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  • 02.08.2017 · IWW-Abrufnummer 195597

    Finanzgericht Düsseldorf: Urteil vom 16.02.2017 – 14 K 3554/14 E

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    Finanzgericht Düsseldorf

    14 K 3554/14 E

    Tenor:

    Die Klage wird abgewiesen.

    Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens.

    Die Revision wird zugelassen.

    1

    Tatbestand

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    Streitig ist, ob der formell bestandskräftige Einkommensteuerbescheid 2010 vom 10.01.2012 nach § 129 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) wegen einer offenbaren Unrichtigkeit berichtigt werden kann.

    3

    Die Kläger, die seit dem 08.10.2010 verheiratet sind, werden im Streitjahr 2010 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt.

    4

    Am 21.12.2011 reichten die Kläger die Einkommensteuerklärung 2010 auf dem amtlichen Vordruck ein. Die Erklärung enthält u. a. Einkünfte aus selbständiger Arbeit des Klägers als Programmierer in Höhe von 128.641 Euro sowie Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit der Klägerin in Höhe von 28.552 Euro.

    5

    Nach den Angaben zur Zentralerfassung des Beklagten ist die Erklärung im Veranlagungsbezirk als "Schnellbearbeitung 5000er" behandelt und gescannt worden. Im Anschluss an die Erfassung ging im Veranlagungsbezirk eine Hinweismitteilung ein, die

    6

    u. a. folgende Prüf- und Risiko-Hinweise enthält:

    7

    PHW 4706: Da der Ehemann/die Ehefrau Einkünfte von weniger als 4.200 Euro erzielt hat, ist zu prüfen, ob er/sie ggf. ohne eigene Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung familienversichert ist und der verringerte Höchstbetrag zu den sonstigen Vorsorgeaufwendungen (Kz 52.307 = 1) einzugeben ist.

    8

    RHW 1577: Es wurden abweichende Erklärungswerte gespeichert.

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    Der Fall wird daher als risikobehaftet gezählt.

    10

    RHW 5401: Es handelt sich um eine Zusammenveranlagung. Im Vorjahr erfolgte eine Einzelveranlagung bzw. getrennte Veranlagung. Der Risikofilter kann keine zutreffenden Vorjahresvergleiche durchführen. Der Fall ist personell zu prüfen. Ggf. unter einer anderen Steuernummer festgesetzte Vorauszahlungen sind umzubuchen.

    11

    Den Prüf-Hinweis versah die Sachbearbeiterin, die Zeugin M, am 29.12.2011 mit dem handschriftlichen Vermerk „EM=Eink. § 18 EStG“ und die Risiko-Hinweise jeweils mit einem handschriftlichen Haken. Ferner trugen die Sachbearbeiterin sowie der zuständige Sachgebietsleiter, der Zeuge L, in der „Anlage Finanzamtsdaten“ geänderte Werte zu den Vorsorgeaufwendungen ein.

    12

    In der Bilanzakte befindet sich bei den Angaben des Klägers zur Bildung des Investitionsabzugsbetrages nach § 7g Abs. 1 EStG im Jahr 2010 der handschriftliche Vermerk „§ 7 g (1) a Betriebsvermögen 135.000“ und in der Umsatzsteuerakte auf der letzten Seite der Umsatzsteuererklärung 2010 der handschriftliche Vermerk über eine sachliche Prüfung vom 29.12.2011.

    13

    Im Einkommensteuerbescheid 2010 vom 10.01.2012 blieben die Einkünfte aus selbständiger Arbeit des Klägers unberücksichtigt. Die Kläger erhielten daraufhin eine Einkommensteuererstattung von 22.202 Euro.

    14

    Bei der Ermittlung der Besteuerungsgrundlagen für den Veranlagungszeitraum 2011 stellte der Bearbeiter des Beklagten die Nichterfassung der selbständigen Einkünfte des Klägers im Streitjahr 2010 fest. Daraufhin erging am 09.05.2014 ein nach § 129 AO entsprechend geänderter Einkommensteuerbescheid 2010. Im Erläuterungsteil des Änderungsbescheides wird ausgeführt, dass die in der Einkommensteuererklärung aufgelisteten Einkünfte aus selbständiger Tätigkeit nur versehentlich nicht übernommen worden seien.

    15

    Gegen den Bescheid legten die Kläger am 16.05.2014 Einspruch ein, den sie wie folgt begründeten: Die vom Beklagten angeführten Gründe für eine offenbare Unrichtigkeit seien nicht nachvollziehbar. Eine offenbare Unrichtigkeit scheide aus, wenn auch nur die ernsthafte Möglichkeit bestehe, dass die Nichtbeachtung einer feststehenden Tatsache in einer fehlerhaften Tatsachenwürdigung oder in einem sonstigen (sachverhaltsbezogenen) Denk- oder Überlegungsfehler begründet sei oder auf mangelnder Aufklärung des Sachverhalts beruhe. Da die Erfassungsbögen nicht vorlägen, könne nicht nachvollzogen werden, ob es sich um einen Erfassungsfehler handle und dass dieser Erfassungsfehler bei der notwendigerweise durchzuführenden Überprüfung nicht auffallen konnte. Solange die Akten in Papierform geführt würden und zur Feststellung eines eventuellen Erfassungsfehlers ein Abgleich des Akteninhalts mit dem EDV-Speicher erforderlich sei, scheide eine offenbare Unrichtigkeit aus.

    16

    Mit Schreiben vom 08.08.2014 wies der Beklagte darauf hin, in 2010 sei erstmalig eine Zusammenveranlagung durchgeführt worden. Es hätten deshalb keine Werte beigestellt werden können. Im Rahmen der Veranlagung seien die Einkünfte des Klägers nach§ 18 des Einkommensteuergesetzes (EStG) versehentlich nicht übernommen worden. Es handle sich deshalb um einen Erfassungsfehler.

    17

    In der Einspruchsentscheidung vom 08.10.2014 wies der Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Er stellte darauf ab, dass die Voraussetzungen einer ähnlichen offenbaren Unrichtigkeit gegeben seien, da die Unrichtigkeit des Einkommensteuerbescheides 2010 vom 10.01.2012 auf der Hand liege. Es sei ein unbewusstes Übersehen bzw. Vergessen der Anlage S gegeben. Der Bundesfinanzhof (BFH) habe im Urteil vom 26.04.1989 VI R 39/85 in einem vergleichbaren Fall, in dem der Sachbearbeiter des Finanzamtes bei der Veranlagung steuerpflichtigen Arbeitslohn, von dem kein Steuerabzug vorgenommen wurde, unberücksichtigt gelassen habe, § 129 AO angewandt. Gleiches gelte für das Übersehen anderer Einkünfte.

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    Gegen die Einspruchsentscheidung haben die Kläger am 10.11.2014 Klage erhoben. Zur Begründung tragen sie unter Wiederholung ihres Vorbringens im Einspruchsverfahren ergänzend vor: Eine offenbare Unrichtigkeit sei durch die Behörde nachzuweisen. Trotz der Aufforderung im Einspruchsverfahren habe der Beklagte diesen Nachweis nicht erbracht. Bei der Höhe des Erstattungsbetrages des ursprünglichen Einkommensteuerbescheides wäre nicht nur ein Abgleich mit dem EDV-Speicher erforderlich gewesen, sondern ein Abgleich mit dem Akteninhalt unter Einbeziehung des Vorjahres. Im Streitfall sei daher davon auszugehen, dass nicht nur ein mechanisches Versehen, sondern ein Fehler bei der Sachverhaltsaufklärung gegeben sei.

    19

    Die Kläger beantragen,

    20

    den Einkommensteuerbescheid 2010 vom 09.05.2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 08.10.2014 aufzuheben.

    21

    Der Beklagte beantragt,

    22

    die Klage abzuweisen.

    23

    Er verweist zur Begründung auf die Ausführungen in der Einspruchsentscheidung.

    24

    Als Zeugen sind M und L zu den Umständen der Bearbeitung der Einkommensteuererklärung 2010 einschließlich der Hinweismitteilung vernommen worden. Hinsichtlich des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 16.02.2017 verwiesen.

    25

    Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Schriftsätze nebst Anlagen sowie die vom Beklagten übersandten Steuerakten verwiesen.

    26

    Entscheidungsgründe

    27

    Die Klage ist nicht begründet.

    28

    Der geänderte Einkommensteuerbescheid 2010 vom 09.05.2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 08.10.2014 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1, 1. Halbsatz der Finanzgerichtsordnung – FGO -). Der Beklagte war zu einer Berichtigung des formell bestandskräftigen Bescheides vom 10.01.2012 befugt, da es sich bei der Nichtberücksichtigung der von den Klägern erklärten Einkünfte aus selbständiger Arbeit gemäß § 18 EStG um eine offenbare Unrichtigkeit i. S. des § 129 Satz 1 AO handelt.

    29

    1. Nach § 129 Satz 1 AO kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH sind zur Berichtigung von Steuerbescheiden nach § 129 Satz 1 AO berechtigende offenbare Unrichtigkeiten mechanische Versehen wie beispielsweise Eingabe- oder Übertragungsfehler; sie können aber auch in einem unbeabsichtigten, unrichtigen Ausfüllen des Eingabebogens oder in einem Irrtum über den tatsächlichen Programmablauf liegen (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 05.01.2005 III B 79/04, Sammlung aller Entscheidungen des BFH - BFH/NV - 2005,1013; BFH-Urteil vom 28.05.2015 VI R 63/13, BFH/NV 2015, 1078). Die Regelung des § 129 Satz 1 AO umfasst Fälle, in denen der bekanntgegebene Inhalt des Verwaltungsaktes aus Versehen vom offensichtlich gewollten materiellen Inhalt abweicht (Klein/Ratschow, AO, 13. Aufl., § 129 Rz. 5). Es muss sich mithin um einen Fehler handeln, der in einem sonstigen unbewussten, gedankenlos-gewohnheitsmäßigen, unwillkürlichen Vertun besteht, also beispielsweise einem Übersehen, falschen Ablesen, falschen Übertragen, Vertauschen oder Vergessen.

    30

    Die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze in Bezug auf Eintragungen in Eingabewertbögen für die automatische Datenerfassung gelten entsprechend, wenn die Daten direkt in die automatische Datenerfassung eingegeben werden (vgl. BFH-Urteil vom 11.07.2007 XI R 17/05, BFH/NV 2007, 1810).

    31

    Dagegen zählen zu offenbaren Unrichtigkeiten nicht Fehler bei der Auslegung oder Anwendung einer Rechtsnorm, eine unrichtige Tatsachenwürdigung oder die unzutreffende Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalts. Dabei scheidet eine Anwendung des § 129 Satz 1 AO bereits dann aus, wenn auch nur die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass die Nichtbeachtung einer feststehenden Tatsache auf einer fehlerhaften Tatsachenwürdigung, einem sonstigen sachverhaltsbezogenen Denk- oder Überlegungsfehler oder auf mangelnder Sachverhaltsaufklärung beruht (vgl. BFH-Urteile vom 27.03.1987 VI R 63/84, BFH/NV 1987, 480, vom 05.02.1998 IV R 17/97, Bundessteuerblatt – BStBl - II 1998, 535, vom 16.03.2000 IV R 3/99, BStBl II 2000, 372, 375, und vom 13.06.2012 VI R 85/10, BStBl II 2013, 5).

    32

    Offenbar ist eine Unrichtigkeit dann, wenn der Fehler bei Offenlegung des Sachverhalts für jeden unvoreingenommenen Dritten klar und eindeutig als offenbare Unrichtigkeit erkennbar ist (ständige Rechtsprechung, z. B. BFH-Urteile vom 25.02.1992 VII R 8/91, BStBl II 1992, 713, vom 04.06.2008 X R 47/07, BFH/NV 2008, 1801, vom 27.05.2009 X R 47/08, BStBl II 2009, 946, und vom 01.07.2010 IV R 56/07, BFH/NV 2010, 2004).

    33

    2. Gemessen an diesen Grundsätzen steht im Streitfall nach dem Inhalt der Akten und dem Ergebnis der Beweisaufnahme fest, dass die Nichterfassung der Einkünfte aus selbständiger Arbeit eine offenbare Unrichtigkeit darstellt (hierzu unter a), die weder auf einem Rechtsirrtum (hierzu unter b) noch mangelnder Sachaufklärung beruht (hierzu unter c).

    34

    a) Die Nichtberücksichtigung der Einkünfte des Klägers aus selbständiger Arbeit in der erstmaligen Einkommensteuerveranlagung stellt einen offensichtlichen Erfassungsfehler dar. Für jeden unvoreingenommenen Dritten ist bei Einsichtnahme in die Steuerakten ersichtlich, dass im Steuerbescheid vom 10.01.2012 die von den Klägern erklärten selbständigen Einkünfte ohne erkennbaren Grund nicht erfasst sind.

    35

    Eine andere Beurteilung ist entgegen der Auffassung der Kläger auch nicht deshalb gerechtfertigt, weil die im Wege des Einscannens elektronisch gespeicherten Daten, aus denen sich die Nichterfassung der Einkünfte aus selbständiger Arbeit ergibt, einen verwaltungsinternen, nicht nach außen in Erscheinung tretenden Umstand darstellen. Mit Rücksicht auf die zunehmend EDV-technische Abwicklung von Veranlagungsvorgängen kann die Offenbarkeit eines Umstandes nicht alleine von dem Erscheinen in Papierform abhängen. Ausreichend ist vielmehr, wenn die elektronisch erfassten Daten – wie im Streitfall – ohne weiteres sichtbar gemacht werden können (vgl. BFH-Urteil vom 06.11.2012 VIII R 15/10, BStBl II 2013, 307). Jede andere Behandlung hätte zur Folge, dass ein mechanisches Versehen trotz objektiver Erkennbarkeit für einen unvoreingenommenen Dritten auszublenden wäre, nur weil es EDV-technischer Natur ist.

    36

    b) Anhaltspunkte für eine fehlerhafte Willensbildung sind nicht vorhanden. Dass die Sachbearbeiterin, die Zeugin M, oder der Sachgebietsleiter, der Zeuge L, als Zeichnungsberechtigter anhand einer rechtlichen Beurteilung zu dem Schluss gekommen sein könnten, die Einkünfte des Klägers aus selbständiger Arbeit seien steuerlich nicht zu erfassen und die Einkünfte deshalb bewusst und gewollt außer Ansatz gelassen worden sind, ist ausgeschlossen. Aus den Bearbeitungsvermerken in den Steuerakten ist im Gegenteil klar zu erkennen, dass die Sachbearbeiterin die Einkünfte aus selbständiger Arbeit erfassen wollte und ihr offensichtlich nicht bewusst war, dass die erklärten Einkünfte in den Daten der eingescannten Erklärung nicht erfasst waren. Dies folgt aus dem handschriftlichen Vermerk zum Prüfhinweis 4706 zu den Einkünften nach § 18 EStG des Klägers, sowie dem Prüfvermerk in der Bilanzakte zum Investitionsabzugsbetrag und dem Bearbeitungsvermerk auf der Umsatzsteuerklärung 2010. Die Beurteilung anhand der Aktenlage deckt sich auch mit den Bekundungen der Zeugen im Rahmen der Beweisaufnahme.

    37

    c) Eine andere Würdigung kommt auch nicht aufgrund der Bearbeitung der Hinweismitteilung in Betracht. Diese rechtfertigt im Streitfall nicht die Annahme einer mangelnden Sachverhaltsaufklärung, die nicht mehr auf einer bloßen Unachtsamkeit beruht.

    38

    Für den Umfang der Sachaufklärungspflicht ist im Streitfall die bis zum 31.12.2016 gültige Fassung des § 88 AO maßgeblich. Hierdurch bedingt besteht eine einzelfallbezogene Prüfung, ob eine Pflicht zur Sachverhaltsaufklärung oder zur Hinzuziehung des Akteninhalts einschließlich der Vorjahre bestand (von Wedelstädt in Beemann/Gosch, AO/FGO, § 129 AO Rz. 13). Von einer offenbaren Unrichtigkeit ist dann noch auszugehen, wenn feststehende Informationen aus bloßer Unachtsamkeit nicht berücksichtigt werden. Auf ein Verschulden des Sachbearbeiters kommt es hierbei nicht an (BFH-Beschluss vom 30.11.2010 III B 17/09, BFH/NV 2011, 412; Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 129 AO Rz. 62). Eine Korrektur nach § 129 AO kommt deshalb auch dann noch in Betracht, wenn Steuerfälle durch die Verwaltung oberflächlich behandelt werden (vgl. BFH-Urteile vom 11.07.2007 XI R 17/05, BFH/NV 2007, 1810; vom 21.01.2010 III R 22/08, BFH/NV 2010, 1410, und vom 07.11.2013 IV R 13/11, BFH/NV 2014, 657). Auch in diesen Fällen liegt noch ein rein mechanisches Versehen vor.

    39

    Abzugrenzen sind ähnliche offenbare Unrichtigkeiten jedoch von Fehlern in der Sachverhaltsermittlung, die nicht auf bloßen Unachtsamkeiten beruhen. Insbesondere dann, wenn sich die Unachtsamkeiten bei der Behandlung des Steuerfalles häufen und Zweifeln, die sich aufdrängen mussten, nicht nachgegangen wird, ist die Anwendung des § 129 AO ausgeschlossen (vgl. BFH- Urteil vom 04.11.1992, XI R 40/91, BFH/NV 1993, 509).

    40

    Unter Zugrundelegung dieser Abgrenzungskriterien hätte nach Auffassung des Senats eine sorgfältige Bearbeitung des Steuerfalls aufgrund der Hinweismitteilung -unabhängig von der für die Gerichte nicht maßgebenden Risikoklasseneinteilung der Finanzverwaltung – eine Überprüfung zwischen den erklärten Einkünften und den eingescannten Einkünften erfordert. Eine genauere Überprüfung haben die Zeugen jedoch nur zum Risikohinweis 1577 im Zusammenhang mit den Vorsorgeaufwendungen anhand der Erklärung und den elektronisch übermittelten Werten durchgeführt. Anlass zu einer Überprüfung hätte aber auch aufgrund des Prüfhinweises 4706 bestanden, wonach für einen der Kläger Einkünfte von weniger als 4.200 Euro Eingang in die eingescannte Erfassung der erklärten Einkünfte gefunden hatten, und ferner des Risikohinweises 5401, wonach der Risikofilter aufgrund der erstmaligen Zusammenveranlagung keinen zutreffenden Risikovergleich durchführen könne. Bei einer sorgfältigen Bearbeitung dieser Hinweise durch einen Abgleich zwischen den erklärten Einkünften und den eingescannten Einkünften sowie den Vorjahreseinkünften wäre die Nichterfassung der selbständigen Einkünfte des Klägers aufgefallen. Die sehr oberflächliche Bearbeitung durch die nur eingeschränkte Überprüfung anhand der Einkommensteuererklärung hat – wovon der Senat aufgrund der Zeugenaussagen überzeugt ist – jedoch nicht zu einer neuen Willensbildung geführt. Da die Zeugen trotz der Prüfhinweise davon ausgingen, dass die selbständigen Einkünfte aufgrund der Erklärung der Kläger auch erfasst worden seien, beruht die Nichtberücksichtigung des feststehenden Sachverhalts „selbständige Einkünfte“ nicht auf einem Rechtsanwendungsfehler aufgrund mangelhafter Sachverhaltsaufklärung, sondern letztlich auf einer oberflächlichen grob unachtsamen Bearbeitung des Steuerfalles, durch die sich der Fehler beim Einscannen der Erklärungswerte lediglich perpetuiert hat. Die Annahme einer mangelnden Sachaufklärung wäre nach Auffassung des Senats erst im Falle eines ausdrücklichen Hinweises auf im Vorjahr erfasste Einkünfte aus selbstständiger Arbeit oder auf die Höhe des Erstattungsbetrages gerechtfertigt. Solche Hinweise sind aber im Streitfall nicht ergangen.

    41

    3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

    42

    4. Die Revision war zur Fortbildung des Rechts nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO im Hinblick auf die ungeklärten Fragen im Spannungsfeld zwischen der elektronischen Erfassung von Steuererklärungen sowie der administrativen Vorgaben durch das Risikomanagement-System der Finanzverwaltung einerseits und dem Amtsermittlungsgrundsatz nach § 88 AO sowie seiner Bedeutung im Rahmen des § 129 Satz 1 AO andererseits zuzulassen. Der Senat hält eine höchstrichterliche Entscheidung zu der Frage für erforderlich, ob die durch das Risikomanagement vorgesehene Arbeitsweise, bei der – wie der Zeuge L bekundet hat – eine fehlerhafte Besteuerung „billigend in Kaufgenommen wirdt“, einer Anwendung des § 129 Satz 1 AO entgegensteht, wenn die Fehlerhaftigkeit der Festsetzung sich durch das Zusammenspiel verschiedener Prüfhinweise einem durchschnittlichen Sachbearbeiter geradezu aufdrängen muss. Es stellt sich die Frage, ob § 129 Satz 1 AO im Wege der Rechtsfortbildung im Hinblick auf den Sinn und Zweck der Regelung dahingehend auszulegen ist, dass eine bewusst billigende Inkaufnahme einer dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Besteuerung widersprechenden Steuerfestsetzung den Anwendungsbereich des § 129 Satz 1 AO als Korrekturnorm jedenfalls dann ausschließt, wenn bei der Sachbearbeitung durch verwaltungsinterne Anweisungen eine Einzelfallprüfung mit dem Hinweis auf die Zuordnung eines Falles zu bestimmten Risikoklassen und das Massenverfahren untersagt ist.