29.09.2009
Finanzgericht Sachsen: Urteil vom 30.04.2009 – 1 K 1031/08 (Kg)
1. Ein türkischer Staatsangehöriger ohne qualifizierten Aufenthaltstitel gemäß § 62 Abs. 2 EStG, der mit seiner Familie seit Jahren in einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylbewerber lebt, Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) erhält und entweder eine Aufenthaltsgestattung nach dem Asylverfahrensgesetz (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG) oder eine Duldung nach § 60a des Aufenthaltsgesetzes (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG) besitzt, hat weder nach § 62 Abs. 2 EStG noch nach übergeordnetem Völkerrecht (im Einzelnen vgl. Urteil) einen Kindergeldanspruch.
2. Ein Kindergeldanspruch gemäß Art. 2 Abs. 1 Buchst. d des Vorläufigen Europäischen Abkommens über Soziale Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen (BGBl 1956 II, 507) i.V.m. Art. 2 des Zusatzprotokolls (BGBl 1956 II, 528) besteht nur bei einem inländischen Wohnsitz i. S. v. § 8 AO, der in einem Übergangsheim für Asylbewerber nicht begründet werden kann. Der bloße Aufenthalt im Bundesgebiet, auch wenn er sich zu einem gewöhnlichen Aufenthalt i. S. v. § 9 AO verfestigt haben sollte, ist insoweit nicht ausreichend (Anschluss an FG Münster, Urteil v. 1.12.2008, 5 K 4329/03 Kg).
Im Namen des Volkes
URTEIL
In dem Finanzrechtsstreit
hat der 1. Senat unter Mitwirkung des Vorsitzenden Richters am Finanzgericht S., des Richters am Finanzgericht H., der Richterin am Finanzgericht F. sowie der ehrenamtlichen Richter T. und V. auf Grund mündlicher Verhandlung in der Sitzung vom 30. April 2009
für Recht erkannt:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Verfahrens werden dem Kläger auferlegt.
3. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand:
Der verheiratete Kläger ist türkischer Staatsbürger. Er lebt seit einigen Jahren mit seiner Familie in einer Gemeinschaftsunterkunft und erhält Leistungen nach dem Asylbewerbergesetz. Das Asylverfahren ist noch nicht abgeschlossen. Eine Erwerbstätigkeit des Klägers ist nicht gestattet.
Am 4. Mai 2006 beantragte der Kläger Kindergeld für seine am 5. Januar 1996, 19. August 1998, 27. Dezember 1999 und 13. Oktober 2003 geborenen Kinder. Der Beklagte im folgenden: Agentur für Arbeit) lehnte den Antrag am 22. Juni 2006 ab. Der Einspruch blieb erfolglos (vgl. Einspruchsentscheidung vom 6. Mai 2008).
Mit der Klage macht der Kläger geltend, dass ihm Kindergeld ab dem 1. Januar 2003 zustehe. Dies ergebe sich sowohl aus dem Assoziationsratsbeschluss Nr. 3/80 zwischen der Europäischen Gemeinschaft und der Türkei sowie aus dem Vorläufigen Europäischen Abkommen über soziale Sicherheit. Das Vorläufige Europäische Abkommen sei auf ihn anwendbar, da er seit mehr als sechs Monaten in Deutschland wohne. Er sei seit mehreren Jahren unter der ladungsfähigen Anschrift Ziegelstraße 14 in Eilenburg erreichbar. Wohnen bedeute nur, nicht obdachlos zu sein. Nicht erforderlich sei, dass er tatsächlich eine eigene Wohnung innehabe.
Außerdem erfülle er die Voraussetzungen des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 3/80. Denn Arbeitnehmer im Sinne dieses Beschlusses sei jede Person, die die Versicherteneigenschaft nach den für die soziale Sicherheit geltenden Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates besitze. Aus verschiedenen Urteilen des Europäischen Gerichtshofs ergebe sich, dass eine Person die Arbeitnehmereigenschaft besitze, sofern sie auch nur gegen ein einziges Risiko pflichtversichert oder freiwillig versichert sei. Der Kläger erfülle diese Voraussetzungen, da er „im System der Deutschen Krankenversicherung” versichert sei.
Schließlich ergebe sich aus dem Niederlassungsabkommen zwischen dem Deutschen Reich und der Türkischen Republik, dass türkische Staatsangehörige und deutsche Staatsangehörige steuerrechtlich gleich zu behandeln seien. Da es sich beim Kindergeld um eine Steuerleistung handle, stehe dem Kläger wie einem deutschen Staatsangehörigen Kindergeld zu.
Der Kläger beantragt,
den Ablehnungsbescheid vom 22. Juni 2006 und die Einspruchsentscheidung vom 6. Mai 2008 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, ihm Kindergeld ab dem 1. Januar 2003 für drei Kinder und ab dem 1. Oktober 2003 für vier Kinder bis Mai 2008 zu bewilligen.
Die Agentur für Arbeit beantragt,
die Klage abzuweisen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist unbegründet.
1. Nach § 62 Abs. 2 EStG in der Fassung des Gesetzes vom 13. Dezember 2006 (BGBl I S. 2915), der gemäß § 52 Abs. 61 a EStG in allen noch offenen Fällen anwendbar ist, haben Ausländer nur Anspruch auf Kindergeld, wenn sie im Besitz eines dort aufgeführten Aufenthaltstitels nach dem Aufenthaltsgesetz oder – bei vor dem Jahr 2005 verwirklichten Sachverhalten – einer Aufenthaltsgenehmigung nach dem Ausländergesetz (AuslG) 1990 sind (BFH-Urteil vom 25. Oktober 2007 III R 90/03, BFH/NV 2008, 286). Im Streitfall hatte der Kläger (auch nach seiner eigenen Einschätzung) im Zeitraum Januar 2003 bis Mai 2008 keinen qualifizierten Aufenthaltstitel gemäß § 62 Abs. 2 EStG. Denn der Kläger erhielt Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) und besaß daher entweder eine Aufenthaltsgestattung nach dem Asylverfahrensgesetz (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 AsylbLG) oder eine Duldung nach § 60a des Aufenthaltsgesetzes (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG).
2. Ein Anspruch auf Kindergeld besteht auch nicht aus übergeordnetem Völkerrecht.
a. Der Kläger kann sich nicht mit Erfolg auf Bestimmungen des deutsch-türkischen Niederlassungsabkommens vom 12. Januar 1927 (RGBl II S. 76, BGBl II 1952 S. 608) berufen. Das Abkommen gewährt türkischen Staatsangehörigen die Freiheit zur Einreise und Niederlassung vorbehaltlich der Einwanderungsbestimmungen (Art. 2 Satz 3). Auch wenn damit ein Anspruch auf gleiche steuerrechtliche Behandlung gegeben sein sollte, sind die Bestimmungen des Niederlassungsabkommens für die Frage der Kindergeldgewährung im Streitfall schon deshalb nicht einschlägig, weil die Gewährung von Kindergeld an den Kläger eine Fördermaßnahme (und keine Steuervergütung) darstellt, nachdem dieser erwerbslos ist und sich daher für den Kläger auch ohne Kinderfreibetrag keine Einkommensteuer ergibt.
b. Nach Art. 33 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über soziale Sicherheit vom 30. April 1964 (BGBl II 1965, 1170) in Gestalt des Zusatzabkommens vom 2. November 1984 (BGBl II 1986, 1040) besteht ein Kindergeldanspruch nur dann, wenn der Kindergeldberechtigte erwerbstätig ist. An dieser Voraussetzung fehlt es im Streitfall. Der Kläger war im Zeitraum Januar 2003 bis Mai 2008 nicht erwerbstätig.
c. Zwar haben türkische Arbeitnehmer auf Grund des Assoziationsratsbeschlusses EWG/Türkei Nr. 3/80 vom 19. September 1980 unter denselben Voraussetzungen wie deutsche Staatsangehörige Anspruch auf Kindergeld gemäß § 62 Abs. 1 EStG, doch handelt es sich beim Kläger nicht um einen Arbeitnehmer im Sinne des Assoziationsratsbeschlusses Nr. 3/80. Dieser Beschluss ist nur auf Arbeitnehmer sowie deren Familienangehörige und Hinterbliebene anwendbar (vgl. Art. 2). Der EuGH hat hierzu entschieden, dass sich der Begriff des Arbeitnehmers auf jede Person erstreckt, die, ob sie nun eine Erwerbstätigkeit ausübt oder nicht, die Versicherteneigenschaft nach den für die soziale Sicherheit geltenden Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedstaaten besitzt (Urteil des EuGH vom 4. Mai 1999 C – 5 262/96, Tz. 85).
Im Streitfall besitzt der Kläger eine solche Versicherteneigenschaften nicht. Als nicht anerkannter Asylbewerber erhält er zwar neben seinem notwendigen Bedarf an Ernährung, Unterkunft usw. (vgl. § 3 AsylbLG) auch die erforderliche ärztliche und zahnärztliche Behandlung nach § 4 Abs. 1 AsylbLG. Allerdings werden die Kosten dieser Behandlung weder von einer privaten noch von einer gesetzlichen Krankenkasse erstattet, sondern zunächst von den Landkreisen und kreisfreien Städten übernommen, die dann ihrerseits die notwendigen Kosten vom Land erstattet erhalten.
d. Ein Kindergeldanspruch besteht auch nicht gemäß Art. 2 des Vorläufigen Europäischen Abkommen über Soziale Sicherheit unter Ausschluss der Systeme für den Fall des Alters, der Invalidität und zugunsten der Hinterbliebenen (BGBl II 1956, 507) i. V. m. Art. 2 des Zusatzprotokolls dazu (BGBl II 1956, 528), im Folgenden: Vorläufiges Europäisches Abkommen über Soziale Sicherheit. Ein Anspruch auf nicht auf Beiträgen beruhende Leistungen besteht nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. d) nämlich nur dann, wenn der Asylbewerber seit mindestens sechs Monaten im Gebiet der Bundesrepublik „wohnt”. Bei der Auslegung des Begriffs des Wohnens folgt der Senat den Ausführungen des FG Münster im Urteil vom 1. Dezember 2008 5 K 4329/03 Kg (EFG 2009, 495):
„Das Merkmal des „Wohnens” ist in den vorgenannten Regelungen nicht definiert. Allerdings unterscheidet das Vorläufige Europäische Abkommen über Soziale Sicherheit in Art. 2 Abs. 1 Buchst. a) bis d) die Begriffsmerkmale des „Wohnens” und des „Aufenthalts” bzw. des „gewöhnlichen Aufenthalts”, so dass nach der Abkommensregelung dem Merkmal des „Wohnens” gegenüber dem „Aufenthalt” eine eigene Bedeutung zukommen muss. Der Senat zieht zur Begriffsbestimmung des „Wohnens” die zu § 8 AO entwickelten Grundsätze heran. Gemäß § 8 AO hat einen Wohnsitz jemand dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Das setzt voraus, dass Räumlichkeiten vorhanden sind, die objektiv auf Dauer zum Wohnen geeignet sind und dass Umstände bestehen, die auf ein Beibehalten und Benutzen der Wohnung schließen lassen (vgl. z. B. BFH-Urteil vom 19. März 2002 I R 15/01, BFH/NV 2002, 1411). Ein Übergangsheim für Asylbewerber ist nach Auffassung des Senats nicht zum dauernden Wohnen geeignet und bestimmt. Der Aufenthalt dort ist sowohl vom Betreiber als auch vom Asylbewerber von vornherein darauf angelegt, von nur vorübergehender Natur zu sein. Die räumliche Situation (keine für die Familien allein zur Verfügung stehenden Küche, Bad und Gemeinschaftsflächen) ist auch objektiv nicht zum dauernden Wohnen geeignet. Letztlich beruht der Aufenthalt in staatlichen Übergangsheimen auch nicht auf einer freien Entscheidung, sondern auf einer staatlichen Zuweisung”.
Im Zeitraum ab 1. Januar 2003 hat der Kläger sich mit seiner Familie im Übergangsheim für Asylbewerber aufgehalten. Er hat somit noch nicht im Bundesgebiet „gewohnt”. Der bloße Aufenthalt im Bundesgebiet, auch wenn er sich zu einem gewöhnlichen Aufenthalt i. S. v. § 9 AO verfestigt haben sollte, ist nicht ausreichend für die Anwendung des Art. 2 Abs. 1 Buchst. d) Vorläufiges Europäisches Abkommen über soziale Sicherheit.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
Die Revision wurde im Hinblick auf die unterschiedliche Rechtsprechung der Finanzgerichte (FG Münster, Urteil vom 1. Dezember 2008 5 K 4329/03 Kg, EFG 2009, 495; a.A. FG Düsseldorf, Urteil vom 31. Juli 2008 14 K 2206/06 Kg, EFG 2009, 135, Revision eingelegt, Az. des BFH III R 75/08; Hessisches FG, Gerichtsbescheid vom 7. November 2008 3 K 2236/06, HI 2099951, Revision eingelegt, Az. des BFH III R 87/08) zum Begriff des Wohnens in Art. 2 Abs. 1 Buchst. d) des Vorläufigen Europäischen Abkommens über Soziale Sicherheit zugelassen.