08.01.2010
Finanzgericht Münster: Urteil vom 08.03.2005 – 6 K 1847/04 Kg
1) Eine Aussetzung des Klageverfahrens nach § 74 FGO bis zu einer Entscheidung in einem parallel angestrengten Billigkeitsverfahren kommt nicht in Betracht.
2) Bei der Vorschrift des § 70 Abs. 2 EStG handelt es sich um eine verschuldensunabhängige Norm.
3) Der Verbrauch des Kindergelds steht einer Rückforderung desselben nach § 70 Abs. 2 EStG nicht entgegen.
4) Die Verwirkung des Rückforderungsanspruches setzt voraus, dass sich der zur Rückerstattung Verpflichtete nach dem gesamten Verhalten des Berechtigten darauf verlassen durfte und verlassen hat, dass dieser das Rückforderungsrecht in Zukunft nicht geltend machen werde.
5) Der Umstand, dass im Fall der Nichtgewährung von Kindergeld Sozialhilfe gewährt worden wäre, die keinem Rückforderungsanspruch unterlegen hätte, berührt die Rechtmäßigkeit des Rückforderungsbescheides nach § 70 Abs. 2 EStG nicht.
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
In dem Rechtsstreit
wegen Kindergeld
hat der 6. Senat des Finanzgerichts Münster in der Sitzung vom 08.03.2005, an der teilgenommen haben:
Vorsitzender Richter am Finanzgericht …
Richterin am Finanzgericht …
Richter am Finanzgericht …
Ehrenamtliche Richterin …
Ehrenamtlicher Richter …
im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung für Recht erkannt:
Tatbestand
Die am 19. Mai 1963 geborene Klägerin ist jugoslawische Staatsangehörige. In der Zeit vom 28. August 2002 bis zum 31. Juli 2003 hielt sie sich geduldet im Bundesgebiet auf. Sie ist Mutter von vier Kindern, die zwischen 1984 und 1989 geboren wurden. Die Kinder halten sich ebenfalls im Bundesgebiet auf.
Mit Bescheid vom 25. Februar 2002 setzte der Beklagte ab August 2001 Kindergeld in Höhe von 608,44 EUR monatlich fest.
Spätestens am 04. November 2003 teilte sie der Beklagten mit, dass sie seit August 2002 keine Erwerbstätigkeit mehr ausübe, statt dessen der Ehemann, U, eine Arbeit angenommen habe und bat um die Zusendung eines neuen Antrages auf Gewährung von Kindergeld.
Nach vorangegangener Anhörung hob die Beklagte die Festsetzung des Kindergeldes ab April 2002 mit Bescheid vom 15.01.2004 auf und forderte die Klägerin auf, überzahltes Kindergeld in Höhe von 11.538,00 EUR zurückzuzahlen. Zur Begründung führte sie aus, dass der Anspruch auf Kindergeld mit Aufgabe der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung erloschen sei.
Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin fristgerecht Einspruch ein. Zur Begründung führte sie aus: Ihre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung habe zwar am 31. März 2002 geendet, niemand habe sie aber darauf aufmerksam gemacht, dass die Voraussetzungen für den Bezug von Kindergeld entfallen seien. Sie habe sich nach der Beendigung der Beschäftigung auch sofort beim Arbeitsamt A gemeldet, wo man sie ebenfalls nicht auf diesen Umstand hingewiesen habe. Außerdem habe zeitgleich ihr Ehemann eine Arbeit als geringfügig Beschäftigter erhalten, weshalb sie der Ansicht gewesen sei, weiter Kindergeld beziehen zu dürfen.
Den Einspruch wies die Beklagte mit Entscheidung vom 23. März 2004 zurück. Zur Begründung führte sie aus: Nach § 62 Abs. 2 Einkommensteuergesetz habe ein Ausländer nur dann Anspruch auf Kindergeld, wenn er im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder -berechtigung sei. Gleiches gelte u. a. für Personen mit der Staatsangehörigkeit von Jugoslawien, solange sie Arbeitnehmer im Sinne der jeweils mit diesen Staaten abgeschlossenen Abkommen über soziale Sicherheit sei. Arbeitnehmer im Sinne dieses Abkommens sei, wer eine arbeitslosenversicherungspflichtige Beschäftigung ausübe oder im Anschluss an einer solchen Beschäftigung Erziehungsgeld erhalte, sich bei fortbestehendem Arbeitsverhältnis im Erholungsurlaub befinde oder Arbeitslosengeld, Krankengeld, Mutterschaftsgeld oder Verletztengeld beziehe.
Da die Klägerin als Ausländerin nicht im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis oder Aufenthaltsberechtigung gewesen ist, ihre sozialversicherungspflichtige Tätigkeit im März 2002 erloschen sei und sie kein Arbeitslosengeld bezogen habe, habe der Kindergeldanspruch nicht bestanden, weshalb die Festsetzung des Kindergeldes nach § 70 Abs. 2 Einkommensteuergesetz aufzuheben und das Kindergeld zurückzufordern gewesen sei.
Mit der am 07. April 2004 erhobenen Klage begehrt die Klägerin weiter die Aufhebung des angegriffenen Bescheides. Zur Begründung führt sie aus: Ihr sei nicht bekannt gewesen, dass der Verlust der Arbeitsstelle Einfluss auf die Kindergeldberechtigung habe. Ferner sei zu berücksichtigen, dass allein die Kindergeldzahlung dazu geführt habe, dass sie keine weitere Hilfe zum Lebensunterhalt habe in Anspruch nehmen müssen. Wenn nunmehr das gezahlte Kindergeld zurückgefordert würde, stünde sie schlechter da, als wenn sie dies nicht beantragt hätte, weil sie sonst Hilfe zum Lebensunterhalt erhalten hätte und dann von einer Rückzahlungspflicht verschont geblieben wäre.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 15. Januar 2004 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Berichterstatter hat den Sachverhalt mit den Beteiligten am 14. Juli 2004 erörtert. Hinsichtlich des Ergebnisses des Termins wird auf das hierauf gefertigte Protokoll Bezug genommen. Im Termin haben die Beteiligten einen Verzicht auf die Durchführung der mündlichen Verhandlung erklärt.
Gründe
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Das Gericht kann diese Entscheidung auch treffen, ohne den Ausgang eines zwischenzeitlich von der Klägerin angestrengten Erlassverfahrens nach § 227 Abgabenordnung abzuwarten. Das Gericht ist nicht gehalten, das Klageverfahren gemäß § 74 Finanzgerichtsordnung auszusetzen, bis in dem Einspruchsverfahren, das sich gegen die Ablehnung des von der Klägerin angestrengten Erlasses richtet, entschieden ist. Denn das Festsetzungsverfahren (hier hinsichtlich der Rückforderung von Kindergeld gemäß § 37 Abgabenordnung) und das Billigkeitsverfahren wegen des Erlasses gemäß § 227 Abgabenordnung, stehen selbständig nebeneinander und sind nicht voneinander abhängig (vgl. auch BFH-Urteil vom 26. Februar 1991 IX R 95/88, BFHE 163, 562, BStBl II 1991, 572). Damit fehlt es an den Voraussetzungen für die Aussetzung des Verfahrens gemäß § 74 Finanzgerichtsordnung (BFH-Urteil vom 12. Juni 1997 I R 70/96, BFHE 183, 465, BStBl II 1998, 38; Tipke/Kruse Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung§ 74 Finanzgerichtsordnung, Tz. 12; von Groll in Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und Finanzgerichtsordnung, § 227, Abgabenordnung 1977, Rdnr. 192).
Auch liegen die Voraussetzungen für ein Ruhen des Verfahrens nach § 155 Finanzgerichtsordnung i.V.m. § 251 ZPO nicht vor, da es insoweit an einem beiderseitigen Antrag fehlt.
Die angegriffene Entscheidung der Beklagten ist rechtmäßig. Diese hat zurecht die Kindergeldfestsetzung gemäß § 70 Abs. 2 Einkommensteuergesetz rückwirkend ab April 2002 aufgehoben. Nach dieser Vorschrift ist die Festsetzung des Kindergeldes zu ändern, soweit in den Verhältnissen, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich sind, eine Veränderung eintritt. Diese Voraussetzungen liegen vor. Ein Anspruch auf Kindergeld kann sich für die Klägerin, die sich im Streitzeitraum lediglich geduldet im Bundesgebiet aufgehalten hat und damit die Voraussetzungen des § 62 Abs. 2 Einkommensteuergesetz, aus dem deutsch-jugoslawischen Abkommen über soziale Sicherheit vom 12. Oktober 1968 (BGBl II 1969, 1438) in der Fassung des Änderungsabkommens vom 30. September 1974 (BGBl II 1975, 389) ergeben. Anspruchsberechtigt nach diesem Abkommen sind jedoch – allenfalls – nur Personen, die als Arbeitnehmer beschäftigt sind oder Krankengeld oder Arbeitslosengeld beziehen (vgl.: BFH, Beschluss vom 09. Juli 2003, VIII B 98/03, BFH/NV 2003, 1423).
Diese Anspruchsvoraussetzungen hat die Klägerin ursprünglich erfüllt. Sie sind mit dem Verlust des Arbeitsplatzes im März 2002 jedoch weggefallen. Deshalb war die Beklagte verpflichtet, die Kindergeldfestsetzung aufzuheben und das Kindergeld zurückzufordern. Unerheblich ist insoweit, ob die Klägerin an der Nichtanzeige des Wegfalls des Arbeitsplatzes bei der Beklagten (sie hat dies nach eigenen Darstellungen wohl dem Arbeitsamt mitgeteilt) und der weiteren Inanspruchnahme ein Verschulden trifft. Denn bei § 70 Abs. 2 Einkommensteuergesetz handelt es sich um eine verschuldensunabhängige Norm.
Auch steht der Verbrauch des Kindergeldes der Rückforderung nach § 70 Abs. 2 Einkommensteuergesetz, § 37 Abgabenordnung nicht entgegen (vgl. BFH-Beschluss vom 09. Februar 2004, VIII B 113/03, BFH/NV 2004, 763). Denn weder das Einkommensteuergesetz, noch die Abgabenordnung enthalten eine dem § 48 Abs. 2 Satz 2 des Verwaltungsverfahrensgesetzes und § 45 Abs. 2 Satz 2 SGB X entsprechende Regelung, nach der das Vertrauen in eine gewährte Leistung in der Regel schutzwürdig ist, wenn der Begünstigte sie verbraucht oder eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann.
Der Zeitablauf zwischen dem Verlust des Arbeitsplatzes im März 2002 und der Rückforderung am 15. Januar 2004 führt auch nicht zu einer Verwirkung des Rückforderungsanspruches. Eine Verwirkung setzt voraus, dass sich der zur Rückerstattung Verpflichtete nach dem gesamten Verhalten des Berechtigten darauf verlassen durfte und verlassen hat, dass dieser das Recht in Zukunft nicht geltend machen werde. Der Zeitablauf allein reicht für die Annahme der Verwirkung eines Rückforderungsanspruches grundsätzlich nicht aus. Hinzukommen muss ein Verhalten, aus dem der Verpflichtete bei objektiver Beurteilung den Schluss ziehen darf, dass er nicht mehr in Anspruch genommen werden sollte. Schließlich muss der Verpflichtete auch tatsächlich auf die Nichtgeltendmachung des Anspruchs vertraut und sich entsprechend eingerichtet haben (vgl. BFH, Urteil vom 14. Oktober 2003, VII R 56/01, BFHE 203, 472 m. w. N.).
Die Kindergeldakte enthält nach der Festsetzung des Kindergeldes vom 25. Februar 2002 bis zum Eingang des Fragebogens zur Prüfung des Anspruchs von Kindergeld am 04. November 2003 keinen Hinweis darauf, dass die Klägerin ihre Erwerbstätigkeit verloren hat. Soweit die Klägerin mitteilt, dass sie der Arbeitsvermittlung den Verlust der Arbeitsstelle angezeigt habe, kann dies einen Verwirkungstatbestand durch die Beklagte nicht begründen.
Es kann daher auch offen bleiben, ob die Klägerin aus dem ihr nach Darlegung der Beklagten überreichten Merkblatt zur Gewährung von Kindergeld hätte wissen können und müssen, dass sie auch der Beklagten den Verlust der Arbeitsstelle hätte anzeigen müssen.
Sofern die Klägerin – zutreffend – darlegt, dass sie im Fall der Nichtgewährung von Kindergeld Sozialhilfe hätte beziehen können und deshalb einem Rückforderungsanspruch nicht ausgesetzt wäre, führt dies im vorliegenden Verfahren zu keiner anderen Beurteilung. Die Gewährung von Sozialhilfe stellt nach dem Nachranggrundsatz des § 2 Abs. 1 BSHG auf das Vorhandensein von „präsenten” Hilfsmitteln ab. Sozialhilfe erhält danach nicht, wer sich selbst helfen kann oder die erforderliche Hilfe von anderen erhält. Demnach hat der Hilfe Suchende vorrangig alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel zur Deckung seines Bedarfes einzusetzen. Ob diese rechtmäßig oder rechtswidrig erworben sind, ist insoweit ebenso unerheblich, wie die Frage, ob er die Mittel geliehen hat oder aus eigenem Vermögen schöpft. Dementsprechend war die Einstellung der Sozialhilfeleistungen zutreffend. Sofern der Rechtsanspruch auf Kindergeldleistungen nunmehr nachträglich wegfällt, führt dies – was die Klägerin ebenfalls zutreffend darlegt – nicht zu einem rückwirkenden Wiederaufleben eines Anspruches auf Sozialhilfe, da der in der Vergangenheit bereits gedeckte Bedarf nicht nunmehr erneut gedeckt werden kann (BVerwG-Urteil vom 13. November 2003 5 C 26/02 FEVS 55, 320-323). Gleichzeitig stellt dieser Vorgang aber nicht die Rechtswidrigkeit der seinerzeit festgesetzten Kindergeldleistungen in Frage und berührt damit die Rechtmäßigkeit des Rückforderungsanspruches nicht.
Die Kostenentscheidung ergeht gemäß § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung.