01.12.2010
Finanzgericht Düsseldorf: Urteil vom 05.10.2010 – 16 K 3048/08 Kg
- Der Anspruch eines unbeschränkt steuerpflichtigen polnischen Saisonarbeiters mit Familienwohnsitz in Polen auf deutsches Kindergeld während einer mehrmonatigen nichtselbständigen Tätigkeit im Inland wird durch das europäische Gemeinschaftsrecht ausgeschlossen, wenn er als selbständiger Landwirt in der polnischen Sozialversicherung für Landwirte sozialversichert ist, keine Beiträge in die deutsche Sozialversicherung entrichtet und deshalb für das Arbeitsverhältnis vorrangig und ausschließlich polnisches Sozialversicherungsrecht gilt.
- Deutsches Kindergeldrecht ist mangels eines Anwendungsbefehls zugunsten des nationalen Rechts in §§ 62 ff. EStG nicht anwendbar, wenn nach der VO (EWG) 1408/71 das Recht eines anderen Mitgliedstaats anwendbar ist.
Tatbestand
Der Kläger, ein polnischer Staatsbürger, von Beruf Landwirt, arbeitete vom 26.03. bis zum 11.07.2007 als Saisonarbeitnehmer bei der Gärtnerei „N” in „T-Stadt”. Für den Zeitraum März bis Juli 2007 beantragte er bei der Beklagten der Familienkasse Kindergeld für seine in Polen lebenden Kinder „X” (geboren 1987), „S” (geboren 1988) und „P” (geboren 1992). Er erklärte, dass seine Ehefrau für die Kinder laufendes polnisches Kindergeld erhalten habe. Er legte eine Bescheinigung des Arbeitgebers vor, wonach ein Sozialversicherungsverhältnis zur deutschen Versicherungsanstalt nicht bestanden habe, sondern für das Arbeitsverhältnis polnisches Sozialversicherungsrecht gelte (Vorlage des Formulars E 101). Für die volljährigen Kinder waren Formulare E 402 (Bescheinigung über die Fortsetzung der Schul- oder Hochschulausbildung für die Gewährung von Familienleistungen) beigefügt, außerdem jeweils Erklärungen zu den Einkünften und Bezügen für 2007. Schließlich legte der Kläger eine Lohnsteuerbescheinigung für 2007 vor, die u. a. einen Bruttoarbeitslohn von 7.373 EUR auswies. Die Familienkasse lehnte den Kindergeldantrag für März bis Juli 2007 ab, weil die Anspruchsvoraussetzungen des § 62 EStG nicht erfüllt seien (Ablehnungsbescheid vom 18.04.2008).
Hiergegen erhob der Kläger Einspruch. Er trug vor, er sei für 2007 vom Finanzamt als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt worden; hieraus ergebe sich der Anspruch auf deutsches Kindergeld. Er fügte einen Einkommensteuerbescheid des Finanzamts „H-Stadt” für 2007 (vom 07.04.2008) bei, der auf einer Einzelveranlagung beruht, mit einer festgesetzten Einkommensteuer in Höhe von 0 EUR. Der Einspruch hatte keinen Erfolg. Die Familienkasse führte aus, der Kläger unterliege –wie die dem Arbeitgeber vorgelegte Bescheinigung E 101 ausweise durchgehend dem polnischen Sozialversicherungssystem, so dass für ihn gemäß Art. 13 ff. der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14.06.1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer, Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (konsolidierte Fassung, Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften – ABlEG – Nr. L 28 vom 30.01.1997, S. 1) im Folgenden: VO Nr. 1408/71 ausschließlich die polnischen Rechtsvorschriften anzuwenden seien; hierunter falle auch der Anspruch auf Kindergeld. Die VO Nr. 1408/71 sei in Deutschland unmittelbar geltendes Recht und gehe den nationalen Bestimmungen vor. Demgemäß seien im Streitfall auf den Kläger ausschließlich die polnischen Vorschriften anwendbar, und zwar unabhängig davon, ob und in welcher Höhe in Polen Kindergeld gewährt werde. Auch die Zahlung von Aufstockungsbeträgen zwischen einem niedrigeren ausländischen und dem höheren deutschen Kindergeld komme nicht in Betracht, weil deutsches Kindergeldrecht nicht anwendbar sei (Einspruchsentscheidung vom 03.07.2008).
Am 06.08.2008 hat der Kläger bei Gericht zunächst Prozesskostenhilfe beantragt für ein beabsichtigtes Klageverfahren auf Gewährung von Kindergeld für seine 3 Kinder und für einen Zeitraum von 5 Monaten (März bis Juli 2007). Nachdem der Senat antragsgemäß Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Prozessvertreters gewährt hat, hat der Kläger rechtzeitig Klage erhoben und Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Der Kläger ist der Ansicht, ihm stehe für den streitigen Zeitraum deutsches Kindergeld in Höhe von 2.310 EUR zu. Dieser Anspruch ergebe sich aus Art. 73 der VO Nr. 1408/71; hiernach habe ein Arbeitnehmer, der in einem Mitgliedstaat (Deutschland) arbeitet, für seine Familienangehörigen, die in einem anderen Mitgliedstaat (Polen) wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des Beschäftigungslandes (Deutschland), als ob die Familienangehörigen im Gebiet des Beschäftigungslandes wohnten. Außerdem bestehe der Kindergeldanspruch nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b) EStG, weil der Kläger für 2007 nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt worden sei; da insoweit die Anspruchsvoraussetzungen das gesamte Jahr 2007 bestanden hätten, bestehe ein Anspruch auf deutsches Kindergeld gemäß § 66 Abs. 2 EStG sogar für das gesamte Jahr 2007. § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 führe zu keinem anderen Ergebnis: die Vorschrift widerspreche gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben und sei zudem nicht einschlägig, weil für den Kläger kein Kindergeldanspruch in Polen bestanden habe. Die Sozialversicherungspflicht des Klägers sei für den Kindergeldanspruch irrelevant.
Der Kläger beantragt,
die Familienkasse unter Aufhebung des Bescheides vom 18.04.2008 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 03.07.2008 zu verpflichten, Kindergeld für seine 3 Kinder für die Zeit von März bis Juli 2007 festzusetzen;
hilfsweise: die Revision zuzulassen.
Die Familienkasse beantragt,
die Klage abzuweisen;
hilfsweise: die Revision zuzulassen.
Die Familienkasse hält an ihrer Auffassung fest, dass ein deutscher Kindergeldanspruch ausscheide, weil für den in Polen (als selbständiger Landwirt) sozialversicherten Kläger vorrangig und ausschließlich polnisches Recht anwendbar sei.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schriftsätze der Beteiligten, den vom Finanzamt „H-Stadt” übersandten Hefter (Steuerakte) und die vom Gericht beigezogene Kindergeldakte der Familienkasse Bezug genommen.
Gründe
1. Die Klage ist zulässig.
Dem Kläger ist nach § 56 FGO Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, weil er ohne Verschulden gehindert war, die Klagefrist einzuhalten. Es entspricht gefestigter Rechtsprechung, dass ein Beteiligter solange ohne Verschulden an einer Klageerhebung gehindert ist, wie über seinen Prozesskostenhilfeantrag vom Gericht noch nicht entschieden ist. Das Hindernis entfällt mit der Entscheidung des Gerichts über seinen Prozesskostenhilfeantrag. Im Streitfall hat der Kläger in Einklang mit § 56 Abs. 1 Satz 1 FGO innerhalb von zwei Wochen nach der Bekanntgabe des Beschlusses Klage erhoben.
2. Die Klage ist jedoch unbegründet.
Dem Kläger steht für seine Kinder für die Monate März bis Juli 2007 kein deutsches Kindergeld zu.
Zwar besitzt der Kläger gemäß § 62 Abs. 1 EStG auch einen Anspruch auf Kindergeld, wenn er ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird (§ 62 Abs. 1 Nr. 2 EStG). Letzteres steht nach Beiziehung der Steuerakte des Finanzamts „H-Stadt” fest.
Jedoch hat die Familienkasse einen Anspruch des Klägers auf Kindergeld für März bis Juli 2007 zu Recht versagt: Der gemäß §§ 62 ff. EStG tatbestandsmäßig vorliegende Anspruch auf deutsches Kindergeld, wenn § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht anwendbar ist, wird durch das europäische Gemeinschaftsrecht ausgeschlossen, weil der Kläger als Landwirt in der polnischen Sozialversicherung für Landwirte ”...” sozialversichert ist.
Das deutsche Kindergeld fällt in den sachlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71; es ist eine Familienleistung i. S. des Art. 4 Abs. 1 Buchst. h dieser Verordnung (Urteil des Bundesverfassungsgerichts –BVerfG vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung –HFR 2004, 1139).
Der Kläger unterliegt auch dem persönlichen Geltungsbereich der VO Nr. 1408/71. Er ist in Polen als selbständiger Landwirt (mit einer Landwirtschaft von 8,47 ha) tätig und als solcher offenbar in der polnischen Landwirtschaftlichen Sozialversicherung ”...” versichert (vgl. die Vorlage des Formulars E 101, das eine Sozialversicherungspflicht in Polen ausweist, gegenüber dem deutschen Arbeitgeber).
In diesem Fall greift Art. 14 a Nr. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 ein: aufgrund der selbständigen Tätigkeit als Landwirt in Polen unterliegt der Kläger weiterhin den polnischen Rechtsvorschriften, wenn die Dauer der (nichtselbständigen) Arbeit als Erntehelfer in Deutschland auf wenige Monate begrenzt und nicht auf die Dauer von mehr als 12 Monaten angelegt ist. Dabei kommt es nicht darauf an, in welchem Ausmaß der Kläger tatsächlich eine Landwirtschaft betreibt – weder die Größe des Hofes bzw. des ländlichen Anwesens noch der Umfang der landwirtschaftlichen Tätigkeit, die Menge der produzierten und ggf. verkauften landwirtschaftlichen Produkte sind von Bedeutung. Entscheidend ist vielmehr einzig, dass eine Eingliederung als Selbständiger in die landwirtschaftliche Sozialversicherung besteht. Dieser Sichtweise entspricht Art. 1 Buchst. a) der VO Nr. 1408/71.
Dieses Ergebnis entspricht auch dem Grundgedanken der Verordnung: Die anzuwendende VO Nr. 1408/71 geht in Art. 13 Abs. 1 Satz 1 von dem Ausschließlichkeits-Grundsatz aus, nämlich dass alle Personen, die von der Verordnung erfasst werden, den Rechtsvorschriften ausschließlich eines Mitgliedsstaates unterliegen sollen (BVerfG-Beschluss vom 8. Juni 2004, a. a. O.; BFH- Urteil vom 13. August 2002 VIII R 97/01, BFH/NV 2002, 1588; EuGH-Urteil vom 20. Mai 2008, Rechtssache Bosmann, C – 352/06, HFR 2008, 877, Randnrn. 17, 19). Wer zu einem bestimmten Zeitpunkt dem System der sozialen Sicherheit eines Landes unterliegt, soll auch nur nach diesem System Kindergeld erhalten. Diese Regelung dient der Gleichbehandlung aller in einem Mitgliedsstaat erwerbstätigen Arbeitnehmer und der Einfachheit der Rechtsanwendung, sie verhindert Anspruchskumulationen und Mitnahmeeffekte.
Diese Anwendung des polnischen Rechts auf Familienleistungen ist im Streitfall auch interessengerecht. Der Kläger hat in Polen seinen Familienwohnsitz, er ist dort in die polnische landwirtschaftliche Sozialversicherung eingegliedert, er hat Beiträge entrichtet und Leistungen zu erwarten, und seine Kinder leben in Polen; dagegen entrichtet der Kläger keine Beiträge in die deutsche Sozialversicherung.
Aus der Entscheidung des EuGH (EuGH-Urteil vom 20. Mai 2008, Rechtssache C – 352/06, Slg. I 2008, 3827, HFR 2008, 877) ergibt sich nichts anderes. Der EuGH hat ausgeführt, dem Wohnsitzmitgliedstaat könne nicht die Befugnis abgesprochen werden, den in seinem Gebiet wohnhaften Personen Familienbeihilfen zu gewähren, selbst wenn eine Person nach Art. 13 der VO Nr. 1408/71 den Rechtsvorschriften eines anderen Staates unterfalle. Der Wohnsitzstaat solle durch die VO Nr. 1408/71 nicht daran gehindert werden, dieser Person nach seinem Recht Familienbeihilfen zu gewähren. Ob allerdings nach deutschem Recht für diesen Fall ein Anspruch besteht, hatte der EuGH nicht zu entscheiden; diese Prüfung ist Sache der nationalen Gerichte.
Hiernach hält der erkennende Senat die Anwendung des deutschen Kindergeldrechts für ausgeschlossen, wenn nach der VO Nr. 1408/71 nur die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats Anwendung finden, selbst wenn diese Familienleistungen nur in geringerer Höhe vorsehen bzw. ausschließen (ebenso FG Düsseldorf Urteil vom 16. April 2010 3 K 1401/09 Kg, EFG 2010, 1140; FG Düsseldorf Urteil vom 27. April 2010 10 K 3402/08 Kg, juris).
Den §§ 62 ff. EStG ist nicht zu entnehmen, dass deutsches Kindergeldrecht auch dann anwendbar ist, wenn nach dem Wortlaut der VO Nr. 1408/71 die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats Anwendung finden (vgl. Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs – DAFamEStG vom 30. September 2009 St II 2 – S 2280 – 170/09, BStBl I 2009, 1030, die einen Kindergeldanspruch nur dann als gegeben ansieht, wenn weder ein Ausschlusstatbestand nach § 65 EStG „noch nach über- bzw. zwischenstaatlichem Recht vorliegt”, DA 62.1 Abs. 1 Satz 2). Ein Anwendungsbefehl zugunsten des nationalen Rechts wäre aber zu erwarten, weil die VO Nr. 1408/71 als überstaatliches Recht den nationalen Rechtsvorschriften vorgeht und deren Anwendungsbereich begrenzt.
Dass der Gesetzgeber von einem Anwendungsvorrang des überstaatlichen Rechts ausgeht, zeigt § 1 Abs. 7 des Bundeserziehungsgeldgesetzes i. d. F. des Gesetzes vom 12. Oktober 2000. Durch diese Vorschrift wurde die Anspruchsberechtigung von Ehegatten von EU-Bürgern mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat als Deutschland hinsichtlich des Erziehungsgeldes für den Fall neu geregelt, dass nur der EU-Bürger in Deutschland erwerbstätig ist, nicht aber sein im Wohnsitzstaat lebender Ehegatte. Der Gesetzgeber wollte damit als Reaktion auf das EuGH-Urteil vom 10. Oktober 1996 in den Rechtssachen C-245/94 und C-312/94 (Hoever und Zachow, Slg. I 1996, 4895) das nationale Recht der Regelung der VO Nr. 1408/71 anpassen (BT-Drucks. 14/3118, 10). Dieses bestimmt aus seiner Sicht darüber, ob und in welchem Umfang nationales Recht in Zu- und Abwanderungsfällen anwendbar ist.
Nach alledem hat der EuGH der Familienkasse nicht die Befugnis abgesprochen, Kindergeld nur im Rahmen der europarechtlichen Vorgaben zu gewähren, also neben den Regelungen der §§ 31 f., 62 ff. EStG auch die der VO Nr. 1408/71, unter anderem Art. 13 ff., als unmittelbar geltendes Recht anzuwenden.
Unter diesen Umständen kann dahinstehen, ob ein etwaiger deutscher Kindergeldanspruch gemäß § 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG wegen des Bezugs polnischer Familienleistungen durch die Ehefrau des Klägers ausgeschlossen wäre.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
4. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen.