21.11.2013 · IWW-Abrufnummer 133638
Bundesfinanzhof: Urteil vom 11.09.2013 – II R 37/12
1.Pflege i.S. des § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG ist die regelmäßige und dauerhafte Fürsorge für das körperliche, geistige oder seelische Wohlbefinden einer wegen Krankheit, Behinderung, Alters oder eines sonstigen Grundes hilfsbedürftigen Person. Es ist nicht erforderlich, dass der Erblasser pflegebedürftig i.S. des § 14 Abs. 1 SGB XI und einer Pflegestufe nach § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB XI zugeordnet war.
2.Die Gewährung eines Pflegefreibetrags setzt voraus, dass Pflegeleistungen regelmäßig und über eine längere Dauer erbracht worden sind, über ein übliches Maß der zwischenmenschlichen Hilfe hinausgehen und im allgemeinen Verkehr einen Geldwert haben.
3.Der Erwerber muss zur Berücksichtigung eines Pflegefreibetrags die Hilfsbedürftigkeit des Erblassers sowie Art, Dauer, Umfang und Wert der erbrachten Pflegeleistungen schlüssig darlegen und glaubhaft machen. Hieran sind jedoch keine übersteigerten Anforderungen zu stellen.
Gründe
I.
1
Der Kläger, Revisionsbeklagte und Anschlussrevisionskläger (Kläger) erhielt von der im Jahr 1920 geborenen und im Dezember 2009 verstorbenen Erblasserin (E), mit der er weder verwandt noch verschwägert war, im Wege des Vermächtnisses zwei zu Wohnzwecken vermietete Eigentumswohnungen im Gesamtwert von 103.104 €. Testamentarischer Alleinerbe der E war ihr Neffe.
2
Der Kläger hatte seit 2004 eine General- und Versorgungsvollmacht der E. Er leistete ihr in den letzten Jahren vor ihrem Tod regelmäßig Hilfe u.a. in Form von Unterstützung bei hauswirtschaftlichen Verrichtungen, bei der Erledigung von Botengängen und Schriftverkehr, durch Begleitung bei Arztbesuchen oder Vorsprachen bei Behörden. E lebte bis Mai 2009 alleine in ihrer Wohnung; nach einem stationären Krankenhausaufenthalt war sie von Juli 2009 bis zu ihrem Tod in einem Pflegeheim untergebracht. Seit 1. Mai 2009 war E in Pflegestufe I und seit 1. Juli 2009 in Pflegestufe II eingeordnet.
3
Der Beklagte, Revisionskläger und Anschlussrevisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) setzte gegen den Kläger Erbschaftsteuer fest, wobei es den Wert der Wohnungen gemäß § 13c des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetzes in der für das Jahr 2009 geltenden Fassung (ErbStG) mit 90 % der festgestellten Grundbesitzwerte zugrunde legte und im Rahmen des Einspruchsverfahrens zunächst Pflegeaufwendungen für den Zeitraum vom 1. Mai 2008 bis zum 31. Dezember 2009 in Höhe von insgesamt 11.688 € anerkannte.
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Nach einer Prüfung des Rechnungshofs erhöhte das FA die Erbschaftsteuer in der Einspruchsentscheidung vom 7. Dezember 2011 auf 21.270 €. Dabei berücksichtigte es nur noch einen Freibetrag für Pflegeleistungen für die Monate Mai und Juni 2009 in Höhe von 755 € (420 € x 2 x 89,9 %). Der Pflegefreibetrag sei erst ab Vorliegen der Pflegebedürftigkeit i.S. des Elften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XI) und nur bis zum Zeitpunkt einer vollstationären Pflege zu gewähren. Außerdem sei der Wert der Pflegeleistungen anteilig zu kürzen, weil wegen der Steuerbefreiung nach § 13c ErbStG der Steuerwert des Vermächtnisses (91.666 €) nur 89,9 % des Verkehrswertes (101.976 €) betrage.
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Nach Erhebung der Klage wurde die Steuerfestsetzung mit Bescheid vom 6. Juli 2012 im Hinblick auf das beim Bundesfinanzhof (BFH) anhängige Verfahren II R 9/11 nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nrn. 3 und 4 der Abgabenordnung für vorläufig erklärt. Die Klage hatte teilweise Erfolg. Das Finanzgericht (FG) erkannte einen Freibetrag für Pflegeleistungen in Höhe von 4.725 € an und setzte die Erbschaftsteuer gegen den Kläger auf 20.070 € herab. § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG erfordere weder das Vorliegen der Pflegebedürftigkeit noch die Erbringung von Pflegeleistungen i.S. der §§ 14, 15 SGB XI. Der Begriff der Pflege i.S. des § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG sei weit zu verstehen. Der Kläger habe der E Pflege in diesem Sinne gewährt, jedoch Zweifel am geltend gemachten zeitlichen Umfang der erbrachten Leistungen nicht gänzlich ausräumen können. Deshalb sei nach Würdigung der gesamten Umstände des Streitfalls davon auszugehen, dass er in den fünf Jahren vor dem Tod der E insgesamt 315 Stunden Pflegeleistungen erbracht habe. In Anlehnung an vergleichbare Dienstleistungsvergütungen sei ein Stundensatz von 15 € angemessen, so dass die Pflegeleistungen mit 4.725 € (315 Stunden x 15 €/Stunde) zu bewerten seien. Das Urteil des FG ist veröffentlicht in Entscheidungen der Finanzgerichte 2012, 2217.
6
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung des § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG. Die Revisionsbegründung wurde den Prozessbevollmächtigten des Klägers gegen Empfangsbekenntnis am 11. Oktober 2012 zugestellt.
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Das FA beantragt,
die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
die Revision des FA zurückzuweisen.
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Darüber hinaus begehrt der Kläger mit Schriftsatz vom 19. November 2012, der am 21. November 2012 beim BFH eingegangen ist, weiterhin die Anerkennung des vollen Freibetrags in Höhe von 20.000 €.
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Der Kläger beantragt,
die Vorentscheidung aufzuheben und die Erbschaftsteuer unter Änderung des Erbschaftsteuerbescheids vom 6. Juli 2012 auf 15.480 € herabzusetzen.
11
Das FA beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
II.
12
Die Revision des FA war als unbegründet zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--). Die Anschlussrevision des Klägers ist unzulässig und war daher zu verwerfen (§ 126 Abs. 1 FGO).
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A. Revision des FA
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Das FG hat zu Recht entschieden, dass der Erwerb des Klägers wegen der gegenüber E erbrachten Pflegeleistungen in Höhe von 4.725 € steuerfrei ist.
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1. Nach § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG bleibt ein steuerpflichtiger Erwerb bis zu 20.000 € steuerfrei, der Personen anfällt, die dem Erblasser unentgeltlich oder gegen unzureichendes Entgelt Pflege oder Unterhalt gewährt haben, soweit das Zugewendete als angemessenes Entgelt anzusehen ist. Die Vorschrift regelt nicht den Abzug eines Pauschbetrags, sondern die Berücksichtigung eines Freibetrags (vgl. BFH-Urteil vom 28. Juni 1995 II R 80/94, BFHE 178, 218, BStBl II 1995, 784), wobei die mögliche Steuerbefreiung auf maximal 20.000 € begrenzt ist. Liegt der Wert der erbrachten Leistungen unter 20.000 €, so ist nur ein Erwerb in dieser Höhe steuerfrei.
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a) Der Begriff "Pflege gewähren" wird in § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG anders als beispielsweise der Begriff der Hilflosigkeit in § 33b Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes nicht definiert und muss als steuerrechtliches Tatbestandsmerkmal nach seinem steuerrechtlichen Bedeutungszusammenhang, nach dem Zweck des jeweiligen Steuergesetzes und dem Inhalt der einschlägigen Einzelregelung interpretiert werden (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Dezember 1991 2 BvR 72/90, BStBl II 1992, 212, unter 1.a cc). Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Zweck der Steuerbefreiung des § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG rechtfertigen eine weite Auslegung dieses Tatbestandsmerkmals.
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b) Nach dem Wortlaut des § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG setzt die Steuerbefreiung u.a. voraus, dass dem Erblasser Pflege gewährt worden ist. Pflege in diesem Sinne ist die regelmäßige und dauerhafte Fürsorge für das körperliche, geistige oder seelische Wohlbefinden einer hilfsbedürftigen Person (vgl. Meincke, Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuergesetz, Kommentar, 16. Aufl., § 13 Rz 40; Kobor in Fischer/Jüptner/Pahlke/ Wachter, ErbStG, 4. Auflage § 13 Rz 57; Kien-Hümbert in Moench/Weinmann, § 13 ErbStG Rz 61; grundlegend Urteil des Reichsfinanzhofs --RFH-- vom 5. Juli 1921 Ia A 74/21, RFHE 6, 252).
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aa) Die Gewährung von Pflege setzt begrifflich eine wegen Krankheit, Behinderung, Alters oder eines sonstigen Grundes bestehende Hilfsbedürftigkeit des Pflegeempfängers voraus (Meincke, a.a.O., § 13 Rz 40). Dabei reicht es für die Gewährung der Steuerbefreiung nach § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG aus, dass die Pflege des Erblassers durch seine Hilfsbedürftigkeit veranlasst war. Es ist nicht erforderlich, dass der Erblasser pflegebedürftig i.S. des § 14 Abs. 1 SGB XI und einer Pflegestufe nach § 15 Abs. 1 Satz 1 SGB XI zugeordnet war (vgl. Kien-Hümbert, a.a.O., § 13 ErbStG Rz 61). Denn in § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG wird auf die Vorschriften des SGB XI weder verwiesen noch in sonstiger Weise Bezug genommen.
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bb) Weitere Voraussetzung für eine Pflege i.S. des § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG ist die Erbringung von Pflegeleistungen.
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Zu den Pflegeleistungen zählen --in Anlehnung an die in § 14 Abs. 4 SGB XI angeführten Hilfeleistungen-- die Unterstützung und Hilfe bei den gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Bereich der Körperpflege (z.B. Waschen, Duschen, Kämmen), der Ernährung (z.B. Zubereiten und Aufnahme der Nahrung), der Mobilität (z.B. selbständiges Aufstehen und Zu-Bett-Gehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen, Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung) und der hauswirtschaftlichen Versorgung (z.B. Einkaufen, Kochen, Reinigen der Wohnung, Spülen, Wechseln und Waschen der Wäsche und Kleidung). Dazu gehören aber auch weitere, nicht von § 14 Abs. 4 SGB XI erfasste Hilfeleistungen, wie die Erledigung von Botengängen und schriftlichen Angelegenheiten, Besprechungen mit Ärzten, Vorsprachen bei Behörden sowie die seelische Betreuung des Erblassers. Gerade bei hilfsbedürftigen Personen kann es erforderlich sein, dass sie einen Ansprechpartner ihres Vertrauens haben, an den sie sich mit ihren Anliegen wenden können. Das Vorliegen von Pflegeleistungen kann nicht davon abhängig gemacht werden, dass die Vertrauensperson als Betreuer nach den §§ 1896 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) bestellt war.
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Voraussetzung ist jedoch stets, dass die Leistungen regelmäßig und über eine längere Dauer erbracht worden sind (Jochum in Wilms/Jochum, ErbStG, § 13 Rz 108; Kobor, a.a.O., § 13 Rz 57; Kien-Hümbert, a.a.O., § 13 Rz 61; Meincke, a.a.O., § 13 Rz 40). Nur gelegentliche Botengänge oder Besuche, die nicht über ein übliches Maß der zwischenmenschlichen Hilfe hinausgehen, reichen nicht aus (vgl. Jülicher in Troll/Gebel/Jülicher, ErbStG, § 13 Rz 98). Die erbrachten Leistungen müssen im allgemeinen Verkehr einen Geldwert haben.
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c) Die Entstehungsgeschichte und der Zweck des § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG sprechen ebenfalls für eine weite Auslegung der Steuerbefreiung.
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Die Vorschrift geht auf § 33 Nr. 4c des Erbschaftsteuergesetzes in der Fassung vom 10. September 1919 --ErbStG 1919-- (RGBl 1919, 1543) zurück. Im Zusammenhang mit der Auslegung des dort verwendeten Begriffs der "Verpflegung" des Erblassers stellte der RFH klar, dass dieser weitergehend zu verstehen und hierunter nicht nur die Verköstigung, sondern allgemein auch die anderweitige Fürsorge für das körperliche Wohl des Pflegeempfängers zu zählen sei (RFH-Urteil in RFHE 6, 252). Ob sich die Pflege auf niedere oder fachkundige Dienstleistungen gründe, sei unerheblich (vgl. Zimmermann, Erläuterungsbuch zum ErbStG 1919, § 33 unter Nr. 10). Die unter Berücksichtigung dieser Rechtsprechung im Jahr 1922 neu gefasste Vorschrift (§ 22 Nr. 10 ErbStG in der Fassung vom 20. Juli 1922, RGBl I 1922, 610) wurde bis zur Gesetzesänderung zum 1. Januar 1974 inhaltlich unverändert in die späteren Erbschaftsteuergesetze übernommen.
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Durch das Gesetz zur Reform des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuerrechts vom 17. April 1974 (BGBl I 1974, 933) wurde die bis dahin im Rahmen der Angemessenheit grundsätzlich in unbegrenzter Höhe gewährte Befreiung zunächst auf 2.000 DM beschränkt (§ 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG 1974). In der Folgezeit wurde dieser Höchstbetrag schrittweise wieder heraufgesetzt, zuletzt durch das Erbschaftsteuerreformgesetz vom 24. Dezember 2008 (BGBl I 2008, 3018) auf 20.000 €. Mit der Einführung bzw. Beibehaltung einer betragsmäßigen Beschränkung sollten nach der Vorstellung des Gesetzgebers die Möglichkeiten einer missbräuchlichen Ausnutzung der Vorschrift durch Beantragung ungerechtfertigt hoher Beträge für die in der Regel nicht beweisbaren und nur bedingt nachprüfbaren Pflegedienste oder Unterhaltsleistungen auf ein vernünftiges Maß eingeschränkt werden (vgl. BTDrucks 7/1333, S. 5; BTDrucks 16/11107, S. 9). Der Gesetzgeber verzichtete jedoch trotz der Einführung des SGB XI zum 1. Januar 1995 (BGBl I 1994, 1014) auf eine inhaltliche Beschränkung des Pflegebegriffs und auf eine Anlehnung an den Begriff der Pflegeleistungen und der Pflegebedürftigkeit nach §§ 14, 15 SGB XI mit einer leicht nachprüfbaren Zuordnung zu einer Pflegestufe. Die Anhebung des Höchstbetrags durch das Gesetz zur Reform des Erbschaftsteuer- und Schenkungsteuerrechts sollte nach der Gesetzesbegründung vielmehr zu einer Verbesserung der steuerlichen Berücksichtigung von Pflegeleistungen führen, die gegenüber dem Erblasser unentgeltlich oder gegen zu geringes Entgelt erbracht wurden (BTDrucks 16/11107, S. 9).
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2. Eine Steuerbefreiung gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG ist nur zu gewähren, soweit das Zugewendete als angemessenes Entgelt für die gewährte Pflege anzusehen ist.
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Ein angemessenes Entgelt ist die Zuwendung nur, soweit sie dem Betrag entspricht, den der Erblasser durch die Inanspruchnahme der Pflegeleistungen des Erwerbers erspart hat (vgl. Jülicher, a.a.O., § 13 Rz 98). Der Wert der Pflegeleistungen ist im konkreten Einzelfall am Maßstab der objektiven Verhältnisse im Zeitpunkt der Pflegeleistung zu ermitteln (vgl. BFH-Urteil vom 10. Dezember 1980 II R 101/78, BFHE 132, 310, BStBl II 1981, 270). Der anzusetzende Freibetrag hängt insbesondere von Art, Dauer und Umfang der erbrachten Hilfeleistungen ab.
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3. Der Abzug des Pflegefreibetrags nach § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG erfordert, dass der Erwerber die Hilfsbedürftigkeit des Erblassers sowie Art, Dauer, Umfang und Wert der tatsächlich erbrachten Pflegeleistungen schlüssig darlegt und glaubhaft macht. Er trägt insoweit die Feststellungslast.
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a) Im Hinblick auf den Sinn und Zweck der Steuerbefreiung und die damit verbundenen Nachweisschwierigkeiten sind jedoch keine übersteigerten Anforderungen an die Darlegung und Glaubhaftmachung zu stellen. Vielmehr ist bei der Beurteilung der Frage, ob und inwieweit die tatsächlichen Voraussetzungen der Steuerbefreiung erfüllt sind, ein großzügiger Maßstab anzulegen.
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Insbesondere kann regelmäßig angenommen werden, dass mit zunehmendem Alter eines Menschen auch dessen Hilfsbedürftigkeit zunimmt. So kann, wenn keine gegenteiligen Anhaltspunkte bestehen, schon bei einem über 80 Jahre alten Menschen von einer Hilfsbedürftigkeit auszugehen sein, ohne dass es hierzu eines Nachweises in Form eines ärztlichen Attests oder vergleichbarer Bescheinigungen bedarf. Allein die Unterbringung und Versorgung eines Pflegeempfängers in einem Pflegeheim schließen eine Steuerbefreiung nach § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG nicht aus. Denn durch die Steuerbefreiung begünstigte Pflegeleistungen können auch gegenüber einer Person erbracht werden, die in einem Pflegeheim lebt.
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b) Die Höhe des anzusetzenden Freibetrags bestimmt sich nach den gesamten Umständen des konkreten Einzelfalls. Zur Ermittlung des Werts der vom Erwerber erbrachten Pflegeleistungen können die jeweils für vergleichbare Leistungen zu zahlenden, üblichen Vergütungssätze entsprechender Berufsgruppen oder gemeinnütziger Vereine herangezogen werden. Dem Erwerber steht es aber stets frei, einen höheren Wert seiner Leistungen nachzuweisen. Bei Erbringung langjähriger, intensiver und umfassender Pflegeleistungen kann der Freibetrag auch in voller Höhe zu gewähren sein, ohne dass es eines Einzelnachweises zum Wert der Pflegeleistungen bedarf.
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4. Die Steuerbefreiung des Erwerbs gemäß § 13c ErbStG rechtfertigt keine Kürzung des für den Freibetrag nach § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG maßgeblichen Werts der Pflegeleistungen.
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Nach § 13c Abs. 1 und 3 ErbStG sind bestimmte zu Wohnzwecken vermietete Grundstücke unter näher festgelegten Voraussetzungen mit 90 % ihres Werts anzusetzen. Der verminderte Wertansatz eines Grundstücks nach § 13c Abs. 1 ErbStG schließt eine Steuerbefreiung nach § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG nicht aus. Da nach § 13 Abs. 3 Satz 1 ErbStG jede Steuerbefreiungsvorschrift für sich anzuwenden ist, ist dementsprechend auch die Steuerbefreiung nach § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG unabhängig von der Steuerbefreiung nach § 13c ErbStG zu gewähren.
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§ 13c Abs. 1 ErbStG führt deshalb nicht dazu, dass der Wert der Pflegeleistungen entsprechend dem Verhältnis zwischen dem verminderten Wertansatz des Grundstücks und dem festgestellten Grundbesitzwert zu mindern ist. Insoweit fehlt es an einer gesetzlichen Grundlage, die eine verhältnismäßige Kürzung anordnet. § 10 Abs. 6 Satz 5 ErbStG erfasst nur Schulden und Lasten, die mit nach § 13c ErbStG befreitem Vermögen in wirtschaftlichem Zusammenhang stehen; diese sind nur mit dem Betrag abzugsfähig, der dem Verhältnis des nach Anwendung des § 13c ErbStG anzusetzenden Werts dieses Vermögens zu dem Wert vor Anwendung des § 13c ErbStG entspricht. Die nach § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG begünstigten Pflegeleistungen begründen aber wegen der dem Erblasser unentgeltlich oder gegen unzureichendes Entgelt gewährten Pflege keine Schulden oder Lasten i.S. von § 10 Abs. 6 Satz 5 ErbStG.
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5. Ausgehend von diesen Grundsätzen ist der Erwerb des Klägers wegen der Pflege der E in Höhe von 4.725 € steuerfrei. Das FG hat den Wert der Pflegeleistungen offensichtlich nicht zu hoch angesetzt.
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Nach den gemäß § 118 Abs. 2 FGO den BFH bindenden Feststellungen des FG hat der Kläger gegenüber E, die altersbedingt unterstützungsbedürftig war, unentgeltlich Pflegeleistungen i.S. des § 13 Abs. 1 Nr. 9 ErbStG erbracht. Das FG hat in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise den Umfang der anzuerkennenden Pflegeleistungen auf insgesamt 315 Stunden geschätzt und deren Wert in Anlehnung an die Vergütung, die der örtliche gemeinnützige Verein für vergleichbare Leistungen berechnet, mit durchschnittlich 15 € pro Stunde angesetzt. Gegen diese mögliche Sachverhaltswürdigung und tatrichterliche Überzeugungsbildung des FG wurden zulässige Revisionsrügen nicht erhoben.
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B. Anschlussrevision des Klägers
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1. Der im Rahmen der Revisionserwiderung des Klägers gestellte Antrag,
den Freibetrag in voller Höhe von 20.000 € zu gewähren und die Erbschaftsteuer auf 15.480 € herabzusetzen, ist als Anschlussrevision auszulegen (§ 155 FGO i.V.m. § 554 der Zivilprozessordnung --ZPO--; vgl. BFH-Urteil vom 22. Dezember 2011 III R 93/10, BFH/NV 2012, 932).
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2. Die Anschlussrevision des Klägers ist jedoch unzulässig. Die unselbständige Anschlussrevision muss innerhalb eines Monats nach Zustellung der Revisionsbegründung eingelegt und begründet werden (§ 155 FGO i.V.m. § 554 Abs. 2 Satz 2 ZPO; vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 2012, 932). Daran fehlt es vorliegend. Die Revisionsbegründung des FA wurde den Prozessbevollmächtigten des Klägers gegen Empfangsbekenntnis am 11. Oktober 2012 zugestellt. Die gesetzliche Frist ist daher gemäß § 54 FGO i.V.m. § 222 Abs. 1 und 2 ZPO sowie §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 Alternative 1 BGB am Montag, den 12. November 2012, abgelaufen. Die Anschlussrevision wurde indes erst am 21. November 2012 und damit verspätet eingelegt. Anders als die Frist zur Erwiderung auf die Revisionsbegründung kann diese Frist nicht verlängert werden (BFH-Urteil vom 19. März 2003 VI R 40/01, BFH/NV 2003, 1163). Gründe für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gemäß § 56 FGO liegen nicht vor.
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3. Eine unzulässige Revision ist grundsätzlich nach § 126 Abs. 1 FGO durch Beschluss zu verwerfen. Wird aber neben einer zulässigen Revision eine unzulässige Anschlussrevision eingelegt, kann der Senat insgesamt über beide Revisionen durch Urteil entscheiden (BFH-Urteil vom 21. Juni 2012 IV R 42/11, BFH/NV 2012, 1927).