02.11.2010
Finanzgericht München: Urteil vom 19.05.2010 – 9 K 2981/09
Eine Vollzeiterwerbstätigkeit kann die kindergeldrechtliche Berücksichtigung eines volljährigen Kindes nach der bisherigen BFH-Rechtsprechung ausschließen, wenn das Kind sie in der Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten (§ 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG) oder während des Wartens auf einen Ausbildungsplatz (§ 32 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 Buchst. c EStG) ausübt, weil es in diesen Monaten typischerweise an einer verminderten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern fehlt, die eine Entlastung durch Kindergeld rechtfertigt. An dieser Rechtsprechung hat sich durch das BFH-Urteil vom 16.11.2006, III R 15/06 nichts geändert (gegen Auffassung der Verwaltung; vgl. Verfügung des Bundeszentralamts für Steuern v. 4.7.2008, St II 2-S 2282-138/2008).
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
In der Streitsache
hat der 9. Senat des Finanzgerichts München unter Mitwirkung der Richterin am Finanzgericht … als Vorsitzende, des Richters am Finanzgericht … und des Richters am Finanzgericht … sowie der ehrenamtlichen Richter … und ohne mündliche Verhandlung am 19. Mai 2010 für Recht erkannt:
1. Unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 10. Februar 2009 und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 18. August 2009 wird die Familienkasse verpflichtet, dem Kläger für seine Söhne J und S von Oktober 2008 bis Dezember 2008 Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
2. Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für den Kläger vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten des Klägers die Vollstreckung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
4. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist der Anspruch auf Kindergeld für die Monate Oktober bis Dezember 2008 für die Söhne des Klägers J (geb. 14. Juli 1982) und S (geb. 17. Februar 1984).
Die Söhne studieren seit Oktober 2008. Vor Beginn des Studiums hatten beide Kinder in Vollzeit gearbeitet. J hatte vom 1. Oktober 2002 bis 31. Juli 2003 Zivildienst geleistet.
Mit Bescheid vom 10. Februar 2009 lehnte die beklagte Familienkasse den Antrag des Klägers auf Kindergeld für seine Söhne für den Zeitraum Februar 2008 bis Dezember 2008 ab, weil die anteiligen Grenzbeträge überschritten worden seien.
In dem hiergegen eingelegten Einspruch trug der Kläger im Wesentlichen vor, dass sich der Widerspruch nur gegen die Ablehnung des Kindergeldes für den Zeitraum Oktober bis Dezember 2008 beziehe. In der Zeit bis einschließlich September 2008 seien beide Söhne wegen Vollzeiterwerbstätigkeit nicht zu berücksichtigen.
Mit Einspruchsentscheidung vom 18. August 2009 wies die Familienkasse den Einspruch als unbegründet zurück. Der Bundesfinanzhof (BFH) habe mit Urteil vom 16. November 2006 in Änderung seiner Rechtsprechung (III R 15/06, Bundessteuerblatt – BStBl – II 2008, 56) entschieden, dass Zeiten, in denen das Kind ausbildungswillig sei, zu berücksichtigen seien, selbst wenn das Kind einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachgehe. Anspruchszeiträume beider Söhne seien Juni bis Dezember 2008, da die Bewerbungsschlüsse für die Studiengänge jeweils im Juni gelegen hätten und die Söhne daher beide zumindest ab diesem Monat als ausbildungswillige Kinder zu berücksichtigen seien. Es kürzte die Grenzbeträge um fünf Zwölftel und kam zu dem Ergebnis, dass die Einkünfte und Bezüge der Söhne jeweils den maßgeblichen Grenzbetrag von 4.480 EUR überschritten. Auf die Entscheidung wird ergänzend verwiesen.
Mit Bescheid vom 11. Februar 2009 setzte die Familienkasse Kindergeld für den Zeitraum ab Januar 2009 für die Söhne fest.
Mit seiner Klage verfolgt der Kläger weiterhin die Kindergeldfestsetzung für seine beiden Söhne von Oktober bis Dezember 2008. Zur Begründung trägt er im Wesentlichen vor, dass nach der Rechtsprechung des BFH Kinder in den Monaten einer Vollzeiterwerbstätigkeit nicht als Kind zu berücksichtigen seien. Für die Söhne habe aufgrund der Vollzeiterwerbstätigkeit bis einschließlich September 2008 kein Kindergeldanspruch bestanden. Mit einem Ruhen des Verfahrens sei er nicht einverstanden.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
unter Aufhebung des Ablehnungsbescheides vom 10. Februar 2009 und der hierzu ergangen Einspruchsentscheidung vom 18. August 2009 die Familienkasse zu verpflichten, ihm für seine Söhne von Oktober bis Dezember 2008 Kindergeld in gesetzlicher Höhe zu gewähren.
Die Familienkasse regt das Ruhen des Rechtsstreits im Hinblick auf beim BFH anhängige Verfahren (III R 3/09, 34/09, 36/09 und 49/09) an.
Die Beteiligten haben auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet (§ 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung – FGO –).
Entscheidungsgründe
Die Klage hat Erfolg. Die Familienkasse hat zu Unrecht einen Anspruch des Klägers auf Kindergeld für die Monate Oktober bis Dezember 2008 verneint.
Nach § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) wird ein Kind unter anderem beim Kindergeldberechtigten berücksichtigt, wenn es für einen Beruf ausgebildet wird (Buchst. a), sich in einer Übergangszeit von höchstens vier Monaten zwischen zwei Ausbildungsabschnitten befindet (Buchst. b) oder eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder fortsetzen kann (Buchst. c) und wenn es Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht mehr als 7 680 EUR im Kalenderjahr hat (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG). Für jeden Kalendermonat, in dem die Voraussetzungen nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 EStG an keinem Tag vorliegen, ermäßigt sich der Grenzbetrag um 1/12 (§ 32 Abs. 4 Satz 7 EStG). Einkünfte und Bezüge des Kindes, die auf diese Kalendermonate entfallen, bleiben außer Ansatz (§ 32 Abs. 4 Satz 8 EStG).
Der Gesetzgeber geht davon aus, dass die Eltern in den Fällen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a bis c EStG typischerweise durch Unterhaltsleistungen für ihre Kinder in ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit beeinträchtigt sind. Übt das Kind eine Vollzeiterwerbstätigkeit aus, kann es aber in der Regel – unter Freistellung der Eltern von ihren Unterhaltspflichten – seinen existenznotwendigen Bedarf selbst decken.
Eine Vollzeiterwerbstätigkeit kann eine Berücksichtigung als Kind nach bisheriger Rechtsprechung des BFH ausschließen, wenn das Kind sie in der Übergangszeit zwischen zwei Ausbildungsabschnitten (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. b EStG) oder während des Wartens auf einen Ausbildungsplatz (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG) ausübt, weil es in diesen Monaten typischerweise an einer verminderten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern fehlt, die eine Entlastung durch Kindergeld rechtfertigt. An dieser Rechtsprechung hat sich – entgegen der Auffassung der Verwaltung (vgl. Verfügung des Bundeszentralamts für Steuern vom 4. Juli 2008 St II 2-S 2282-138/2008, BStBl I 2008, 716) – durch das Senatsurteil vom 16. November 2006 III R 15/06 (BStBl II 2008, 56) nichts geändert (BFH-Urteile vom 21. Januar 2010 III R 62/08, BFH/NV 2010, 871 und III R 68/08, BFH/NV 2010, 872).
In Anwendung dieser Rechtsgrundsätze, denen sich der Senat anschließt, befanden sich die Söhne des Klägers (nur) in den Monaten Oktober bis Dezember 2008 in Berufsausbildung; ihre Einkünfte und Bezüge überstiegen in diesem Zeitraum nicht den Grenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG.
Entgegen der Ansicht der Familienkasse befanden sich die Söhne in den Monaten Juni bis September 2008 nicht in Berufsausbildung, obwohl sie sich schon für das Wintersemester 2008/2009 an einer Universität immatrikuliert hatten. Damit liegen zwar grundsätzlich die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG vor, allerdings gingen sie in dieser Zeit einer Vollzeiterwerbstätigkeit nach und hatten ihr Studium noch nicht begonnen.
Das Verfahren war nicht nach § 74 FGO auszusetzen.
Nach dieser Vorschrift kann, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet, anordnen, dass die Verhandlung bis zur Erledigung des anderen Rechtsstreits auszusetzen sei. Dies gilt auch für den Fall anhängiger Musterverfahren (vgl. Gräber/Koch, FGO, 6. Aufl., § 74 Rz. 15).
Die in § 74 FGO geregelte Voraussetzung für eine Aussetzung des Verfahrens lag nicht vor. Die Anhängigkeit lediglich eines Parallelfalls begründet keine Vorgreiflichkeit (Beschlüsse des BFH vom 4. Februar 2003 X E 9/02 (NV), BFH/NV 2003, 650 und vom 26. Oktober 2006 IX B 9/06 (NV), BFH/NV 2007, 447).
Das von der Familienkasse beantragte Ruhen des Verfahrens war nicht zweckmäßig (§ 155 FGO i.V.m. § 251 Zivilprozessordnung). Aus den oben angeführten Gründen ist nicht zu erwarten, dass der BFH in den anhängigen Verfahren der von der Familienkasse vertretenen Auffassung folgen wird.
Soweit der Kläger die Verzinsung fordert, wird dies nicht als eigener Antrag ausgelegt, da die Zinsen von Amts wegen festgesetzt werden (§ 239 Abs. 1 i.V.m. § 155 Abs. 1 Satz 1 Abgabenordnung – AO). Das Kindergeld gehört materiell zur Einkommensteuer und wird gemäß § 31 Satz 3 EStG als Steuervergütung gezahlt, daher richtet sich die Verzinsung nach der AO (§§ 233 ff AO).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
5. Die Revision wird nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO im Hinblick auf die beim BFH anhängigen Verfahren (u.a. III R 74/09) und die Abweichung von der Verfügung des Bundeszentralamts für Steuern (in BStBl I 2008, 716) zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen.