zu leisten. Bei einem vollstreckbaren Kostenerstattungsanspruch bis zur Höhe von 1.500 EUR kann der Beklagte der vorläufigen Vollstreckung widersprechen, wenn der Kläger nicht zuvor in Höhe des vollstreckbaren Kostenanspruchs Sicherheit geleistet hat, §§ 151 FGO i.V.m. 708 Nr. 11, 709, 711 ZPO.
Die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten zum Vorverfahren wird für notwendig erklärt.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Der Kläger ist Insolvenzverwalter der B GmbH und Co. KG (Schuldnerin). Das Insolvenzverfahren wurde am 1. Juli 2006 eröffnet. Zuvor war der Kläger auf den Eigenantrag der Schuldnerin vom 18. April 2006 zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt worden (Beschluss des Insolvenzgerichts vom 19. April 2006). Für die Voranmeldungszeiträume bis zur Insolvenzeröffnung machte die Schuldnerin folgende Vorsteuerüberhänge geltend:
Voranmeldung April 2006 vom 15. Mai | 37.557,71 EUR |
Voranmeldung Mai 2006 vom 9. Juni | 20.013,88 EUR |
Voranmeldung Juni 2006 vom 11. Juli | 20.957,19 EUR |
Summe | 78.528,78 EUR. |
Nach dem Vortrag des Klägers beruhten die Vorsteuerüberhänge auf Rechnungen, die nach Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung im Rahmen der Fortführung des Geschäftsbetriebs durch die Schuldnerin bezahlt worden seien.
Eine nach Insolvenzeröffnung angeordnete Umsatzsteuersonderprüfung stellte fest, dass bei der Schuldnerin Vorsteuern zu berichtigen seien, soweit diese auf im Zeitpunkt der Insolvenzeröffnung nicht bezahlten Verbindlichkeiten beruhten. Hieraus ergab sich ein in der Höhe unstreitiger Vorsteuerberichtigungsanspruch des beklagten Finanzamts (FA) von insgesamt 165.805,84 EUR. Mit seinem Vorsteuerberichtigungsanspruch rechnete das FA gegen den Vorsteuererstattungsanspruch der Schuldnerin auf. Daneben rechnete das FA mit Lohnsteueransprüchen für die Zeit vom Februar bis Mai 2006 i.H.v. 11.097,55 EUR auf.
Nachdem der Kläger gegen die Aufrechnung Einwände erhoben hatte, erließ das FA am 18. April 2007 einen Abrechnungsbescheid, in dem es seine Aufrechnung gegen die Vorsteuererstattungsansprüche aus den Voranmeldungen April bis Mai 2006 bestätigte. Mit seinem hiergegen erhobenen Einspruch machte der Kläger geltend, der Aufrechnung des FA mit seinem Vorsteuerberichtigungsanspruch stünde das Aufrechnungsverbot des § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO entgegen. Das FA wies mit Bescheid vom 8. Januar 2008 den Einspruch als unbegründet zurück. Nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO sei eine Aufrechnung unzulässig, wenn ein Insolvenzgläubiger die Möglichkeit der Aufrechnung durch eine anfechtbare Rechtshandlung erlangt habe. Eine solche anfechtbare Rechtshandlung liege nicht vor. Der Vorsteuerberichtigungsanspruch ergebe sich allein aus der Uneinbringlichkeit des Entgeltes, berühre aber nicht die ursprüngliche Steuerfestsetzung. Die Leistungsbeziehungen zwischen der Schuldnerin und ihren Vertragspartnern begründeten nur den Vergütungsanspruch, führten aber die Aufrechnungslage nicht herbei.
Mit seiner Klage wiederholt und vertieft der Kläger sein Vorbringen aus dem Einspruchsverfahren, dass der Aufrechnung des FA das Aufrechnungsverbot nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO entgegenstehe. Die vom Aufrechnungsverbot vorausgesetzte anfechtbare Rechtshandlung seien die Liefer- und Leistungsbeziehungen zwischen der Schuldnerin und ihren Vertragspartnern, aus denen die Vorsteuerüberhänge resultierten. Anfechtbar seien daher die Bestellungen der Schuldnerin, die Leistungserbringung der Lieferanten mit Umsatzsteuerausweis sowie die anschließende Zahlung der Rechnungen durch die Schuldnerin. Diese Rechtshandlungen hätten dazu geführt, dass in vorinsolvenzlicher Zeit Vorsteuerüberhänge der Schuldnerin entstanden seien, gegenüber denen das FA die Aufrechnung erklärt habe. Die zu den Vorsteuerüberhängen führenden Bestellungen der Schuldnerin seien anfechtbare Rechtshandlungen. Der Bundesfinanzhof habe sich in seinem Urteil vom 2. November 2010 (VII R 6/10, BFHE 231, 488) der Rechtsprechung des Bundesgerichtshof in dessen Urteil vom 22. Oktober 2009 (IX ZR 147/06, HFR 2010, 413) angeschlossen. Das Aufrechnungsverbot des § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO verlange danach nur, dass die Rechtshandlung vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden sei, dass sie irgendeine Voraussetzung für die Aufrechnungsmöglichkeit des Insolvenzschuldners geschaffen habe und dass die Rechtshandlung die Insolvenzgläubiger benachteilige.
Diese Voraussetzungen lägen vor. Die zur Aufrechnungslage führenden Vorsteuerüberhänge beruhten auf Lieferungen und damit Rechtshandlungen, die nach dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden seien (§ 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO). Die „Inkongruenzbeschaffung der Aufrechnungslage” bestehe, weil das FA keinen Anspruch auf Schaffung der Aufrechnungslage gehabt habe. Die Schuldnerin sei nicht verpflichtet gewesen, Bestellungen vorzunehmen, Leistungen mit Rechnungsausstellung entgegenzunehmen und diese Rechnungen zu bezahlen. Im Übrigen lägen auch die Voraussetzungen des § 130 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 InsO vor. Die objektive Gläubigerbenachteiligung gem. § 129 InsO liege darin, dass sich das FA durch Aufrechnung befriedigen könne, während es andernfalls nur eine Insolvenzforderung hätte geltend machen können und allenfalls eine Quote erhalten hätte. Durch eine wirksame Aufrechnung hätten sich die Befriedigungsmöglichkeiten der übrigen Insolvenzgläubiger verschlechtert.
Aufgrund des Aufrechnungsverbots nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO sei die Aufrechnung des FA mit Lohnsteuer- und Umsatzsteuerberichtigungsansprüchen unzulässig. Im übrigen seien die Lohnsteueranmeldungen für April bis Mai 2006 zwischenzeitlich auf 0 EUR korrigiert worden, weil in diesen Zeiträumen die Schuldnerin keine Löhne mehr bezahlt habe. Der Aufrechnung mit dem Vorsteuerberichtigungsanspruch stehe des weiteren entgegen, dass dieser aufgrund der Insolvenzeröffnung am 1. Juli 2006 um 11.00 Uhr erst im Monat Juli 2006 entstanden sei. Insoweit gebe es keinen Voranmeldungszeitraum, in dem eine Verrechnung von Vorsteuervergütungsansprüchen und positiven Umsatzsteuerbeträgen möglich wäre. Insoweit wäre die Aufrechnungslage erst nach Insolvenzeröffnung entstanden, was das Aufrechnungsverbot des § 96 Abs. 1 Nr. 1 InsO zur Folge hätte.
Der Kläger beantragt,
den Abrechnungsbescheid vom 18. April 2007 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 8. Januar 2008 dahin abzuändern, dass für die Umsatzsteuervoranmeldungszeiträume April, Mai und Juni 2006 der Schuldnerin Erstattungsansprüche aufgrund von Vorsteuerüberhängen bestätigt werden und zwar für April 2006 i.H.v. 37.557,71 EUR, für Mai 2006 i.H.v. 20.013,88 EUR und für Juni i.H.v. 20.957,19 (insgesamt 78.578,29 EUR) und aufrechenbare Gegenansprüche des Beklagten wegen Aufrechnungsverbots nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO nicht bestehen, hilfsweise die Revision zuzulassen sowie die Hinzuziehung des Prozessbevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.
Das FA beantragt,
die Klage abzuweisen, hilfsweise die Revision zuzulassen.
Es verweist zur Begründung auf seine Einspruchsentscheidung und führt ergänzend aus, dass die zu berichtigenden Vorsteuerbeträge bereits bei ordnungsgemäßer Voranmeldung hätten berücksichtigt werden müssen und eine Aufrechnungslage dann gar nicht erst entstanden wäre. Im Übrigen lägen die Voraussetzungen des § 96 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. §§ 130, 131 InsO nicht vor. Wenn die im Tagesgeschäft eines Handelsgewerbes üblichen Geschäftsvorfälle anfechtbare Rechtshandlungen sein sollten, gälte dies gleichermaßen für die angemeldeten Vorsteuerüberhänge, die durch eben diese Rechnungen verursacht seien. Ein Aufrechnungsvolumen wäre dann nicht vorhanden. Des weiteren entstehe die zu entrichtende Umsatzsteuer nicht durch eine Rechtshandlung, sondern kraft Gesetzes durch die Erfüllung der gesetzlichen Tatbestandsvoraussetzungen (§ 38 AO, § 13 UStG). Gleiches gelte für die damit korrespondierende Berechtigung zum Vorsteuerabzug. Eine durch eine Rechtshandlung in kongruenter oder inkongruenter Weise hergestellte anfechtbare Aufrechnungslage liege daher nicht vor.
Soweit sich der Kläger auf das Urteil des BFH vom 2. November 2010 (a.a.O.) berufe, seien die Sachverhalte nicht vergleichbar. Im Fall des BFH sei Vorsteuer aus der Zeit der vorläufigen Insolvenz mit Umsatzsteuer aus der Zeit davor verrechnet worden. Im vorliegenden Streitfall gehe es hinsichtlich Anmeldung und Verrechnung um denselben Zeitraum, nämlich den der vorläufigen Insolvenz von April bis Juni 2006.
Der Senat hat mit Beschluss vom 26. Januar 2011 die mündliche Verhandlung wiedereröffnet, weil das am Tag der mündlichen Verhandlung vom 19. Januar 2011 veröffentlichte Urteil des BFH vom 2. November 2010 (VII R 6/10) nicht berücksichtigt werden konnte. In der mündlichen Verhandlung vom 6. April 2011 hat der Vertreter des FA erklärt, der angefochtene Abrechnungsbescheid werde insoweit geändert, dass das Umsatzsteuerguthaben nicht mehr mit Lohnsteuer Februar bis Mai 2006 verrechnet werde. Statt dessen werde das Vorsteuerguthaben mit dem Korrekturanspruch aus § 17 UStG in entsprechend höherer Summe verrechnet.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze und die dem Gericht vorliegenden Akten des FA verwiesen (je ein Band Rechtsbehelfs- und Umsatzsteuerprüfungshandakten).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet. Der angefochtene Abrechnungsbescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 FGO). Die mit den Umsatzsteuervoranmeldungen für die Monate April bis Juni 2006 angemeldeten Vorsteuerüberschüsse sind nicht durch Aufrechnung erloschen. Der Aufrechnung des FA mit seinem Vorsteuerberichtigungsanspruch steht das insolvenzrechtliche Aufrechnungsverbot nach 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO entgegen.
Nach § 226 Abs. 1 AO gelten für die Aufrechnung mit Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis sowie für die Aufrechnung gegen diese Ansprüche die Vorschriften des BGB sinngemäß, soweit nichts anderes bestimmt ist. Soweit ein Insolvenzverfahren eröffnet wurde, sind zudem §§ 94 bis 96 InsO zu beachten.
1. Die allgemeinen Voraussetzungen der Aufrechnung gemäß § 226 Abs. 1 AO, §§ 387 ff. BGB liegen im Streitfall vor. Die zwischen dem FA und der Schuldnerin bestehenden Forderungen sind jeweils auf eine Geldleistung gerichtete, d.h. gleichartig, und standen sich im Zeitpunkt der Aufrechnungserklärung auch aufrechenbar gegenüber. Das FA durfte die ihm gebührende Leistung fordern (Fälligkeit der Gegenforderung) und die ihm obliegende Leistung bewirken (Erfüllbarkeit der Hauptforderung).
Der Vorsteuerberichtigungsanspruch des FA war bereits zum Zeitpunkt der Eröffnung des Insolvenzverfahrens fällig. Greifen spezielle steuergesetzliche Fälligkeitsbestimmungen nicht ein, so wird ein Anspruch nach § 220 Abs. 2 Satz 1 AO grundsätzlich mit seiner Entstehung fällig. Die Umsatzsteuerforderung des FA ist demnach spätestens mit Ablauf des Besteuerungszeitraums entstanden, in dem die Änderung der Bemessungsgrundlage (die Uneinbringlichkeit) eingetreten ist (§ 17 Abs 1 Satz 7 i.V.m. Abs. 2 Nr. 1 UStG). Das war hier mit Ablauf des 30. Juni 2006 (vgl. BFH-Beschluss vom 7. Juli 2010 VII B 253/09, BFH/NV 2010, 2019). Dass das Insolvenzverfahren erst einen Tag später, am 1. Juli 2006 (11.00 Uhr) eröffnet wurde, ändert nichts daran, dass die Gegenforderung des FA bereits im Juni 2006 entstanden war. Denn der Anspruch des FA auf Vorsteuerberichtigung nach § 17 Abs. 1 Satz 2 UStG entstand mit dem Ende des letzten Tages des maßgeblichen Voranmeldungszeitraums. Das war hier der 30. Juni 2006, weil bereits zu diesem Zeitpunkt klar war, dass wegen des am Folgetag eröffneten Insolvenzverfahrens die vor Verfahrenseröffnung begründeten Vorsteueransprüche aus gegenüber der Schuldnerin erbrachten und nicht bezahlten Eingangsleistungen uneinbringlich waren.
Die insolvenzrechtliche Begründetheit und Fälligkeit der Gegenforderung des FA wird von § 220 Abs. 2 Satz 2 AO nicht berührt. Danach tritt zwar die Fälligkeit nicht vor Bekanntgabe der Festsetzung ein, wenn sich der Anspruch aus der Festsetzung von Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis ergibt. Der wegen Uneinbringlichkeit entstandene Umsatzsteueranspruch des FA bedurfte nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens am 1. Juli 2006 aber keiner Festsetzung durch Steuerbescheid gemäß § 218 Abs. 1 AO und ist vom FA auch nicht festgesetzt worden. Vielmehr war das FA durch § 87 InsO gehindert, seine Forderung durch Steuerbescheid festzusetzen. Wird daher über das Vermögen des Steuerschuldners ein Insolvenzverfahren eröffnet, werden – vorbehaltlich spezieller steuergesetzlicher Fälligkeitsbestimmungen – die in diesem Zeitpunkt entstandenen Steuerforderungen fällig, ohne dass es dafür ihrer Festsetzung oder Feststellung durch Verwaltungsakt oder einer Anmeldung der Forderung zur Tabelle bedürfte (vgl. BFH-Urteil vom 4. Mai 2004 VII R 45/03, BStBl II 2004, 814).
Die Hauptforderung der Schuldnerin in Gestalt der angemeldeten Vorsteuerüberschüsse war bei Abgabe der Aufrechnungserklärung bereits entstanden und erfüllbar. Erfüllbar ist ein Steueranspruch mit seiner Entstehung. Auf die Fälligkeit oder auf die Festsetzung des Anspruchs durch einen Steuerbescheid kommt es bei der Erfüllbarkeit nicht an (vgl. BFH-Urteil vom 13. Januar 2000 VII R 91/98, BFHE 191, 5, BStBl II 2000, 246). Die Vorsteuerüberhänge der Schuldnerin waren daher bereits mit Ablauf der jeweiligen Voranmeldungszeiträume erfüllbar.
Die Insolvenzeröffnung änderte schließlich nichts an der Gegenseitigkeit der Forderungen. Zwar sind die umsatzsteuerlichen Verpflichtungen und Ansprüche der Schuldnerin nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch den Insolvenzverwalter, den Kläger, zu erfüllen und geltend zu machen, weil nur er verfügungsberechtigt ist. Allerdings verliert die Schuldnerin durch die Insolvenzeröffnung nicht ihre Unternehmereigenschaft.
2. Gemäß § 94 InsO wird das Recht zur Aufrechnung durch die InsO grundsätzlich nicht berührt, sofern ein Insolvenzgläubiger zur Zeit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens kraft Gesetzes oder aufgrund einer Vereinbarung zur Aufrechnung berechtigt war. Die Aufrechnung ist im vorliegenden Fall aber nach § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO unzulässig, weil das FA die Möglichkeit der Aufrechnung durch eine anfechtbare Rechtshandlung erlangt hat und die weiteren Voraussetzungen des § 131 InsO vorliegen.
a) Das FA hat die Möglichkeit der Aufrechnung gegen die angemeldeten Vorsteuerüberhänge durch eine anfechtbare Rechtshandlung erlangt. Der Begriff „Rechtshandlung” ist in § 129 InsO als Handlung definiert, die vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden ist und die Insolvenzgläubiger benachteiligt; er bezeichnet ein von einem Willen getragenes Handeln, das rechtliche Wirkungen auslöst und das Vermögen des Schuldners zum Nachteil der Insolvenzgläubiger verändern kann (vgl. BFH-Urteil vom 16. November 2004 VII R 75/03, BFHE 208, 296, BStBl II 2006, 193). Anfechtbare Rechtshandlungen sind im vorliegenden Fall die von den Lieferanten an die Schuldnerin erbrachten Eingangsleistungen in der Zeit der vorläufigen Insolvenzverwaltung, aus denen sich die in den Voranmeldungen April bis Juni 2006 erklärten Vorsteuerüberhänge ergaben, gegen die das FA aufgerechnet hat. Die Aufrechnungslage beruht damit auf einer anfechtbaren Rechtshandlung, auch wenn die aufgerechneten Umsatzsteueransprüche von Gesetzes wegen entstehen. Das gesetzliche Entstehen der Steuerschuld des Leistenden und des Vorsteueranspruchs des Leistungsempfängers jedoch ändert nichts daran, dass für das Entstehen von Umsatzsteuer und Vorsteuer eine Leistung erbracht werden muss. Diese Leistungserbringung genügt nach der geänderten Rechtsprechung des BFH für eine Rechtshandlung i.S. des § 129 InsO (BFH-Urteile vom 2. November 2010, VII R 6/10, BFHE 231, 488 und VII R 62/10, juris).
Darüber hinaus verlangt § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO lediglich, dass die Rechtshandlung vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens vorgenommen worden ist, dass sie irgendeine Voraussetzung für die Aufrechnungsmöglichkeit des Insolvenzschuldners geschaffen hat und dass die Rechtshandlung die Insolvenzgläubiger benachteiligt. Diese Voraussetzungen liegen vor. Die zu den Vorsteuerüberhängen führenden Eingangsleistungen wurden vor Verfahrenseröffnung erbracht und hatten gläubigerbenachteiligende Wirkung. Die gläubigerbenachteiligende Wirkung ergibt sich daraus, dass das FA erst durch die Bestellungen der Schuldnerin und den daraus folgenden Anspruch auf Anrechnung von Vorsteuer die Möglichkeit erhielt, seine vorinsolvenzlich begründete Forderung in Gestalt eines Vorsteuerberichtigungsanspruchs gegen die Vorsteuererstattungsansprüche der Schuldnerin aufzurechnen. Für den erforderlichen Ursachenzusammenhang zwischen der angefochtenen Rechtshandlung und der Beeinträchtigung des Gläubigerzugriffs reicht es aus, dass die Rechtshandlung im natürlichen Sinne eine (nicht hinwegzudenkende) Bedingung für die Gläubigerbenachteiligung darstellt. Er setzt nicht voraus, dass ggf. ein weiterer Umstand, der zu der angefochtenen Rechtshandlung hinzutritt und erst mit dieser zusammen die Gläubigerbenachteiligung auslöst, seinerseits durch eine anfechtbare Rechtshandlung verursacht ist (BGH-Urteil vom 9. Dezember 1999 IX ZR 102/97, BGHZ 143, 246), und er wird durch das Hinzutreten solcher weiteren Umstände auch nicht unterbrochen (vgl. BFH-Urteile vom 2. November 2010 a.a.O.)
Soweit der Bundesfinanzhof in seinem Urteil vom 2. November 2010 VII R 6/10 (a.a.O.) die Frage offen gelassen hat, ob eine gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO unzulässige Aufrechnung auch dann vorliegt, wenn der zugunsten der Schuldnerin anzurechnenden Vorsteuer positive Umsatzsteuerbeträge in demselben Voranmeldungszeitraum gegenüberstehen und mithin infolge der gemäß § 16 UStG vorzunehmenden Verrechnung ein umsatzsteuerrechtlich selbständiger Vergütungsanspruch des Schuldners nicht entsteht, ist der erkennende Senat der Auffassung, dass auch im Monat Juni 2006 eine gemäß § 96 Abs. 1 Nr. 3 InsO unzulässige Aufrechnung vorliegt. Zwar standen sich im Monat Juni 2006 der Vorsteuervergütungsanspruch der Schuldnerin und der Vorsteuerberichtigungsanspruch des FA gegenüber und hätten an sich nach § 16 UStG verrechnet werden können. Wegen des grundsätzlichen Vorrangs des Insolvenzrechts vor dem Steuerverfahrensrecht ist für die streitige Frage der Unzulässigkeit einer Aufrechnung aber die insolvenzrechtliche Sichtweise maßgebend. Danach standen sich im Monat Juni 2006 insolvenzrechtlich begründete und aufrechenbare Ansprüche gegenüber. Die Aufrechnung ist auch in diesem Monat unzulässig, weil sie ebenso wie in den Monaten April und Mai 2006 auf einer durch anfechtbare Rechtshandlungen begründete Aufrechnungslage beruht. Die steuerverfahrensrechtliche Verrechnung steuerrechtlich unselbständiger Ansprüche nach § 16 UStG ändert nichts daran, dass ein insolvenzrechtliches Aufrechnungsverbot nach Maßgabe des Insolvenzrechts zu prüfen ist. Ein danach bestehendes insolvenzrechtliches Aufrechnungsverbot kann nicht über die Besonderheiten der umsatzsteuerrechtlichen Verrechnung von Umsatz- und Vorsteuern überspielt werden. Dass eine Umsatzsteuerforderung oder ein Umsatzsteuerguthaben nicht durch die einzelnen Lieferungen und sonstigen Leistungen entsteht, sondern erst aus der mit der Steueranmeldung gemäß § 16 UStG für den jeweiligen Voranmeldungszeitraum vorzunehmenden Steuerberechnung (vgl. BFH-Beschluss 14. Januar 2009 VII S 24/08 (PKH), BFH/NV 2009, 885), ist für die vorliegende Frage daher unbeachtlich.
b) Das FA hat die Möglichkeit der Aufrechnung unter den Voraussetzungen des § 131 Abs. 1 Nr. 1 InsO erlangt. Nach dieser Vorschrift ist eine Rechtshandlung anfechtbar, wenn sie einem Insolvenzgläubiger eine Befriedigung ermöglicht, die er nicht beanspruchen kann, und wenn die betreffende Rechtshandlung im letzten Monat vor dem Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens oder nach diesem Antrag vorgenommen worden ist.
Die hier maßgebliche Rechtshandlung – Erbringung von Eingangsleistungen an die Schuldnerin – ist nach Stellung des Antrags auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens im April 2006 vorgenommen worden. Wie die Umsatzsteuer-Sonderprüfung feststellte, hat die Schuldnerin ihre Lieferbeziehungen nur mit ausgewählten Lieferanten fortgeführt und bei diesen in Abstimmung mit dem vorläufigen Insolvenzverwalter gegen Vorkasse Lieferungen bezogen. Diese Rechtshandlung hat, wie bereits ausgeführt, dem FA im Weiteren die Möglichkeit einer Aufrechnung und damit einer Befriedigung seiner Steuerforderungen gegen die Schuldnerin verschafft. Dass ihm diese Aufrechnungsmöglichkeit verschafft wird, konnte das FA nicht i.S. des § 131 Abs. 1 InsO gegenüber der Schuldnerin beanspruchen. Nach der Rechtsprechung des BGH ist § 131 InsO einschlägig (und nicht ein Fall einer sog. kongruenten Deckung gemäß § 130 InsO gegeben), wenn sich die Aufrechnungsbefugnis nicht aus dem zwischen dem Schuldner und dem Gläubiger zuerst entstandenen Rechtsverhältnis ergibt (BGH-Urteil vom 9. Februar 2006 IX ZR 121/03, NJW-RR 2006, 1062; vgl. u.a. auch BGH-Urteil in BGHZ 147, 233). Aus den Steuerschulden der Insolvenzschuldnerin ergab sich im Streitfall ein Anspruch auf Begleichung der Steuern durch Zahlung, nicht aber darauf, dem FA eine Aufrechnungsbefugnis (und damit die Möglichkeit der Befriedigung außerhalb der Verteilung im Insolvenzverfahren) zu verschaffen; diese ist erst dadurch entstanden, dass die Schuldnerin einen (insolvenzrechtlich vor Verfahrenseröffnung entstandenen) Vorsteuervergütungsanspruch erlangt hat.
3. Die die Zuziehung des Bevollmächtigten zum Vorverfahren war für notwendig zu erklären. Dem Verfahren lag ein Sachverhalt zugrunde, der in rechtlicher Hinsicht nicht von vornherein als einfach zu beurteilen war. Die Klägerseite durfte sich daher eines Rechtskundigen bedienen, um eine erfolgversprechende Rechtsverfolgung zu erreichen. Der Senat hält hiernach die Zuziehung des Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig (§ 139 Abs. 3 Satz 3 FGO).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
5. Die Revision wird wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 115 Abs. 1 Nr. 1 FGO) zugelassen.