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  • 02.11.2010

    Finanzgericht Münster: Urteil vom 17.09.2009 – 5 K 327/09 U

    1) Die nicht ordnungsgemäße nationalgesetzliche Umsetzung des Art. 13 Teil B Buchst. f der 6. EG-RL (nach Ergehen des EuGH, Urt. v. 17.2.2005 - Rs. C-453/02, Rs. 462/02 - Linneweber und Akriditis, UR 2005, 194 = BFH/NV Beilage 2005, 94) führt nicht zur Nichtigkeit, sondern allenfalls zur (Gemeinschafts)-Rechtswidrigkeit der Umsatzsteuerfestsetzungen.

    2) Bestandskräftige Umsatzsteuerbescheide bleiben nicht wegen einer Frist-Anlaufshemmung aufgrund des Effektivitätsgebots aus Art. 10 EG anfechtbar.

    3) Eine Aufhebung eines rechtswidrigen, belastenden, bestandskräftigen Verwaltungsakts kommt nach der Rechtsprechung des EuGH nur dann in Betracht, wenn es hierfür eine nationale Regelung gibt. Die §§ 172 ff. AO ermöglichen das jedoch nicht.

    4) Das Ergebnis des EuGH-Verfahren Emmot (Slg. 1991, I-4269 = UR 1993, 315) ist auf diejenigen Fälle beschränkt, in denen sich die Behörde unter Verstoß gegen Treu und Glauben auf die Nichteinhaltung einer Rechtsbehelfs- oder Rechtsmittelfrist berufen hat.

    5) Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gem. § 110 AO oder im Billigkeitswege kommt nicht in Betracht, da ein Stpfl. nicht durch höhere Gewalt an der Einlegung eines Rechtsbehelfs gehindert war, sondern durch Unkenntnis der zutreffenden Rechtslage.

    6) Es besteht kein gemeinschaftsrechtlicher Erstattungsanspruch und auch kein solcher aus § 37 Abs. 2 AO, da Rechtsgrund der Umsatzsteuerzahlung die betreffenden Umsatzsteuerbescheide sind.

    7) Die Fragen der Durchbrechung der Bestandskraft gemeinschaftsrechtswidriger belastender Verwaltungsakte ist nach Ergehen der Entscheidung des EuGH v. 12.2.2008 - Rs. C-2/06 - Kempter, DStRE 2008, 1163 geklärt und Bedarf keiner weiteren Vorlage an den EuGH mehr.


    Im Namen des Volkes

    URTEIL

    In dem Rechtsstreit

    hat der 5. Senat in der Besetzung: Vorsitzender Richter am Finanzgericht … Richterin am Finanzgericht … Richter … ehrenamtlicher Richter … ehrenamtlicher Richter … ohne mündliche Verhandlung in der Sitzung vom 17.09.2009 für Recht erkannt:

    Tatbestand:

    Streitig ist die Änderung bestandskräftiger USt-Festsetzungen aufgrund der EuGH-Entscheidung zur Steuerfreiheit von Geldspielautomatenumsätzen.

    Der Kläger betrieb in den Streitjahren 1987 bis 1996 eine Spielhalle und erzielte dabei u.a. Umsätze aus dem Betrieb von Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit.

    Der Beklagte erließ für die Streitjahre folgende USt-Bescheide (bei Erlass von mehreren Bescheiden für ein Streitjahr ist jeweils nur der zuletzt ergangene Bescheid aufgeführt), in denen die Einnahmen aus Geldspielgeräten mit Gewinnmöglichkeit der Umsatzsteuer unterworfen wurden:

    JahrAbgabe der USt-ErklärungBescheidfestgesetzte USt
    1987keine Steuerakten mehr vorhanden
    (für 1988 bis 1994 sind ebenfalls keine Steuerakten vorhanden, jedoch ein Veranlagungsspiegel)
    198818.12.198926.02.1996
    198912.02.199126.02.1996
    199005.09.199126.02.1996
    199111.11.199223.02.1996
    199220.01.199401.03.199697.020,– DM
    199329.05.199501.03.199660.631,– DM
    199412.10.199501.03.199638.496,– DM
    199503.12.199627.01.1997 Zustimmung18.097,50 DM
    199610.10.199728.10.1997 Zustimmung42.206,90 DM
    Die Festsetzungen wurden bestandskräftig.

    Mit Schreiben vom 15. Mai 2002 beantragte der Kläger die Änderung der USt-Festsetzungen für die Jahre 1996 bis 2000 gem. § 164 Abs. 2 AO und mit Schreiben vom selben Tag legte er Einspruch gegen die Umsatzsteuerabrechnungen für die Jahre 1996 bis 2000 ein.

    Nach Ergehen des EuGH-Urteils vom 17. Februar 2005 (Rs. C-453/02 und Rs. C-462/02 – Linneweber und Akritidis –, BFH/NV Beilage 2005, 94) legte der Kläger mit Schreiben vom 15. März 2005 gegen alle ab 1978 bzw. ab Gewerbeaufnahme erlassenen USt-Festsetzungen Einspruch ein und beantragte, die Festsetzungen dahingehend zu ändern, dass Umsätze aus dem Betrieb von Glückspielgeräten umsatzsteuerfrei zu belassen seien.

    Zur Begründung führte er aus, dass der Einspruch – unter Hinweis auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vom 25. Juli 1991 Rs. C-208/90 – Emmott – (Slg. 1991, I-4269, HFR 1993, 137, UR 1993, 315) – zulässig sei, denn die Rechtsbehelfsfrist sei gehemmt, da Art. 13 Teil B Buchtst. f der 6. EG-RL nicht ordnungsgemäß in nationales Recht umgesetzt worden sei.

    Mit Schreiben vom 29. August 2005 wies der Beklagte darauf hin, dass die Einsprüche betreffend die Jahre 1988 bis 2000 verspätet eingegangen seien und die sog. Emmott'sche Fristenhemmung vorliegend nicht greife. Mit weiterem Schreiben vom 15. November 2005 teilte der Beklagte dem Kläger mit, dass bezüglich des Änderungsantrags vom 15. Mai 2002 eine Änderung der USt-Festsetzung für das Jahr 1996 wegen Festsetzungsverjährung nicht mehr in Betracht komme, jedoch eine Änderung der Jahre 1997 bis 2001 möglich sei, weil diese Festsetzungen noch unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stünden.

    Mit Schreiben vom 7. Mai 2008 (Eingang beim FA am 9. Mai 2008) machte der Kläger nochmals die Rechtswidrigkeit der USt-Festsetzungen 1987 bis 1997 geltend und legte hilfsweise hiergegen Einspruch ein und beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand.

    Nachdem der Beklagte für die Jahre 1997 bis 1999 geänderte USt-Bescheide erlassen hatte, in denen er die Umsätze aus Geldspielautomaten als umsatzsteuerfrei behandelte und zugleich die damit im Zusammenhang stehenden Vorsteuern nicht mehr berücksichtigte, legte der Kläger am 9. Juni 2008 bzw. 28. Mai 2008 hiergegen Einsprüche ein mit der Begründung, dass die Vorsteuern willkürlich gekürzt worden seien.

    Bezüglich der Jahre 1987 bis 2000 verwarf der Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 8. Januar 2009 die Einsprüche vom 15. Mai 2002, 15. März 2005 und 9. Mai 2005 unter Hinweis auf die BFH-Urteile vom 23. November 2006 (V R 51/05, BStbl II 2007, 433; und V R 67/05, BStBl II 2007, 436) als unzulässig.

    Mit der vorliegenden Klage begehrt der Kläger die Festsetzung der USt für die Jahre 1987 bis 1997 unter Beachtung der USt-Freiheit für Einnahmen aus Glücksspielen. Er wiederholt im Wesentlichen sein Vorbringen aus dem Einspruchsverfahren und beantragt, das Verfahren ruhend zu stellen, bis über das beim Schleswig-Holsteinischen Finanzgericht anhängigen Verfahren zum Az. 4 K 71/07 entschieden ist. Hinsichtlich der Höhe der Geldspielautomatenumsätze und der hierauf entfallenden Vorsteuern wird Bezug genommen auf die klägerischen Schriftsätze vom 13. Juli 2009.

    Der Kläger beantragt sinngemäß,

    das Verfahren bis zu einer Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichts in dem Verfahren 4 K 71/07 ruhen zu lassen,

    hilfsweise, unter Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 8. Januar 2009 die angefochtenen USt-Festsetzungen 1993 bis 1996 dahingehend zu ändern, dass die Umsätze aus Geldspielautomaten mit Gewinnmöglichkeit steuerfrei belassen und damit im Zusammenhang stehende Vorsteuern nicht berücksichtigt werden.

    Der Beklagte beantragt,

    die Klage abzuweisen.

    Zur Begründung nimmt er Bezug auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung und trägt ergänzend vor, dass die nicht ordnungsgemäße Umsetzung des Art. 13 Teil B Buchst. f der 6. EG-RL in nationales Recht nicht dazu führe, dass die Bestandskraft der USt-Bescheide nach nationalem Recht durch den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts zurückgedrängt werde. Der EuGH habe in seiner Rechtsprechung klargestellt, dass die Durchsetzung seiner Entscheidungen bei bereits bestandskräftigen Steuerfestsetzungen nur in Ausnahmefällen in Betracht komme. Ein bestandskräftiger Verwaltungsakt könne demnach zwecks rückwirkender Durchsetzung von günstigerem Gemeinschaftsrecht nur dann geändert werden, wenn das nationale Recht dies zulasse. Vorliegend hätte sich der Kläger seinerzeit gegen die Steuerpflicht der Geldspielautomatenumsätze nicht vor Bestandskraft der entsprechenden Bescheide gewehrt.

    Der Beklagte hat einem Ruhen des Verfahrens nicht zugestimmt.

    Entscheidungsgründe:

    Die Klage, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheidet, ist unbegründet.

    I. Soweit die Klage das Streitjahr 1997 betrifft, hat der erkennende Senat das Verfahren mit Beschluss vom 14. September 2009 abgetrennt, denn für dieses Jahr ist bereits ein nach § 164 Abs. 2 AO geänderter Bescheid ergangen, gegen den der Kläger wiederum Einspruch eingelegt hat.

    II. Ein Ruhen des Verfahrens gem. § 155 FGO i.V.m. § 251 ZPO bis zur Entscheidung des Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichts kommt vorliegend nicht in Betracht. Das Gericht hat danach das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, wenn beide Parteien dies beantragen und anzunehmen ist, dass wegen Schwebens von Vergleichsverhandlungen oder aus sonstigen wichtigen Gründen diese Anordnung zweckmäßig ist. Im Streitfall fehlt es am erforderlichen übereinstimmenden Antrag der Beteiligten, denn der Beklagte hat das Ruhen nicht beantragt und ihm auch nicht zugestimmt.

    III. Die Voraussetzungen für eine unmittelbare oder entsprechende Anwendung des § 74 FGO liegen ebenfalls nicht vor.

    Zum einen handelt es sich nicht um ein „Musterverfahren” vor dem Bundesfinanzhof – BFH – oder gar dem Bundesverfassungsgericht. Zum anderen setzt nach der Rechtsprechung des BFH eine Aussetzung des Klageverfahrens wegen eines bei einem anderen Gericht anhängigen (Revisions-)Verfahrens voraus, dass es sich um ein „echtes” Musterverfahren in dem Sinne handelt, dass die Streitfragen im Wesentlichen gleichgelagert sind (so BFH-Beschluss vom 15. März 2006 X B 8/06, BFH/NV 2006, 1140). Dies hat der Kläger im Streitfall nicht hinreichend dargelegt und nachgewiesen.

    IV. Die angefochtenen Bescheide sind nicht nichtig i.S.d. § 125 Abs. 1 AO. Ein Verwaltungsakt ist gemäß § 125 Abs. 1 AO nichtig, soweit er an einem besonders schwerwiegenden Fehler leidet und dies bei verständiger Würdigung aller in Betracht kommenden Umstände offenkundig ist. Nach § 125 Abs. 2 AO ist ein Verwaltungsakt z.B. nichtig, der die erlassende Finanzbehörde nicht erkennen lässt, den aus tatsächlichen Gründen niemand befolgen kann, der die Begehung einer rechtswidrigen Tat verlangt oder der gegen die guten Sitten verstößt.

    Von den in § 125 Abs. 2 AO genannten Fallgruppen ist im Streitfall keine einschlägig.

    Ein Verstoß gegen materielles Steuerrecht begründet in der Regel keine Nichtigkeit (BFH-Beschluss vom 01.10.1981 IV B 13/81, BStBl II 1982, 133; Urteil vom 13.05.1987 II R 140/84, BStBl II 1987, 592; Urteil vom 11.08.1993 III R 83/89, BFH/NV 1994, 263). Auch eine Häufung von materiellen Rechtsfehlern macht den Bescheid nicht nichtig (BFH-Urteil vom 15.03.1995 I R 61/94, BFH/NV 1995, 1036). Gleiches gilt, wenn für den Verwaltungsakt keine gesetzliche Grundlage oder Begründung gefunden werden kann (Klein/Brockmeyer, AO, § 125 Rz. 7).

    Auf den Streitfall bezogen ist festzuhalten, dass die nicht ordnungsgemäße Umsetzung des Art. 13 Teil B Buchst. f. der 6. EG-Richtlinie allenfalls zur (Gemeinschafts)-Rechtswidrigkeit der Umsatzsteuerfestsetzungen, nicht aber zu deren Nichtigkeit führt (so auch FG Niedersachsen, Urteil vom 30. Juni 2005 5 K 128/04, EFG 2006, 149). Es mangelt auch an der Offenkundigkeit des Rechtsverstoßes. Nach der im Zeitpunkt der Steuerfestsetzung herrschenden Auffassung in Rechtsprechung, Verwaltung und Schrifttum bestanden keine Zweifel an der Vereinbarkeit des § 4 Nr. 9 Buchst. b UStG mit dem Gemeinschaftsrecht. Die mögliche Steuerfreiheit von Geldspielautomatenumsätzen ist erst im Anschluss an die Rechtssache Fischer zum unerlaubten Roulettespiel (EuGH-Urteil vom 11. Juni 1998 RS. C-283/95, UR 1998, 384) diskutiert und mit Vorabentscheidungsersuchen vom 06.11.2002 (V R 7/02 – Linneweber –, UR 2003, 81) höchstrichterlich problematisiert worden. Vor diesem Hintergrund kann nicht von einem offenkundigen Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht gesprochen werden.

    V. Soweit der Kläger eine Änderung der bestandskräftigen USt-Festsetzungen für die Streitjahre begehrt, ist die Klage unbegründet.

    Der Beklagte hat den Einspruch zu Recht als unzulässig verworfen.

    Nach § 355 Abs. 1 S. 1 AO ist der Einspruch (§ 347 Abs. 1 S. 1 AO) innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsakts einzulegen. Ein Einspruch gegen eine Steueranmeldung ist gemäß § 355 Abs. 1 S. 2 AO innerhalb eines Monats nach Eingang der Steueranmeldung bei der Finanzbehörde, in den Fällen des § 168 S. 2 AO innerhalb eines Monats nach Bekanntwerden der Zustimmung, einzulegen.

    Der Kläger hat (erst) mit Schreiben vom 15. Mai 2002 Einspruch gegen die Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre eingelegt. Zu diesem Zeitpunkt war die einmonatige Frist für die Einlegung eines Einspruchs bereits abgelaufen.

    Der Auffassung des Klägers, aus dem in Art. 10 EG verankerten Effektivitätsgebot ergebe sich eine Anlaufhemmung der Einspruchsfrist, vermag der Senat nicht zu folgen.

    a) Gemäß Art. 10 Abs. 1 Satz 1 Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (nachfolgend: EGV) treffen die Mitgliedstaaten alle geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus diesem Vertrag oder aus Handlungen der Organe der Gemeinschaft ergeben. Sie erleichtern dieser die Erfüllung ihrer Aufgabe (Art. 10 Abs. 1 Satz 2 EGV). Die Mitgliedstaaten haben zudem alle Maßnahmen zu unterlassen, welche die Verwirklichung der Ziele dieses Vertrages gefährden können (Art. 10 Abs. 2 EGV). Nach der Rechtsprechung des EuGH verpflichtet der in Art. 10 EGV verankerte Grundsatz der Zusammenarbeit eine Verwaltungsbehörde auf entsprechenden Antrag hin, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zu überprüfen, um der mittlerweile vom EuGH vorgenommenen Auslegung der einschlägigen Bestimmung Rechnung zu tragen, wenn u.a. die Behörde nach nationalem Recht befugt ist, diese Entscheidung zurückzunehmen (vgl. EuGH-Urteil vom 13. Januar 2004 Rs. C-453/00 – Kühne und Heitz –, Slg. 2004, I-837, HFR 2004, 488, DVBl 2004, 373, NVwZ 2004, 459). In dieser Entscheidung hat der EuGH u.a. ausgeführt, die Rechtssicherheit gehöre zu den im Gemeinschaftsrecht anerkannten allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Die Bestandskraft einer Verwaltungsentscheidung, die nach Ablauf angemessener Klagefristen oder Erschöpfung des Rechtswegs eingetreten sei, trage zur Rechtssicherheit bei. Daher verlange das Gemeinschaftsrecht nicht, dass eine Verwaltungsbehörde grundsätzlich verpflichtet sei, eine bestandskräftige Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen (RandNr. 24 des Urteils; ebenso EuGH-Urteil vom 19. September 2006 Rs. C-392/04 und C-422/04 – i 21 Germany GmbH und Arcor AG & Co. KG –, DVBl 2006, 1441 RandNr. 51). Hierzu hat der EuGH klargestellt, dass das EuGH-Urteil Kühne und Heitz (a.a.O.) die Verpflichtung der betreffenden Behörde aus Art. 10 EGV, eine unter Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht erlassene bestandskräftige Entscheidung zu überprüfen, u.a. von einer Befugnis dieser Behörde nach nationalem Recht zur Rücknahme der Entscheidung abhängig macht (vgl. EuGH-Urteile vom 16. März 2006 Rs. C-234/04 – Kapferer –, Slg. 2006, 2585, NJW 2006, 1577; und vom 19. September 2006 in der Sache i 21 Germany GmbH und Arcor AG & Co. KG, a.a.O., RandNr. 52). Daraus folgt – entgegen der Ansicht des Klägers – im Umkehrschluss, dass die Aufhebung eines rechtswidrigen, belastenden, bestandskräftigen Verwaltungsakts nach der EuGH-Rechtsprechung in Fällen der vorliegenden Art nur dann in Betracht kommt, wenn sie durch eine nationale Regelung ermöglicht wird. Ein bestandskräftiger Steuerbescheid ist deshalb – auch unter Berücksichtigung von Art. 10 EGV – nicht änderbar, wenn das nationale Recht hierfür – wie §§ 172 ff. AO – keine Rechtsgrundlage vorsieht (vgl. Frenz, DVBl 2004, 375; Birk/Jahndorf, UR 2005, 198, 199 f.).

    Überdies unterscheidet sich der Sachverhalt, der dem EuGH-Urteil Kühne und Heitz (a.a.O.) zugrunde lag, maßgeblich vom vorliegenden Streitfall. Denn die Kühne & Heitz NV hatte sämtliche ihr zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfe ausgeschöpft, während der Kläger von seinem Recht, gegen die Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre 1993 bis 1996 rechtzeitig Einspruch einzulegen, keinen Gebrauch gemacht hat. Auch deshalb kann sich der Kläger nicht auf das EuGH-Urteil Kühne und Heitz berufen (vgl. BFH-Urteil vom 23. November 2006 V R 67/05, BStBl II 2007, 436; vgl. auch EuGH-Urteil i 21 Germany GmbH und Arcor AG & Co. KG in DVBl 2006, 1441 RandNr. 53 f.).

    Nach der Rechtsprechung des EuGH im Urteil vom 16. Dezember 1976 Rs. 33/76 – Rewe – (Slg. 1976, 1989, NJW 1977, 495) verbietet das Gemeinschaftsrecht es bei seinem gegenwärtigen Stand nicht, einem Bürger, der vor einem innerstaatlichen Gericht die Entscheidung einer innerstaatlichen Stelle wegen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht anficht, den Ablauf der im innerstaatlichen Recht vorgesehenen Fristen für die Rechtsverfolgung entgegenzuhalten, wobei jedoch das Verfahren für die Klage nicht ungünstiger ausgestaltet sein darf als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen.

    Überdies hat der EuGH in seinem Urteil i 21 Germany GmbH und Arcor AG & Co. KG (a.a.O.) entschieden, dass das aus Art. 10 EGV folgende Effektivitätsprinzip nicht verletzt ist, wenn ein Unternehmen gegen einen Gebührenbescheid innerhalb einer angemessenen Frist ab seiner Bekanntgabe einen Rechtsbehelf einlegen und seine aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte geltend machen kann (vgl. RandNr. 59). Er hat in dieser Entscheidung die für die Einlegung eines Einspruchs vorgesehene Einmonatsfrist nicht als unangemessen beanstandet (RandNr. 60).

    Daraus folgt, dass die Monatsfrist für die Einlegung eines Einspruchs gemäß § 355 Abs. 1 AO gemeinschaftsrechtlich nicht zu beanstanden ist.

    b) Auch aus der Rechtsprechung des EuGH zu – anders gearteten – Verjährungsfristen ergibt sich nichts anderes.

    Die Versäumung der einmonatigen Einspruchsfrist durch den Kläger ist auch nicht ausnahmsweise unerheblich. Auf das EuGH-Urteil Emmott in Slg. 1991, I-4269, HFR 1993, 137, UR 1993, 315 kann sich der Kläger im Streitfall nicht mit Erfolg berufen. Der EuGH hat in diesem Urteil zwar entschieden, dass sich ein säumiger Mitgliedstaat bis zum Zeitpunkt der ordnungsgemäßen Umsetzung einer Richtlinie nicht auf die Verspätung einer Klage berufen könne, die ein Einzelner zum Schutz der ihm durch die Bestimmungen einer Richtlinie verliehenen Rechte gegen ihn erhoben habe, und dass eine Klagefrist des nationalen Rechts erst zu diesem Zeitpunkt beginnen könne. Wie der EuGH mittlerweile jedoch wiederholt klargestellt hat, war diese Entscheidung durch die besonderen Umstände des Falles gerechtfertigt, in dem der Klägerin durch den Ablauf der Klagefrist jede Möglichkeit genommen war, ihren auf eine Gemeinschaftsrichtlinie gestützten Anspruch auf Gleichbehandlung geltend zu machen (vgl. z.B. EuGH-Urteil Fantask in Slg. 1997, I-6783, HFR 1998, 234, NVwZ 1998, 833 Rz. 51, m.w.N.). Daraus folgt, dass der EuGH den im Verfahren Emmott entwickelten Rechtsgrundsatz auf Fallkonstellationen der dort gegebenen Art beschränkt wissen will (vgl. BFH-Urteil vom 21. März 1996 XI R 36/95, BFHE 197, 563, BStBl II 1996, 399, unter II. 3. a; BFH-Beschluss in BFH/NV 2005, 229, unter II.1.). In der Rechtssache Emmott hatten sich die irischen Behörden – unter Verstoß gegen Treu und Glauben – auf die Nichteinhaltung der Klagefrist berufen.

    Im Streitfall hat der Beklagte den Kläger nicht an der rechtzeitigen Einlegung des Einspruchs gehindert und ihm deshalb nicht treuwidrig die Versäumung der – von Amts wegen zu beachtenden – Einspruchsfrist des § 355 Abs. 1 AO entgegengehalten (vgl. BFH-Urteil vom 23. November 2006 V R 51/05, BStBl II 2007, 433).

    Der Kläger hatte es vorliegend in der Hand, die Umsatzsteuerfestsetzung für die Streitjahre durch rechtzeitigen Einspruch auf ihre Vereinbarkeit mit dem Gemeinschaftsrecht hin überprüfen zu lassen. Er hat dies jedoch nicht gemacht.

    Entgegen der Auffassung des Klägers kann ein Einzelner sich auch schon vor Ergehen eines Urteils, in dem ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht festgestellt wird, gegen nationale Maßnahmen wehren. Dem Einzelnen wird zugemutet, einen möglichen Schaden mit Hilfe aller ihm zu Gebote stehenden Mittel abzuwehren. Zu diesen Mitteln gehört insbesondere die Ausschöpfung des Rechtswegs. Es obliegt den einzelnen Mitgliedstaaten, das Verfahren – einschließlich der Verjährungsregeln – für die Klagen auszugestalten, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenen Rechte gewährleisten sollen. Dabei müssen die Grundsätze der Gleichwertigkeit und Effektivität gewahrt werden (EuGH-Urteil vom 24. März 2009 Rs. C-445/06 – Danske Slagterier –, a.a.O.).

    VI. Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Einspruchsfrist kommt nicht in Betracht.

    Nach § 110 Abs. 1 AO ist demjenigen, der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren. Der Antrag ist innerhalb eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen (§ 110 Abs. 2 S. 1 AO). Nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist kann die Wiedereinsetzung nicht mehr beantragt oder die versäumte Handlung nicht mehr nachgeholt werden, außer wenn dies vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich war (§ 110 Abs. 3 AO).

    Im Streitfall war im Zeitpunkt der Einspruchseinlegung die Jahresfrist bereits lange abgelaufen. Der Kläger war auch nicht infolge höherer Gewalt daran gehindert, innerhalb der Jahresfrist die Wiedereinsetzung zu beantragen und die versäumte Handlung nachzuholen.

    Höhere Gewalt ist ein außergewöhnliches Ereignis, das unter den gegebenen Umständen auch durch die äußerste, nach Lage der Sache von dem Betroffenen zu erwartende und zumutbare Sorgfalt nicht abgewendet werden konnte (ständige Rechtsprechung, vgl. BFH-Urteil in BStBl II 2001, 506, unter II. 1. b) der Gründe, m.w.N.). Der Begriff der höheren Gewalt ist danach enger als der Begriff „ohne Verschulden” in § 56 Abs. 1 FGO. Er entspricht inhaltlich den Naturereignissen oder anderen unabwendbaren Zufällen (BFH-Urteil in BStBl II 2001, 506; BFH-Beschluss vom 30. Oktober 1997 III B 108/95, BFH/NV 1998, 497)

    Demgemäß kann höhere Gewalt auch vorliegen, wenn ein Verfahrensbeteiligter durch ein Verhalten der Behörde von einer fristgerechten Verfahrenshandlung abgehalten wird (BFH-Urteil vom 16. August 1979 I R 95/76, BStBl II 1980, 47). Ferner darf die Fristversäumnis dem Betroffenen dann nicht angelastet werden, wenn er durch arglistiges Verhalten seines Gegners an der rechtzeitigen Einlegung des Rechtsbehelfs gehindert worden ist (BVerwG-Urteil vom 25. November 1977 V C 12.77, BVerwGE 55, 62) oder wenn die Fristversäumnis auf das rechts- oder treuwidrige Verhalten der Behörde zurückgeführt werden kann (vgl. BVerwG-Urteil in BVerwGE 58, 100; BFH-Urteil in BStBl II 2001, 506).

    Jedoch entschuldigt mangelnde Rechtskenntnis des Beteiligten eine Fristversäumnis grundsätzlich nicht (BFH-Urteil in BStBl II 2001, 506). Das Vertrauen des Klägers, auf die richtige Umsetzung der 6. EG-RL in nationales Recht – hier: die Umsetzung der Befreiungsvorschrift des Art. 13 Teil B Buchst. der 6. EG-RL – und der darauf beruhende Verzicht auf die Einlegung eines Einspruchs rechtfertigt die Annahme eines Falles höherer Gewalt nicht (BFH-Beschluss vom 18. April 2005 IV B 90/03, BFH/NV 2005, 1817).

    Auch die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Billigkeitswege kommt nicht in Betracht.

    Die Entscheidung über die Wiedereinsetzung ist keine Ermessensentscheidung. Liegen – wie im Streitfall – die Voraussetzungen für die Gewährung einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nicht vor, kommt – gerade auch bei Ablauf der Jahresfrist – eine Wiedereinsetzung aus Billigkeitsgründen nicht in Betracht. Sachliche Unbilligkeit in Bezug auf die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand setzt voraus, dass die Wiedereinsetzung in eine Frist im Einzelfall, vor allem mit Rücksicht auf den gesetzlichen Zweck der Regelung gerechtfertigt ist und die Nichtgewährung den Wertungen des Gesetzgebers zuwiderlaufen würde. Bei einer solchen Billigkeitsprüfung müssen grundsätzlich solche Erwägungen unberücksichtigt bleiben, die der gesetzliche Tatbestand üblicherweise mit sich bringt.

    Es würde aber eindeutig dem Zweck des § 110 Abs. 3 AO widersprechen, bei Versäumung der (absoluten) Jahresfrist dennoch aus Billigkeitsgründen die Wiedereinsetzung zu gewähren. Der Gesetzgeber hat gerade aus Gründen des Rechtsfriedens und der Rechtssicherheit diese absolute Frist gewählt.

    VII. Ist eine Steuer ohne rechtlichen Grund gezahlt worden, so hat derjenige, auf dessen Rechnung die Zahlung bewirkt worden ist, an den Leistungsempfänger einen Anspruch auf Erstattung des gezahlten Betrages (§ 37 Abs. 2 S. 1 AO). Vorliegend ist die Umsatzsteuer von dem Kläger nicht ohne Rechtsgrund gezahlt worden; vielmehr war Rechtsgrund die jeweils bestandskräftige USt-Festsetzung.

    Der Kläger hat auch keinen gemeinschaftsrechtlichen Erstattungsanspruch. Nach der Rechtsprechung des EuGH kann ein Steuerpflichtiger mit Rückwirkung auf den Tag des Inkrafttretens der im Widerspruch zur Richtlinie 77/388/EWG stehenden nationalen Rechtsvorschriften die Erstattung der ohne Rechtsgrund gezahlten Mehrwertsteuer nach den in der innerstaatlichen Rechtsordnung des betreffenden Mitgliedstaats festgelegten Verfahrensmodalitäten verlangen, sofern diese Modalitäten nicht ungünstiger sind als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen, und nicht so ausgestaltet sind, dass sie die Ausübung der Rechte, die die Gemeinschaftsrechtsordnung einräumt, praktisch unmöglich machen (vgl. z.B. EuGH-Urteil vom 6. Juli 1995 Rs. C-62/93 – Soupergaz –, Slg. 1995, I-1883, HFR 1995, 606, IStR 1995, 385, Leitsatz 4).

    Auch diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor (vgl. hierzu BFH-Urteil vom 23. November 2006 V R 67/05, DStR 2007, 344). Der Kläger hat die Umsatzsteuer mit Rechtsgrund, nämlich aufgrund der bestandskräftigen Umsatzsteuerfestsetzungen für die Streitjahre, gezahlt.

    VIII. Der Senat sieht auch keinen Anlass dafür, gemäß Art. 234 Abs. 3 EG eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen. Der Senat ist zum einen nach dieser Regelung hierzu nicht verpflichtet. Zum anderen ist er der Auffassung, dass die entscheidungserheblichen Fragen durch die Rechtsprechung des EuGH hinreichend geklärt sind.

    Zwar hat das BVerfG in seinem Beschluss vom 4. September 2008 (2 BvR 1321/07, UR 2008, 884) ausgeführt, dass der Europäische Gerichtshof die Fragen zur Durchbrechung der Bestandskraft gemeinschaftsrechtswidriger belastender Verwaltungsakte der Mitgliedstaaten noch nicht erschöpfend beantwortet habe. Insbesondere sei bislang unklar, welche Bedeutung der von dem Europäischen Gerichtshof in der Kühne und Heitz-Entscheidung aufgestellten Voraussetzung zukomme, dass die Behörde nach nationalem Recht befugt sein müsse, die Verwaltungsentscheidung zurückzunehmen (Urteil vom 13. Januar 2004, a.a.O., Rn. 28). Zugleich weist das BVerfG aber zu Recht auf die Entscheidung des EuGH in der Sache Kempter (Rs. C-2/06 EuZW 2008, 148) hin, in der der EuGH entschieden hat, dass die Festsetzung angemessener Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung im Interesse der Rechtssicherheit mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Solche Fristen seien nämlich nicht geeignet, die Ausübung der durch die Gemeinschaftsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren. Aufgrund dessen können die Mitgliedstaaten im Einklang mit den gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen der Effektivität und der Äquivalenz angemessene Rechtsbehelfsfristen festlegen.

    Nach Ergehen der Entscheidung des BVerfG hat der EuGH zudem in der Sache Danske Slagterier (C-445/06) entschieden, dass das Gemeinschaftsrecht der Anwendung einer nationalen Regelung nicht entgegen steht, nach der ein Einzelner keinen Ersatz für einen Schaden verlangen kann, bei dem er es vorsätzlich oder fahrlässig unterlassen hat, ihn durch Gebrauch eines Rechtsmittels abzuwenden, vorausgesetzt, dass der Gebrauch dieses Rechtsmittels dem Geschädigten zumutbar ist. Es sei insoweit Sache des (nationalen) Gerichts, dies anhand der aller Umstände zu prüfen. Die Wahrscheinlichkeit, dass das nationale Gericht nach Art. 234 EG ein Vorabentscheidungsersuchen stellt, oder eine beim Gerichtshof anhängige Vertragsverletzungsklage lassen für sich genommen nicht den Schluss zu, dass der Gebrauch eines Rechtsmittels unzumutbar ist.

    Vorliegend war es dem Kläger nach den Gesamtumständen aber zumutbar, sich gegen die rechtswidrigen USt-Festsetzungen durch rechtzeitige Einlegung eines Rechtsbehelfs zu wehren und diesen überprüfen zu lassen.

    Die Kostenentscheidung ergeht gem. § 135 Abs. 1 FGO.

    Die Revision wird wegen grundsätzlicher Bedeutung gem. § 115 Ab

    VorschriftenAO § 172, AO § 110, AO § 355 Abs 1 Satz 1, UStG § 4 Nr 9 Buchst b, UStG § 4 Nr 9 b, RL 77/388/EWG Art 13 Teil B Buchst. f, AO § 125 Abs 1