03.05.2011
Finanzgericht Düsseldorf: Urteil vom 09.03.2011 – 4 K 4502/10 AO
Nach § 236 Abs. 1 Satz 1 AO besteht auch ein Anspruch auf Prozesszinsen, wenn durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung eine mangels Bekanntgabe unwirksame Steuerfestsetzung aufgehoben wird.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt die Festsetzung von Prozesszinsen aufgrund eines vorangegangenen gerichtlichen Verfahrens, dem folgender Sachverhalt zu Grunde lag:
Die Mutter der Klägerin übertrug der Klägerin am 11.01.2003 unentgeltlich Grundbesitz. Der beurkundende Notar zeigte den Erwerb dem Beklagten am 24.01.2003 an.
Am ......2003 starb die Mutter der Klägerin und wurde von der Klägerin allein beerbt. Die Erbschaftsteuererklärung der Klägerin ging am 06.10.2003 beim Beklagten ein.
Der Beklagte nahm die Klägerin für die Schenkung der Mutter mit Schenkungsteuerbescheid vom 12.11.2007 auf 2.352 EUR Schenkungsteuer und mit Erbschaftsteuerbescheid vom 12.11.2007 für ihren Erwerb von Todes wegen nach ihrer Mutter auf 227.225 EUR Erbschaftsteuer in Anspruch.
Der Beklagte verfügte die Zustellung der Bescheide mit „PZU” und übergab sie am 12.11.2007 zur Zustellung der A, die dem Beklagten auch mit Zustellurkunde vom 13.11.2007 deren Zustellung am 13.11.2007 um 7 Uhr 20 durch Einlegen in den zur Wohnung der Klägerin gehörenden Briefkasten bescheinigte.
Nachdem die Steuerberaterin der Klägerin dem Beklagten am 10.01.2008 mitgeteilt hatte, die Klägerin habe zwar am 08.01.2008 zwei Mahnungen, aber keinen Bescheid erhalten, übersandte der Beklagte der Klägerin am 18.01.2008 Kopien der Zustellungsurkunde und der Bescheide. Die daraufhin am 07.02.2008 eingelegten Einsprüche verwarf der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 14.04.2008 als unzulässig.
Dagegen erhob die Klägerin Klage. Während des Klageverfahrens setzte der Beklagte die Erbschaftsteuer mit Bescheid vom 09.10.2008 auf 239.746 EUR herauf. Nach Beweisaufnahme durch Ortsbesichtigung, Einvernahme von Zeugen und Beiziehung eines gegen die Zustellerin der A ergangenen Strafurteils wegen Sachbeschädigung und versuchten Betrugs durch Vernichtung förmlicher Zustellungen hob das Finanzgericht mit Urteil vom 16.12.2009, 4 K 1617/08 Erb, den Schenkungsteuerbescheid vom 12.11.2007 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 14.04.2008 und den Erbschaftsteuerbescheid vom 09.10.2008 auf, da die Steuern nicht innerhalb der zum 31.12.2007 ablaufenden Festsetzungsfrist festgesetzt worden seien. Die Beweisaufnahme habe nämlich ergeben, dass die in der dem Beklagten übersandten Zustellungsurkunde beurkundete Ersatzzustellung tatsächlich nicht stattgefunden habe. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf das Urteil vom 16.12.2009 verwiesen.
Die Klägerin hatte die Schenkungsteuer und 227.225 EUR Erbschaftsteuer gezahlt, bevor sie die Klage im Verfahren 4 K 1617/08 Erb erhob. Die mit Bescheid vom 09.10.2008 darüber hinaus für den Erwerb von der Mutter festgesetzte Erbschaftsteuer von 12.521 EUR zahlte die Klägerin am 28.10.2008. Nach Rechtskraft des Urteils vom 16.12.2009 im Verfahren 4 K 1617/08 Erb erstattete der Beklagte die gezahlte Erbschaft- und Schenkungsteuer sowie entstandene Säumniszuschläge.
Den Antrag auf Erstattung der Prozesszinsen vom 09.04.2010 lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 13.04.2010 ab, da weder die Schenkungsteuer noch die Erbschaftsteuer in den vom Finanzgericht aufgehobenen Bescheiden wirksam festgesetzt worden sei. Der Steueranspruch sei daher erloschen. Die 2008 geleisteten Zahlungen seien auf eine nicht mehr existente Schuld erfolgt. Der damit entstehende Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) löse keine Prozesszinsen aus.
Den fristgerecht eingelegten Einspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 06.12.2010 als unbegründet zurück, da zwar eine gerichtliche Entscheidung vorliege, aber eine festgesetzte Steuer fehle. Insoweit sei es unerheblich, dass erst im Klageverfahren aufgrund der Vernehmung der Zustellerin die unterbliebene Bekanntgabe der angefochtenen Bescheide möglich erschienen sei. Diese Rechtsauffassung bestätige auch das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen (OVG Münster) vom 02.04.1990, 22 A 1488/88.
Im Streitfall fehle es an einer gesetzlichen Regelung für einen Zinsanspruch nach der AO.
Mit ihrer fristgerecht erhobenen Klage verfolgt die Klägerin ihr Begehren weiter und trägt dazu vor, für den geltend gemachten Zinsanspruch sei es unerheblich, aus welchem Grund es zu einer Herabsetzung oder Beseitigung der Abgabenschuld gekommen sei, wenn nur die Gerichtsentscheidung für die Herabsetzung ursächlich gewesen sei. Hier habe das Finanzgericht die Bescheide auch ausdrücklich aufgehoben, zumal sich der Beklagte dieses Steueranspruchs berühmt habe und vorläufiger Rechtsschutz bis zur Beweisaufnahme im Verfahren 4 K 1617/08 Erb aussichtslos gewesen wäre.
Das vom Beklagten zitierte Urteil des OVG Münster sei vom Sachverhalt nicht einschlägig und gehe in seinem Leitsatz im Hinblick auf den Gesetzeszweck des § 236 Abs. 1 AO zu weit.
Das Tatbestandsmerkmal „festgesetzte Steuer” habe nur in Abgrenzung zu einer angemeldeten Steuer und einer mit Steuerzeichen oder Steuerstempeln entrichteten Steuer Bedeutung.
Zudem stelle die vom Beklagten vertretene Auslegung eine durch nichts gerechtfertigte Ungleichbehandlung in Bezug auf den Zinsanspruch dar.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung seines ablehnenden Bescheids vom 09.04.2010 (richtig: 13.04.2010) in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 06.12.2010 zu verpflichten, unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Finanzgericht Prozesszinsen festzusetzen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen,
und verweist zur Begründung auf seine Einspruchsentscheidung.
Gründe
Die Klage ist begründet.
Der Beklagte hat der Klägerin mit dem angefochtenen Bescheid vom 13.04.2010 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 06.12.2010 zu Unrecht die Festsetzung von Erstattungszinsen abgelehnt. Da die Klägerin dadurch in ihren Rechten verletzt ist, war der Beklagte unter Aufhebung der angefochtenen Verwaltungsentscheidungen zur Festsetzung der Prozesszinsen zu verpflichten, § 101 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO).
Nach § 236 Abs. 1 Satz 1 AO besteht in dem hier interessierenden Zusammenhang ein Anspruch auf Prozesszinsen, wenn durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung eine festgesetzte und gezahlte Steuer herabgesetzt wird.
Im Streitfall ist die mit Schenkungsteuerbescheid vom 12.11.2007 festgesetzte Schenkungsteuer und die mit Bescheiden vom 12.11.2007 und 08.10.2008 festgesetzte Erbschaftsteuer durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung, nämlich durch das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 16.12.2009, 4 K 1617/08 Erb herabgesetzt worden.
Eine Herabsetzung ist auch dann anzunehmen, wenn die angefochtenen Bescheide – wie hier – durch die gerichtliche Entscheidung in vollem Umfang aufgehoben worden sind (Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler AO § 236 Rz. 8; Loose in Tipke/Kruse AO § 236 Rz. 9; Kögel in Beermann/Gosch AO § 236 Rz. 19; Leopold/Madle/Rader ua. AO Praktikerkommentar § 236 Rz. 5; Wagner in Kühn/v. Wedelstädt AO 19. Aufl. § 236 Rz. 7; Pahlke/Koenig AO 2. Aufl. § 236 Rz. 12).
Festgesetzte Steuer im Sinne des § 236 Abs. 1 Satz 1 AO ist die durch Festsetzung unabhängig von der Veranlagungsform (unter dem Vorbehalt der Nachprüfung, vorläufig oder endgültig) bestimmte Steuer. Dabei ist ohne Bedeutung, aus welchen Gründen die Herabsetzung erfolgt ist (s. Anwendungserlass zur Abgabenordnung § 236 Nr. 1). Folglich ist es unerheblich, ob die herabgesetzte oder aufgehobene Steuerfestsetzung – mangels Bekanntgabe (§§ 155 Abs. 1 Satz 2, 122 Abs. 1 AO) unwirksam gewesen war.
Die den Zinsanspruch begründende festgesetzte Steuer im Sinne des § 236 Abs. 1 AO steht im Gegensatz zu einer durch Verwendung von Stemplern oder Steuerzeichen zu zahlenden und damit nicht festzusetzenden Steuer (s. § 167 Abs. 1 AO) oder einer ohne Änderung der Steuerfestsetzung im Abrechnungsverfahren oder einer aufgrund eines Vorgangs im Erhebungsverfahren streitigen Steuer. Für die zuletzt genannten Steuern ist die Verzinsung nach § 236 Abs. 1 AO nicht vorgesehen (vgl. BFH Urteil v. 12.05.1987 VII R 203/87, BStBl. II 1987, 702 f.).
Die weitergehende, auf das Urteil des OVG Münster vom 02.04.1990 (22 A 1488/88) gestützte Annahme des Beklagten, festgesetzte Steuer im Sinne des § 236 Abs. 1 Satz 1 AO sei nur die Steuer, die auch mit einem wirksamen Bescheid, im Streitfall also mit einem wirksam bekannt gegebenen Bescheid festgesetzt worden ist, überzeugt nicht. Sie widerspricht dem Gesetzeszweck, der dem Steuerpflichtigen eine Entschädigung dafür gewährt, dass ihm während der Rechtshängigkeit das durch die Steuerzahlung verwendete Kapital vorenthalten wurde (s. BFH Urteil v. 13.07.1994, I R 38/93, BStBl. II 1995, 37 ff., 38).
Zudem führt die vom Beklagten vertretene Auslegung zu nicht zu rechtfertigenden Ergebnissen: Sie macht nämlich die Zinszahlung von den Gründen der Aufhebung des angefochtenen Bescheides abhängig, obwohl es für eine derartige Differenzierung keinen nachvollziehbaren Grund gibt. Ist wie im Streitfall hinsichtlich der Steuer des rechtskräftig beendeten Vorprozesses Festsetzungsverjährung eingetreten, kann es für den Zinsanspruch, wenn der Steuerpflichtige des Vorprozesses die Steuer auf den erlassenen, aber tatsächlich nicht wirksam zugestellten Steuerbescheid gezahlt hat, nicht darauf ankommen, ob die Zustellung des Steuerbescheids wirksam war oder nicht. Über dessen aufgrund der vorliegenden Zustellungsurkunde scheinbaren Wirksamkeit konnte nämlich erst nach einer Beweisaufnahme entschieden werden.
Auch hätte die Klägerin im Vorprozess nicht die Zahlung der bei ihr angemahnten Steuern vermeiden können: Ein im Einspruchsverfahren oder bei Klageerhebung gestellter Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Schenkungs- und des Erbschaftsteuerbescheids wäre abgelehnt worden, weil die Straftat der Zustellerin, die zur Widerlegung der Beweiskraft der Zustellungsurkunde geführt hat und eine Aussetzung der Vollziehung rechtfertigende ernstliche Zweifel hätte begründen können, erstmals in der Beweisaufnahme möglich erschienen ist. Damit erlitt sie durch die Steuerzahlung einen Nachteil, dessen Ausgleich § 236 Abs. 1 Satz 1 AO gerade bezweckt.
Ergänzend ist noch darauf hinzuweisen, dass der Streitfall mit demjenigen, der der Entscheidung des OVG Münster zu Grunde lag, nicht vergleichbar ist. In dem vom OVG entschiedenen Fall zahlte die dortige Klägerin auf eine vermeintliche Steuerschuld eines nichtexistenten Dritten und erhielt dafür keine Zinsen nach § 236 AO, da ihr hinsichtlich der Rückzahlung allein ein Erstattungsanspruch nach § 37 Abs. 2 AO zustand. Für diesen Anspruch stehen dem Zahlenden – wie dargelegt keine Zinsen nach § 236 Abs. 1 Satz 1 AO zu.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
Die Revision ist nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen.