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  • 15.06.2011

    Finanzgericht Münster: Gerichtsbecheid vom 28.02.2011 – 11 K 3311/10 E

    Das EStG 2002 sah für Antragsveranlagungen gem. § 46 Abs. 2 Nr. 8 noch eine zweijährige Antragsfrist vor. Gem. § 52 Abs. 55 j EStG 2008 ist u.a. in allen Fällen, in denen am 28.12.2007 über einen Antrag auf Veranlagung zur ESt noch nicht bestandskräftig entschieden ist, § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG in seiner neuen Fassung anzuwenden. Diese sieht keine besondere Antragsfrist mehr vor.


    Im Namen des Volkes

    GERICHTSBESCHEID

    In dem Rechtsstreit

    hat der 11. Senat in der Besetzung: Vorsitzender Richter am Finanzgericht … Richter am Finanzgericht … Richterin am Finanzgericht … am 28.02.2011 für Recht erkannt:

    Tatbestand:

    Streitig ist, ob für das Streitjahr 2002 noch ein erstmaliger Einkommensteuer(ESt)-Bescheid ergehen kann.

    Seine ESt-Erklärung 2002 reichte der Kläger am 21.08.2008 beim Beklagten ein. Hierin wurden Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit erklärt (38.539 EUR Bruttoarbeitslohn, Steuerklasse I) sowie Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung i.H.v. ./. 11.249 EUR.

    Mit Bescheid vom 22.08.2008 lehnte es der Beklagte ab, eine Einkommensteuerveranlagung durchzuführen. Die notwendigen Voraussetzungen des § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 EStG seien nicht erfüllt. Auch sei keine Veranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG möglich, da die Frist für die Abgabe der ESt-Erklärung mit dem 31.12.2004 abgelaufen sei. Die Änderung der Frist von zwei auf vier Jahre gelte erst ab dem Veranlagungszeitraum 2005.

    Der hiergegen eingelegte Einspruch blieb erfolglos. In der Einspruchsentscheidung vom 06.08.2010 führte der Beklagte ergänzend Folgendes aus: Die Zweijahresfrist des § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG sei durch das Jahressteuergesetz (JStG) 2008 weggefallen. Diese Änderung sei erstmals ab dem Veranlagungszeitraum 2005 anzuwenden. Anträgen auf Veranlagung für ein Kalenderjahr vor 2005 sei nach neuer Rechtsprechung des BFH ebenfalls zu entsprechen, wenn der Antrag erst nach dem 28.12.2007 (= Tag der Verkündung des JStG) beim Finanzamt eingegangen sei, soweit Verjährungsfristen nicht entgegenstehen. Nach Wegfall der Zweijahresfrist könne der Antrag auf Durchführung einer ESt-Veranlagung innerhalb der Festsetzungsfrist gestellt werden. Diese betrage vier Jahre (§ 169 Abs. 2 AO) und beginne mit dem Ablauf des Kalenderjahrs, für das der Antrag auf ESt-Veranlagung gestellt werde. Nach § 170 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AO beginne die Festsetzungsfrist in Fällen, in denen eine ESt-Erklärung abzugeben sei, zwar abweichend von § 170 Abs. 1 AO mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuererklärung eingereicht werde, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahrs, das auf das Jahr folge, in dem die Steuer entstanden sei. Diese Regelung betreffe jedoch ausschließlich Fälle, in denen der Steuerpflichtige aufgrund einer gesetzlichen Regelung zur Abgabe der ESt-Erklärung verpflichtet sei oder das Finanzamt ihn zur Abgabe der Steuererklärung aufgefordert habe. Die Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO gelte damit nicht, wenn ohne Aufforderung durch das Finanzamt eine Steuererklärung eingereicht werde, durch die der Antrag auf eine ESt-Veranlagung gestellt werde. Eine Pflichtveranlagung sei u.a. durchzuführen, wenn die Summe der nicht dem Lohnsteuerabzug unterliegenden Einkünfte positiv sei und über 410 EUR liege.

    Im Streitfall sei der Antrag auf Veranlagung zur ESt 2002 nach dem 28.12.2007, nämlich am 21.08.2008, beim Finanzamt eingegangen. Demnach sei zu prüfen, ob Festsetzungsverjährung eingetreten sei. Die Festsetzungsfrist betrage vier Jahre und beginne mit Ablauf des 31.12.2002. Sie ende somit mit Ablauf des 31.12.2006. Die Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO greife im Streitfall nicht, da es sich hier nicht um eine Pflichtveranlagung, sondern um eine Antragsveranlagung handele. Eine Pflichtveranlagung liege nicht vor, weil die Einkünfte, die nicht dem Lohnsteuerabzug unterworfen worden seien, negativ seien (Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung ./. 11.249 EUR).

    Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Klage. Er ist der Auffassung, dass die dreijährige Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO auch für Antragsveranlagungen gelte. Eine verfahrensrechtlich unterschiedliche Behandlung von Pflicht- und Antragsveranlagungen verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG.

    Der Kläger beantragt,

    den Beklagten unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 22.08.2008 sowie der Einspruchsentscheidung vom 06.08.2010 zu verpflichten, die Einkommensteuer 2002 entsprechend der am 21.08.2008 eingereichten Einkommensteuererklärung festzusetzen.

    Der Beklage beantragt,

    die Klage abzuweisen.

    Er verweist im Wesentlichen auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung.

    Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten sowie die Steuerakten Bezug genommen.

    Entscheidungsgründe:

    Die Entscheidung ergeht durch Gerichtsbescheid (§ 90a Abs. 1 FGO).

    Die zulässige Klage ist begründet.

    Der Ablehnungsbescheid vom 22.08.2008 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten.

    1. Besteht das Einkommen – wie im Streitfall – nach § 46 Abs. 2 EStG ganz oder teilweise aus Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit, von denen ein Steuerabzug vorgenommen worden ist, so wird eine Veranlagung nur durchgeführt, wenn ein Fall des § 46 Abs. 2 Nr. 1 bis 7 EStG vorliegt oder der Steuerpflichtige die Veranlagung gem. § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG beantragt. Durch Einreichung der Einkommensteuererklärung für 2002 am 21.08.2008 hat der Kläger den entsprechenden Antrag gestellt.

    Das EStG 2002 sah für Antragsveranlagungen nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG noch eine zweijährige Antragsfrist vor. Diese gilt im Streitfall jedoch nicht mehr. Denn gemäß § 52 Abs. 55 j EStG 2008 ist u.a. in allen Fällen, in denen – wie hier – am 28.12.2007 über einen Antrag auf Veranlagung zur Einkommensteuer noch nicht bestandskräftig entschieden ist, § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG in seiner neuen Fassung anzuwenden. Diese sieht keine besondere Antragsfrist mehr vor.

    Dass der Kläger bis zum 28.12.2007 noch keinen Antrag auf Durchführung einer Veranlagung gestellt hatte, ist nach der Rechtsprechung des BFH (Urteil vom 12.11.2009 – VI R 1/09, BStBl II 2010, 406) unschädlich. § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG n.F. sei auch für diejenigen Anträge maßgeblich, die erst nach der Veröffentlichung des Jahressteuergesetzes 2008 gestellt worden seien.

    2. Für den Veranlagungszeitraum 2002 ist auch noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten. Denn es greift die Anlaufhemmung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO.

    Nach dieser Vorschrift beginnt die Festsetzungsfrist, wenn eine Steuererklärung oder eine Steueranmeldung einzureichen oder eine Anzeige zu erstatten ist, mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuererklärung, die Steueranmeldung oder die Anzeige eingereicht wird, spätestens jedoch mit Ablauf des dritten Kalenderjahrs, das auf das Kalenderjahr folgt, in dem die Steuer entstanden ist, es sei denn, dass die Festsetzungsfrist nach Absatz 1 später beginnt. Nach Absatz 1 beginnt die Festsetzungsfrist mit Ablauf des Kalenderjahrs, in dem die Steuer entstanden ist oder eine bedingt entstandene Steuer unbedingt geworden ist.

    Bei Anwendung des § 170 Abs. 1 AO hätte die vierjährige Regelverjährungsfrist des § 169 Abs. 2 Nr. 2 AO im Streitfall mit Ablauf des Jahres 2002 begonnen und mit Ablauf des Jahres 2006 geendet. Bei Anwendung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO begann die Verjährungsfrist dagegen erst mit Ablauf des Jahres 2005 und endete frühestens mit Ablauf des Jahres 2009.

    Ob § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO anwendbar ist, ist in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung umstritten und Gegenstand von Revisionsverfahren. Der 4. Senat des Finanzgerichts Baden-Württemberg kommt in seinem Urteil vom 04.05.2010 (4 K 478/10, EFG 2010, 1611, Revision anhängig unter VI R 53/10) zu dem Schluss, dass die Anlaufhemmung bei Antragsveranlagungen nicht greife und die Unterscheidung zwischen Pflicht- und Antragsveranlagungen auch kein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG sei. Der 6. Senat des Sächsischen Finanzgerichts (s. Urteil vom 23.03.2010 – 6 K 2168/08, veröffentlicht bei juris, Revision anhängig unter VI R 77/10) ist dagegen der Ansicht, dass die Anlaufhemmung auch für Antragsveranlagungen greife, zumal eine Ungleichbehandlung von Pflicht- und Antragsveranlagung nicht geboten sei und ein etwaiger Gleichheitsverstoß durch verfassungskonforme Auslegung des § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO behoben werden könne. Auch der BFH scheint § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO für anwendbar zu halten; jedenfalls wurde in dem Verfahren VI R 23/08 (Urteil vom 15.01.2009, BFH/NV 2009, 755) die Revision des Finanzamts, mit der dieses die Anwendung von § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO auf Antragsveranlagungen gerügt hatte, als unbegründet zurückgewiesen. Streitjahre waren dort u.a. die Jahre 1997 und 1998 und die Abgabe der ESt-Erklärungen erfolgte erst in 2003, so dass ohne Anlaufhemmung bereits Festsetzungsverjährung eingetreten wäre.

    Der Senat hält § 170 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AO ebenfalls für anwendbar. Insbesondere gebietet der Wortlaut der Vorschrift („wenn eine Steuererklärung oder eine Steueranmeldung einzureichen oder eine Anzeige zu erstatten ist”) keine Differenzierung zwischen Pflicht- und Antragsveranlagungen. Dies gilt erst recht vor dem Hintergrund, dass – wie sich unmissverständlich aus § 46 Abs. 2 Nr. 8 Satz 2 EStG ergibt – auch bei Antragsveranlagungen eine Steuererklärung „einzureichen ist”. Denn der Antrag auf Durchführung einer Veranlagung nach § 46 Abs. 2 Nr. 8 EStG ist durch Abgabe einer ESt-Erklärung zu stellen. Auch sind keine sonstigen Gründe ersichtlich, die eine unterschiedliche Behandlung von Pflicht- und Antragsveranlagungen gebieten.

    3. Soweit der Kläger beantragt hat, das Finanzamt zur Festsetzung der ESt 2002 entsprechend der am 21.08.2008 eingereichten Einkommensteuererklärung zu verpflichten, war seinem Antrag nicht zu folgen. Da die Sache insoweit nicht spruchreif ist, war der Beklagte gem. § 101 Satz 2 FGO lediglich zu verpflichten, neu zu bescheiden.

    4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO und die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung. Die Revision wurde im Hinblick auf die o.g. Revisionsverfahren gem. § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zugelassen.

    VorschriftenEStG 2008 § 52 Abs 55 j, EStG 2002 § 46 Abs 2 Nr 8