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  • 15.06.2011

    Finanzgericht München: Urteil vom 07.01.2010 – 5 K 4146/07

    1. § 65 Abs.1 S. 1 Nr. 2 EStG regelt die Anspruchskonkurrenz zwischen kindbezogenen innerstaatlichen Leistungen und vergleichbaren kindbezogenen ausländischen Leistungen, sofern nicht spezielles europäisches oder Abkommensrecht gilt. Die Gewährung von deutschem Kindergeld für in Polen lebende Kinder ist ausgehend von den Regelungen des Einkommensteuergesetzes zu prüfen, wobei zu klären ist, ob die Ausschlussklausel des § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG von speziellem europäischem Recht verdrängt wird. Das ist nicht der Fall, wenn der Kläger nicht in den persönlichen Anwendungsbereich der streitigen europäischen Rechtsvorschriften fällt.

    2. Das deutsche Kindergeld fällt in den sachlichen Geltungsbereich der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71.

    3. Für die Frage, ob eine im Ausland für Kinder gezahlte Leistung dem deutschen Kindergeld i. S. d. § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG vergleichbar ist, ist entscheidend, ob die zu vergleichende Leistung wirtschaftlich die gleiche Zielrichtung verfolgt wie das Kindergeld; dies ist wegen der deutlich unterschiedlichen Höhe des Kindergelds in Deutschland bzw. Polen auch hinsichtlich der unterschiedlichen Lebenshaltungs-, Schul- und Berufsausbildungskosten zu prüfen.

    4. Bei ganz geringfügigen ausländischen Leistungen kann die funktionelle Vergleichbarkeit entfallen. Daher ist ggf. auch zu prüfen, ob ausnahmsweise trotz des Bezugs polnischen Kindergelds die Gewährung deutschen Kindergelds nicht nach § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen ist, etwa weil das polnische Kindergeld nicht zur Sicherstellung des Existenzminimums des Kindes ausreicht oder – da als Familiengeld und nicht als Kindergeld bezeichnet – eine andere Zielrichtung verfolgt.


    IM NAMEN DES VOLKES

    URTEIL

    In der Streitsache

    hat das Finanzgericht München, 5. Senat, durch den Richter am Finanzgericht … als Einzelrichter ohne mündliche Verhandlung am 07. Januar 2010

    für Recht erkannt:

    1. Der Bescheid vom 21. Dezember 2006 und die Einspruchsentscheidung vom 25. Oktober 2007 werden insoweit aufgehoben, als die Gewährung von Kindergeld ab dem 01. April 2006 über einen Monatsbetrag von 320,50 Euro hinaus abgelehnt wurde. Die Beklagte wird verpflichtet, den Kläger unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu bescheiden.

    2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

    3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für den Kläger vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten des Klägers die Vollstreckung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.

    Gründe

    I.

    Streitig ist, ob der Kläger für seine vier Kinder S., D., P. und T. zum Bezug von Kindergeld in voller Höhe berechtigt ist. Die beklagte Familienkasse gewährte ihm lediglich das hälftige Kindergeld und begründete dies damit, dass der Kläger zwar einen Wohnsitz im Inland habe, aber für seine in Polen bei der Mutter befindlichen Kinder dort bis zum August 2006 Familienbeihilfe bezogen hat bzw. für den Zeitraum danach beantragen hätte können.

    Der Kläger trägt vor, die bis August 2006 in Polen gewährte Familienbeihilfe von 13 bzw. 18 Euro stelle keine dem deutschen Kindergeld vergleichbare Leistung dar und könne deshalb nicht zu einem Ausschluss des Kindergeldbezugs nach § 65 Abs. 1 Nr. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) führen. Eine Kürzung oder ein Wegfall des deutschen Kindergelds ergebe sich auch nicht aus europarechtlichen Vorschriften. Der Kläger sei nicht als Selbständiger in einer alle Erwerbstätigen umfassenden Altersversicherung versicherungs- oder beitragspflichtig und falle daher nicht unter den Geltungsbereich der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71; zudem werde Kindergeld in Deutschland nicht als Sozialleistung gewährt, sodass der Anwendungsbereich der Verordnung auch deshalb nicht eröffnet sei. Entgegen der Auffassung der Beklagten liege auch kein Kollisionsfall nach Art. 76 der Verordnung vor, da aufgrund der Höhe des Einkommens des Klägers kein Anspruch auf Familienbeihilfe in Polen bestehe. Dem Kläger sei aufgrund seines Wohnsitzes im Inland, der auch zu seiner unbeschränkten Einkommensteuerpflicht führe, Kindergeld nach § 62 EStG in voller Höhe zu gewähren. Aufgrund der Höhe seiner Einkünfte in Deutschland (zu versteuerndes Einkommen 2004: 6.958 Euro, 2005 14.153 Euro) habe seine Frau Familienleistungen in Polen ab September 2006 nicht mehr beantragt.

    Der Kläger beantragt,

    den Bescheid der Beklagten vom 21. Dezember 2006 und die Einspruchsentscheidung vom 25. Oktober 2007 insoweit aufzuheben, als die Gewährung von Kindergeld ab dem 01. April 2006 hinaus abgelehnt wurde, und die Beklagte zu verpflichten, ihm Kindergeld in voller Höhe für seine vier Kinder zu gewähren.

    Die Familienkasse (Beklagte) beantragt,

    die Klage abzuweisen.

    Würde man den Anspruch des Klägers auf Kindergeld wegen der in Polen gezahlten Familienbeihilfe gänzlich ablehnen, so würde – unterstellt, das polnische Recht enthält eine § 65 Abs. 1 EStG entsprechende Anordnung – im Ergebnis kein Staat Familienleistungen gewähren. Dies widerspräche dem Sinn der zwischenstaatlichen Vorschriften. Folglich sei dem Kläger in Analogie zu den allgemeinen Konkurrenzregelungen der Art. 7 und 12 Abs. 2 der Verordnung hälftiges Kindergeld zu gewähren. Dabei könne sich die Tatsache, dass die Kindsmutter in Polen ab September 2006 keinen Antrag auf Familienbeihilfe mehr gestellt habe, nicht zu Gunsten des Klägers auswirken.

    Im Übrigen wird auf die Akten, die Schriftsätze der Beteiligten und die Einspruchsentscheidung verwiesen. Die Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung auch durch den Einzelrichter zugestimmt. Der Senat hat die Entscheidung dem Einzelrichter übertragen.

    II.

    1. Die Entscheidung ohne mündliche Verhandlung beruht auf § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO).

    2. Die Klage ist begründet, soweit sich der Kläger dagegen wendet, dass die Beklagte die Festsetzung von Kindergeld für seine vier Kinder in voller Höhe unter Berufung auf § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG verweigert hat. Insoweit ist der angefochtene Bescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 101 Satz 1 FGO.

    Eine gerichtliche Verpflichtung zur Aufklärung bis zur Spruchreife besteht nicht. Das Gericht darf sich darauf beschränken, die von der Beklagten für die Ablehnung der Kindergeldfestsetzung in voller Höhe angeführten Gründe auf ihre Rechtmäßigkeit zu prüfen. Das Gericht macht von dieser Befugnis Gebrauch, weil es weiterer Aufklärung bedarf, ob der Kläger sämtliche Anspruchsvoraussetzungen erfüllt. Danach war lediglich der angefochtene Bescheid und die Einspruchsentscheidung aufzuheben. Die Beklagte ist nach § 101 Satz 2 FGO verpflichtet, den Kläger unter Beachtung der folgenden Grundsätze zu bescheiden:

    a) Das Gericht ist der Auffassung, dass die Beklagte die Gewährung von deutschem Kindergeld ausgehend von den Regelungen des Einkommensteuergesetzes zu prüfen hat. Lediglich in diesem Zusammenhang ist die Frage zu klären, ob die Ausschlussklausel des § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG von speziellem europäischem Recht (hier der EG-VO Nr. 1408/71 i.V.m. VO (EWG) Nr. 574/72) verdrängt wird. Dies kann jedoch verneint werden, da der Kläger – wohl zwischen den Beteiligten unstreitig und von der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs auch so beurteilt – überhaupt nicht in den persönlichen Anwendungsbereich der vorgenannten Verordnung fällt.

    b) § 65 Abs.1 Nr. 2 EStG regelt die Anspruchskonkurrenz zwischen kindbezogenen innerstaatlichen Leistungen und vergleichbaren kindbezogenen ausländischen Leistungen, sofern nicht spezielles europäisches oder Abkommensrecht gilt. Dies ist jedoch nicht der Fall. Das deutsche Kindergeld fällt zwar – entgegen der Auffassung des Klägers – in den sachlichen Geltungsbereich der EG-VO Nr. 1408/71 (Bundesfinanzhof – BFH – Urteil vom 13. August 2002 VIII R 54/00, Bundessteuerblatt – BStBl – II 2002, 869; Bundesverfassungsgericht – BVerfG – Beschluss vom 08. Juni 2004, 2 BvL 5/00, Amtliche Sammlung von Entscheidungen des BVerfG – BVerfGE – 110, 412). Der Kläger wird aber, wie bereits oben unter a) ausgeführt, nicht vom persönlichen Geltungsbereich der Verordnung erfasst ist.

    Ausgeschlossen könnte der Anspruch des Klägers durch § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG sein, weil die Kindsmutter, die Ehefrau des Klägers, in Polen Familienbeihilfe für die vier Kinder erhalten hatte bzw. ab September 2006 möglicherweise nur deshalb nicht mehr erhalten hat, weil sie keinen entsprechenden Antrag mehr gestellt hat. Dies wäre der Fall, wenn die in Polen gewährten Leistungen dem Kindergeld vergleichbar sind.

    Ob der Anspruch auf Festsetzung von Kindergeld nach dem EStG durch § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen ist, lässt sich zur Zeit nicht abschließend beantworten.

    In der Kindergeldakte befindet sich die beglaubigte Übersetzung einer polnischen Bescheinigung, wonach die Kindsmutter vom 01. Mai 2004 bis zum 31. August 2006 „das Familiengeld bezogen” und danach keinen weiteren Antrag auf Familiengeld mehr gestellt habe.

    Die Beklagte wird durch Einholung einer ausführlichen Auskunft von den zuständigen polnischen Behörden zu klären haben, ob sich diese Bescheinigung auf alle vier Kinder des Klägers bezieht, ob ein Anspruch auch ab September 2006 bestanden hätte, wenn ein Antrag gestellt worden wäre, und wenn nicht, worauf die Verweigerung polnischen Kindergeldes ggf. beruht (womöglich zu hohes Familieneinkommen etc.).

    Für den Zeitraum bis August 2006 hat die Beklagte zwar ausgeführt, die gewährten polnischen Leistungen seien dem deutschen Kindergeld vergleichbar. Die Vergleichbarkeit mehrerer kindbezogener Leistungen richtet sich jedoch nicht nach der rechtlichen Ausgestaltung, sondern nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten. Zur Vermeidung von Doppelleistungen ist entscheidend, ob die zu vergleichende Leistung wirtschaftlich die gleiche Zielrichtung verfolgt wie das Kindergeld (BFH-Beschluss vom 30. Juni 2005 III B 9/05, Sammlung der Entscheidungen des BFH – BFH/NV – 2005, 2007). Dies wird die Beklagte – wegen der deutlich unterschiedlichen Höhe des Kindergelds in Deutschland bzw. Polen auch hinsichtlich der unterschiedlichen Lebenshaltungs-, Schul- und Berufsausbildungskosten – zu prüfen haben.

    Zudem kann bei ganz geringfügigen ausländischen Leistungen die funktionelle Vergleichbarkeit entfallen (BVerfG-Beschluss vom 08. Juni 2004 2 BvL 5/00, am angegebenen Ort – a.a.O. – unter C. II 3. b) aa) (1) (a) letzter Satz). Die Beklagte wird daher zu prüfen haben, ob ausnahmsweise trotz des Bezugs polnischen Kindergelds die Gewährung deutschen Kindergelds nicht nach § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG ausgeschlossen ist, etwa weil das polnische Kindergeld nicht zur Sicherstellung des Existenzminimums des Kindes ausreicht oder – da als Familiengeld und nicht als Kindergeld bezeichnet – eine andere Zielrichtung verfolgt.

    3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO (vgl. BFH-Urteil vom 02. Juni 2005 III R 66/04, BStBl II 2006, 184).

    4. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 151 Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

    VorschriftenEStG § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2, EWGV 1408/71 Art. 12 Abs. 2, EWGV 1408/71 Art. 76, EWGV 574/72 Art. 7 Abs. 1