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16.05.2019 · IWW-Abrufnummer 208933

Landessozialgericht Bayern: Urteil vom 19.12.2018 – L 19 R 165/17

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


Landessozialgericht Bayern

Urt. v. 19.12.2018


Tenor:

I. Die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 14.02.2017 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob der Kläger gegen die Beklagte aufgrund seines Antrags vom 27.10.2015 Anspruch auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung hat.

Der 1959 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Ein in der Zeit von 1979 bis 1982 durchgeführtes Studium der Betriebswirtschaftslehre wurde aus gesundheitlichen Gründen (schwere Depression mit Suizidversuch) abgebrochen. Der Kläger hat in der Folgezeit verschiedene Tätigkeiten verrichtet, jeweils unterbrochen durch längere Zeiten der Arbeitslosigkeit. Zuletzt war der Kläger im Jahr 2012 als Paketsortierer geringfügig beschäftigt. Seit 01.11.2012 bestand Arbeitslosigkeit bzw. Arbeitsunfähigkeit. Ein Grad der Behinderung (GdB) von 50 ist zwischenzeitlich zuerkannt (Bescheid des Zentrum Bayern Familie und Soziales - ZBFS - Region Mittelfranken, Versorgungsamt Nürnberg vom 03.07.2014).

Am 08.03.2013 beantragte der Kläger bei der Beklagten erstmals die Gewährung von Erwerbsminderungsrente wegen orthopädischer Probleme (Hüfte/Knie/HWS/LWS). Nach Einholung eines orthopädischen Gutachtens von Dr. G. vom 07.05.2013 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 21.05.2013 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30.07.2015 eine Rentengewährung ab. Die hiergegen zum Sozialgericht Nürnberg erhobene Klage, die unter dem Aktenzeichen S 12 R 878/13 geführt wurde, wurde nach Einholung eines orthopädischen Terminsgutachtens von Dr. B. vom 02.12.2013 und eines neurologisch/psychiatrischen Gutachtens von Dr. C. vom 15.05.2014 sowie einer ergänzenden Stellungnahme von Dr. C. vom 07.07.2014 durch Urteil vom 27.11.2014 abgewiesen. Die hierzu beim Bayer. Landessozialgericht eingelegte Berufung (Az L 20 R 91/15) wurde nach Ablehnung des gestellten PKH-Antrags mit Beschluss vom 27.05.2015 mit Schriftsatz des damaligen Prozessbevollmächtigten vom 16.07.2015 mit dem Hinweis zurückgenommen, dass die Rücknahme ausschließlich wirtschaftliche Gründe habe, der Kläger aber nach wie vor davon überzeugt sei, dass ihm Erwerbsminderungsrente zu gewähren sei.

Bereits am 27.10.2015 beantragte der Kläger erneut die Gewährung von Erwerbsminderungsrente und gab hierbei an, sich seit Frühjahr 2012 aufgrund jahrelanger, sich wiederholender heftiger Schmerzzustände und Verschleiß in Hüft- und Kniegelenken, Wirbelsäule, Ellenbogen, Schulter, verschiedenen Sehfehlern und damit einhergehenden Depressionen für erwerbsgemindert zu halten. Er könne nur noch in seinem Privathaushalt und dem der schwerbehinderten Mutter (GdB 90, Mz G, Pflegestufe I) Tätigkeiten verrichten. Vorgelegt wurden hierzu zahlreiche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen und ärztliche Befundberichte, die überwiegend bereits im vorherigen Verfahren vorgelegt worden waren.
Die Beklagte holte ein orthopädisch/sozialmedizinisches Gutachten von Dr. T. ein, die am 11.02.2016 zu dem Ergebnis gelangte, dass der Kläger zwar die letzte Tätigkeit in der Paketabfertigung nur noch unter 3 Stunden, Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes aber noch mindestens 6 Stunden täglich unter Beachtung qualitativer Einschränkungen verrichten könne. Seit der letzten Begutachtung habe sich die Situation des rechten Knies verschlimmert, aktuell sei orthopädischerseits die Indikation zur arthroskopischen Sanierung des Kniegelenkes gestellt worden. Das Ergebnis der anstehenden MRT-Untersuchung bleibe abzuwarten.

Die Beklagte lehnte mit streitgegenständlichem Bescheid vom 23.02.2016 eine Rentengewährung ab. Der Kläger könne Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens 6 Stunden täglich unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen verrichten. Eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) komme trotz des Alters des Klägers nicht in Betracht, da er aufgrund seines beruflichen Werdegangs auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu verweisen sei.

Hiergegen legte der Kläger mit Schreiben vom 11.03.2016 Widerspruch ein und wies darauf hin, dass bei nahezu allen Diagnosen das Ausmaß der Schädigung nicht andeutungsweise erfasst sei. Die vielen Sehfehler seien im Bescheid überhaupt nicht erwähnt, auch die rezidivierenden Depressionen seien im Bescheid ausgeklammert. Bereits im Jahr 2009 sei im Rahmen einer arbeitsamtsärztlichen Untersuchung seine fehlende Einsatzfähigkeit festgestellt worden. Sein Gesundheitszustand habe sich demgegenüber nachhaltig verschlechtert. Nach prüfärztlicher Stellungnahme durch Dr. D. vom 15.04.2015 zu dem mit der Widerspruchsbegründung vorgelegten MRT-Befund des rechten Kniegelenks wies die Beklagte den Widerspruch gegen den Bescheid vom 23.02.2016 mit Widerspruchsbescheid vom 03.05.2016 als unbegründet zurück.

Hiergegen hat der Kläger zunächst fristwahrend am 31.05.2016 Klage zum Sozialgericht Nürnberg (SG) erhoben und mit Schreiben vom 20.06.2016 dahingehend begründet, dass die Beklagte seinen Rentenantrag rein aus orthopädischer Sicht abgelehnt habe. Dies werde seinen zahlreichen gesundheitlichen Einschränkungen nicht gerecht. Er habe heftige Schmerzen bei längerem Sitzen. Tätigkeiten im Wechselrhythmus würden zu stark schmerzhaften Beschwerden in Knie- und Hüftgelenken führen. Bei Tätigkeiten im Sitzen würden die Arme beansprucht, was zu weiteren Schmerzen in den Schultern und Ellenbogenbereichen führe. Durch die Schäden in der Halswirbelsäule seien die Nervenfunktionen beeinträchtigt, was oft zu pelzigen Händen und Taubheitsgefühlen in den Fingerspitzen führe. Vorgelegt wurde hierzu ein Attest des Praktischen Arztes Dr. B. vom 17.06.2016.

Das SG hat die Schwerbehindertenakten des ZBFS zum Verfahren beigezogen und Befundberichte der behandelnden Ärzte des Klägers, nämlich des Praktischen Arztes Dr. B. (mit Fremdbefunden), des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie C. und des Facharztes für Orthopädie Dr. F., eingeholt.

Sodann hat das SG ein orthopädisches Terminsgutachten von Dr. S. eingeholt, der am 14.02.2017 zu folgenden Diagnosen gelangt ist:

- Fehlhaltungen im Bereich der Wirbelsäule mit überwiegend myostatischen belastungsbedingten Beschwerden. Mäßiggradige Funktionseinschränkungen an der Hals
- und Lendenwirbelsäule mit degenerativen Veränderungen und Bandscheibenschäden sowie vereinzelten Stenosen an den Nervenwurzelaustrittskanälen.
- Funktionsbehinderung in beiden Schultergelenken. Verdacht auf Epicondylopathien an beiden Ellbogengelenken. Fingergelenkspolyarthose beidseits mit zeitweiligen Gefühlsstörungen an den Fingern.
- Hüftgelenksbeschwerden beidseits mit allenfalls geringen Funktionseinschränkungen und degenerativen Veränderungen (Aktenlage).
- Funktionsbehinderung beider Kniegelenke mit belastungsbedingten Beschwerden bei stärkerer O-Bein-Fehlstellung. Knorpelschaden beide Kniegelenke mit Menikusschäden. Plattfußbildung beidseits mit Zehenfehlform.
- Rezidivierende depressive Episoden mit chronischem Schmerzsyndrom (Aktenlage).
- Sehstörungen beidseits mit Glaskörpertrübungen.
- Minderung des Ernährungs- und Kräftezustands.

Der Kläger könne auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt unter Beachtung qualitativer Einschränkungen noch mindestens 6 Stunden täglich tätig sein.

Die Wegefähigkeit sei nicht eingeschränkt. Ambulante Heilmaßnahmen seien ausreichend. Es sei nicht zu erwarten, dass sich durch stationäre oder teilstationäre Reha-Maßnahmen das Leistungsvermögen des Klägers wesentlich bessern würde. Die Einholung weiterer Gutachten sei nicht erforderlich.

Das SG hat daraufhin aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 14.02.2017 die Klage mit Urteil vom gleichen Tag als unbegründet abgewiesen. Der Kläger verfüge noch über ein Leistungsvermögen von mehr als 6 Stunden täglich unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen. Trotz der zahlreichen gesundheitlichen Einschränkungen könne eine Minderung des zeitlichen Leistungsvermögens noch nicht festgestellt werden. Dies ergebe sich aus dem Gutachten von Dr. S ...

Zur Begründung der hiergegen am 16.03.2017 zum Bayer. Landessozialgericht eingelegten Berufung trägt der Kläger vor, dass die Begutachtung von Dr. S. seinen umfangreichen Gesundheitsstörungen nicht gerecht werde und auch wesentliche Befunde übersehen worden seien. So seien in der Akte verschiedene Bandscheibenvorfälle dokumentiert. Die Sehstörung sei nicht in die Bewertung einbezogen worden, auch nicht das Ausmaß seiner psychischen Erkrankung und seiner Schmerzerkrankung mit heftigen Schmerzzuständen und Schmerzmitteleinnahme. Die Darstellung seines beruflichen Werdegangs auf Seite 2 des Urteils sei für ihn diskriminierend, weil die gesundheitlichen Einflüsse auf seinen beruflichen Werdegang heruntergespielt worden seien. Schon minimale falsche Bewegungen könnten arthrotische und osteochondrotische Schmerzzustände aktivieren, die dann oft bis zu mehreren Wochen anhalten würden. Der gerichtliche Vorschlag einer Vollzeitbürotätigkeit komme bereits aufgrund der Gesamtheit seiner körperlichen und seelischen Einschränkungen nicht in Betracht, insbesondere aber infolge seiner Sehstörungen nicht. Bereits das arbeitsamtsärztliche Gutachten von Dr. E. aus dem Jahr 2009 habe festgestellt, dass er für Tätigkeiten am PC nicht geeignet sei. Beigefügt waren der Berufungsbegründung Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen von Dr. B. von 2015 bis 04/2017 und weitere ärztliche Unterlagen, u. a. ein Antrag des behandelnden Hausarztes Dr. B. bei der Krankenkasse des Klägers auf Übernahme der Kosten für Cannabis mit der Begründung "alternative Schmerztherapie", dem nach einem Widerspruch des Klägers gegen den ablehnenden Bescheid entsprochen wurde.

Der Senat hat Befundberichte vom Hausarzt und Allgemeinmediziner Dr. B., vom Nervenarzt C., vom Orthopäden Dr. D. sowie von den Augenärzten Dr. E. und Dr. F. eingeholt.

Der Senat hat ein orthopädisches Fachgutachten bei Dr. G. und ein neurologisch/psychiatrisches Gutachten bei Dr. H. in Auftrag gegeben. Zur anberaumten Untersuchung am 25.07.2018 ist der Kläger jedoch nicht erschienen, nachdem Dr. B. mit Fax vom 24.07.2018 dem Senat mitgeteilt hat, dass der Kläger aus gesundheitlichen Gründen den Termin nicht wahrnehmen könne. Eine Begründung hierfür wurde zunächst nicht gegeben, dann auf eine akute Magen-Darm-Erkrankung hingewiesen.

Dr. G. ist schließlich nach Untersuchung des Klägers am 03.09.2018 in seinem orthopädischen Fachgutachten vom 06.09.2018 zu folgenden Diagnosen gelangt:

- Muskuläre Verspannungen im Nacken mit einer leichten Funktionseinschränkung der Halswirbelsäule und wiederkehrenden linksseitigen Zervikobrachialgien bei Verschleiß und Bandscheibenschäden ohne sensomotorische Defizite an den Armen.
- Belastungsminderung und mäßiggradige Funktionseinschränkung der Lendenwirbelsäule bei Verschleiß und Bandscheibenschäden ohne aktuellen Anhalt für eine von der LWS ausgehende Nervenwurzelirritation.
- Engesyndrom der linken Schulter mit einer diskreten Funktionseinschränkung bei degenerativen Veränderungen und einer Läsion der Rotatorenmanschette.
- Beiderseitige belastungsabhängige Kniebeschwerden bei verstärkter Varusachse ohne Funktionseinschränkung bei stabilen Bandverhältnissen und fehlenden Hinweisen für anhaltende Reizerscheinungen.
- Diskrete konzentrische Funktionseinschränkung beider Hüftgelenke bei mäßigen Verschleißerscheinungen rechts mehr als links.
- Beiderseitige Fußfehlstatik und Verbildung der Großzehen.

Dem Kläger sei unter Berücksichtigung der Gesundheitsstörungen zu den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes eine mindestens 6stündige Tätigkeit noch zumutbar. Angezeigt sei eine leichte bis mittelschwere körperliche Tätigkeit in wechselnder Körperhaltung. Zu vermeiden seien länger anhaltende statische Wirbelsäulenzwangshaltungen, längere Tätigkeiten in gebückter, gehockter oder kniender Stellung, besondere Kraftanstrengungen für das linke Schulter- Arm-System, häufige und länger anhaltende Überkopfarbeiten sowie eine Kälte-, Nässe-, Zugluftexposition ohne entsprechenden Bekleidungsschutz. Die Umstellungsfähigkeit des Klägers sei erhalten. Der gesundheitliche Zustand auf orthopädischem Fachgebiet bestehe schon seit geraumer Zeit, eine wesentliche Änderung sei während des Verfahrens nicht eingetreten.

Durchgehend könnten aus orthopädischer Sicht lediglich qualitative Einschränkungen des Leistungsvermögens festgestellt werden. Diese seien dauerhaft. Die Wegefähigkeit des Klägers sei gegeben.

Dr. H. ist in seinem neurologisch/psychiatrischen Fachgutachten vom 05.09.2018 zu folgenden Diagnosen gelangt:

- Chronische Schmerzstörung mit somatischen und psychischen Faktoren.
- Rezidivierende depressive Störung, gegenwärtig leichte Episode.
- Spannungskopfschmerz.

Bei den genannten Gesundheitsstörungen handele es sich um echte psychische Krankheitsbilder. Die depressive Störung sei durch eine Medikation und eine Psychotherapie behandelbar. Die chronische Schmerzstörung werde derzeit mit einem Cannabinoid (Dronabinol) behandelt. Bezüglich der Depression seien die zumutbaren Behandlungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft. Weder die Depression noch die Schmerzstörung seien stationär behandelt worden. Die depressive Störung werde gegenwärtig auch nicht medikamentös behandelt. Unter Berücksichtigung der Gesundheitsstörungen sei dem Kläger noch eine mindestens 6stündige Tätigkeit zumutbar. Es müsse sich um leichte bis gelegentlich mittelschwere Tätigkeit in wechselnder Körperhaltung handeln. Nicht abzuverlangen seien Arbeiten in Wechselschicht, insbesondere Nachtschicht sowie Arbeiten mit besonderer psychischer Belastung und Arbeiten unter hohem Zeitdruck. Das Reaktionsvermögen des Klägers sei aufgrund der Medikation mit Cannabinoiden als einschränkt einzuschätzen. Weitere Einschränkungen auf nervenärztlichem Fachgebiet lägen jedoch nicht vor. Die Umstellungsfähigkeit des Klägers sei gegeben. Der beschriebene Zustand bestehe bereits seit Anfang 2010. Eine wesentliche Änderung sei im Laufe des Verfahrens nicht eingetreten.

Zu den Gutachten hat der Kläger mit Schreiben vom 25.10.2018 ausführlich Stellung genommen und hat weitere AU-Bescheinigungen von Dr. B. vorgelegt.

Der Senat hat von den beiden Sachverständigen Dr. H. und Dr. G. jeweils ergänzende Stellungnahmen zum Schreiben des Klägers vom 25.10.2018 eingeholt:

Dr. H. hat in seiner Stellungnahme vom 12.11.2018 darauf hingewiesen, dass er sich auf die psychiatrischen und neurologischen Befunde zu beschränken habe und es entscheidend auf die Funktionseinschränkungen ankäme, die objektivierbar seien. Der Hinweis des Klägers, dass er unter der Medikation mit Dronabinol den Termin habe einigermaßen gut überstehend können, spreche dafür, dass die Schmerzen und die Psyche durch die Medikation positiv beeinflusst würden, d.h. entweder seien die Schmerzen weitgehend behoben oder die Psyche stabilisiert worden. Dies stelle ja den gewünschten Therapieeffekt dar. Einwendungen des Klägers gegen die durchgeführten Testverfahren seien nicht tragfähig. Den Vorwurf der Aggravation habe er auf den Seiten 26 bis 28 des Gutachtens ausführlich und gut begründet. Die Wegefähigkeit des Klägers habe nicht gesondert geprüft werden müssen, da sich neurologisch keinerlei funktionelle Einschränkungen der Gehfähigkeit gezeigt hätten. Im Rahmen einer stationären psychotherapeutischen/psychosomatischen Behandlung könnte dem Kläger die Möglichkeit gegeben werden, seine Schmerzen besser zu verarbeiten und den Umgang mit ihnen besser zu erlernen. Die vom Kläger hiergegen vorgetragene Verantwortung für Haus und Vorgarten stelle keinen entscheidenden Grund gegen eine stationäre Behandlung dar. Er verbleibe bei seinem gefundenen Ergebnis.

Dr. G. weist in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 21.11.2018 darauf hin, dass er die vorliegenden MRT-Befunde und die daraus folgenden Diagnosen bei seiner Begutachtung beachtet habe und die vom Kläger ihm gegenüber geschilderten Beschwerden handschriftlich notiert und nach der Untersuchung des Klägers sofort abdiktiert habe. Weitere Beschwerden habe der Kläger nicht benannt. Ältere Diagnosen und irgendwann eingenommene Medikamente würden für die aktuelle Leistungsbeurteilung keine Rolle spielen. Es lasse sich eine quantitative Leistungsminderung des Klägers ebenso wenig begründen wie eine eingeschränkte Wegefähigkeit.

Zu den ergänzenden Stellungnahmen von Dr. H. und Dr. G. hat der Kläger nochmals mit Schreiben vom 11.12.2018 darauf hingewiesen, dass den Gutachten nicht zu folgen sei, weil sie wesentliche Aspekte seiner Erkrankung nicht, nur unzutreffend oder nicht mit der Beachtung der notwendigen Verlaufskontrolle erfassen würden. Bei ihm liege eine volle Erwerbsminderung auf Dauer vor. Zu dem Termin zur mündlichen Verhandlung werde er aus wirtschaftlichen Gründen nicht erscheinen können. Außerdem sei nicht klar, wie sich seine derzeit schlechte gesundheitliche Situation bis dahin weiterentwickle. Er stehe zur Zeit wegen sich oft wiederholender Magen-Darm-Probleme in medikamentöser Behandlung (mit Perenterol) bei seinem Hausarzt Dr. B ...

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 14.02.2017 sowie den Bescheid der Beklagten vom 23.02.2016 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 03.05.2016 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger auf seinen Antrag vom 27.10.2015 hin Rente wegen voller, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 14.02.2017 zurückzuweisen.

Bezüglich der Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Rentenakten der Beklagten, die Gerichtsakten des SG Nürnberg mit dem Aktenzeiten S 12 R 878/13 sowie die Gerichtsakten erster und zweiter Instanz verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung ist zulässig (§§ 143, 144, 151 Sozialgerichtsgesetz - SGG -). Sie ist jedoch unbegründet. Der Kläger hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf eine Erwerbsminderungsrente nach § 43 SGB VI. Eine rentenrechtlich relevante zeitliche Einschränkung des Leistungsvermögens auf unter 6 Stunden täglich ist nicht nachgewiesen.

Gemäß § 43 Abs 1 SGB VI haben Versicherte bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung, wenn sie

1. teilweise erwerbsgemindert sind,
2. in den letzten 5 Jahren vor Eintritt der Erwerbsminderung 3 Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Tätigkeit oder Beschäftigung haben und
3. vor Eintritt der Erwerbsminderung die allgemeine Wartezeit erfüllt haben.

Teilweise erwerbsgemindert sind gemäß § 43 Abs 1 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes für mindestens 6 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung haben nach § 43 Abs 2 Satz 2 SGB VI Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens 3 Stunden täglich erwerbstätig zu sein.

Ausweislich des vorliegenden Versicherungsverlaufs vom 22.05.2018 erfüllt der Kläger aktuell die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für eine Erwerbsminderungsrente. Nach Pflichtbeitragszeiten bis Oktober 2012 (trotz nur geringfügiger Beschäftigung) steht er seitdem im durchgehenden Bezug von Arbeitslosengeld II. Zusätzlich ist noch eine Pflichtversicherung wegen Pflegetätigkeit von 02 bis 04/2016 vermerkt.

Der Kläger erfüllt jedoch nicht die medizinischen Voraussetzungen für die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. Ein zeitlich auf unter 6 Stunden täglich abgesunkenes Leistungsvermögen des Klägers ist nicht nachgewiesen.

Zur Überzeugung des Senats steht fest, dass der Kläger trotz der bei ihm bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen noch in der Lage ist, Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes im Umfang von mindestens 6 Stunden täglich unter Beachtung qualitativer Leistungseinschränkungen zu verrichten. Es muss sich hierbei um leichte, gelegentlich mittelschwere Tätigkeiten im Wechselrhythmus ohne Zwangshaltungen, ohne besondere Kraftanstrengung des linken Schulter-Arm-Systems, ohne häufige und länger dauernde Überkopfarbeiten und ohne Witterungseinflüsse ohne besonderen Bekleidungsschutz handeln. Der Kläger kann auch Tätigkeiten mit besonderer nervlicher Belastung (Schicht/hoher Zeitdruck) nicht verrichten. Aufgrund der Cannabis-Behandlung ist das Reaktionsvermögen des Klägers zusätzlich gegenwärtig eingeschränkt.

Der Senat stützt seine Überzeugung auf die im Verfahren eingeholten Gutachten, insbesondere auf die Gutachten von Dr. G. und Dr. H. im Berufungsverfahren. Alle im Verfahren eingeholten Sachverständigengutachten kommen zu einem mindestens 6stündigen Leistungsvermögen des Klägers, beginnend mit Dr. T. im sozialmedizinischen Gutachten vom 11.02.2016, Dr. S. im orthopädischen Gutachten vom 14.02.2017 im sozialgerichtlichen Verfahren und jetzt Dr. G. und Dr. H. im Berufungsverfahren. Zudem hatten auch im Rahmen des vorhergehenden Antrags auf Zuerkennung einer Erwerbsminderungsrente vom 08.03.2013 nur negative Gutachten vorgelegen (Dr. G., Dr. B. und Dr. C.).

Die gesundheitlichen Einschränkungen des Klägers liegen in erster Linie auf orthopädischem Fachgebiet, daneben auf psychiatrischem und schmerztherapeutischem Gebiet.

Auf orthopädischem Fachgebiet kommen alle eingeholten Sachverständigengutachten nur zu dem Ergebnis, dass an verschiedenen Stellen des Bewegungsapparates, insbesondere an der linken Schulter und am rechten Knie, zwar Abnutzungserscheinungen vorhanden sind, diese aber lediglich zu qualitativen Einschränkungen hinsichtlich der Schwere der Tätigkeit und der Haltungsanforderungen führen. Die behandelnden Orthopäden beschreiben ebenfalls keine weitergehenden Einschränkungen oder neue Erkrankungen. Die linke Schulter wird mit Krankengymnastik behandelt, zusätzlich führt der Kläger nach eigenen Angaben jeden Tag ein krankengymnastisches Eigenübungsprogramm einschließlich Yoga- und Atemübungen durch.

Auf neurologisch/psychiatrischem Fachgebiet wurden rezidivierende depressive Episoden unterschiedlichen Schweregrades (leicht- bis mittelgradig, zuletzt bei Dr. H. leichtgradig oder nur Dysthymie) sowie eine somatoforme Schmerzstörung und eine Persönlichkeitsstörung oder -akzentuierung diagnostiziert. Dr. H. hat dabei in seinem Gutachten eine ausführliche Testung und Testvalidierung durchgeführt, die zeigt, dass der Kläger sich selbst als schwer depressiv und schwer schmerzgeschädigt sieht, dass dies aber weder in den Testverfahren noch in der Untersuchungssituation zum Ausdruck kam. Es fanden sich keinerlei Einschränkungen der kognitiven Fähigkeiten (in mehreren Tests wurde die volle Punktzahl erreicht), auch die Umstellungsfähigkeit des Klägers war vollständig erhalten. Im Beschwerdevalidierungstest kam nur eine leichte Depression zur Darstellung. Das Schmerzgesehen, vom Kläger mit Stärke 7 bis 10 von 10 angegeben, konnte nicht validiert und auch in der Untersuchungssituation nicht beobachtet werden. Dr. H. dokumentiert eine Beschwerdeverdeutlichung und Aggravation. Der Kläger hat zu keiner Zeit der Untersuchung besonders schmerzgeplagt gewirkt und weder durch Gestik, noch durch Mimik oder durch Schmerzäußerungen beim Entkleiden und Ankleiden hatte sich eine schmerzhafte Beeinträchtigung feststellen lassen, was bei einer Schmerzstärke von 7/10 aber zu erwarten gewesen wäre. Soweit der Kläger im Nachgang zum Gutachten von Dr. H. darauf hingewiesen hatte, dass er vor der Untersuchung ein Cannabinoid eingenommen und deshalb die Untersuchung einigermaßen habe überstehen können, hat er dies dem Sachverständigen vor der Untersuchung nicht mitgeteilt. Vielmehr hat er dort angegeben, dass er Dronabinol abends einnehme. Selten nehme er noch Tramadol, Ibuflam 600 nehme er nicht mehr. Vergleichbare Angaben wurden vom Kläger gegenüber Dr. G. gemacht. Auch hier hatte er nicht darauf hingewiesen, dass er aktuell vor der Untersuchung ein Cannabinoid eingenommen habe.

Dr. H. verweist in Bezug auf die Schmerzproblematik im Übrigen auch auf die MDK-Gutachten bezüglich der Cannabis-Verordnung. Während der MDK zuerst mangels ausgeschöpfter Behandlung der Schmerzerkrankung die Kostenübernahme abgelehnt hatte, wurde ein halbes Jahr später wegen "Therapieausschöpfung" doch einer Kostenübernahme zugestimmt. Der Antrag des Hausarztes erfolgte kurz nach Einführung des § 31 Abs 6 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch - SGB V - und ohne dass offensichtlich die Frage einer bestehenden oder früheren Suchterkrankung ausreichend abgeklärt wurde. Dr. H. hat darauf hingewiesen, dass von einem Ausschöpfen der Therapiemöglichkeiten der Schmerzerkrankung keine Rede sein könne. Der Kläger hat keine Psychotherapie absolviert, eine Psychopharmakotherapie findet nicht statt. Er war noch nie in stationärer Behandlung wegen der Psyche bzw. der Schmerzerkrankung. Der Hinweis des Klägers, dass er wegen seiner bestehenden Verantwortung als Miteigentümer seines Einfamilienhauses mit Vorgarten und zwei Hauskatzen nicht in stationäre Behandlung könne, ist insoweit unbeachtlich. Der Kläger stellt sich nach seinen eigenen Angaben lediglich einmal pro Quartal bei seinem Nervenarzt C. vor und spricht mit diesem oder füllt einen Test aus. Cannabis wird dem Kläger von seinem Hausarzt Dr. B. verordnet und verabreicht, der den Kläger auch ständig arbeitsunfähig schreibt.

Eine leitliniengerechte Therapie der Schmerzerkrankung und der psychischen Einschränkung hat bis heute nicht stattgefunden, obwohl der Kläger angibt, unter massiven Einschränkungen infolge dieser Erkrankungen seit mindestens 10 Jahren zu leiden. Dr. H. weist insoweit in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 12.11.2018 zutreffend darauf hin, dass ein erheblicher Leidensdruck beim Kläger offensichtlich nicht vorhanden sein kann. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) und des Senats werden psychische Erkrankungen erst dann rentenrechtlich relevant, wenn trotz adäquater Behandlung (medikamentös, therapeutisch, ambulant oder stationär) davon auszugehen ist, dass der Versicherte die psychischen Einschränkungen weder aus eigener Kraft noch mit ärztlicher oder therapeutischer Hilfe dauerhaft überwinden kann (BSG Urteil vom 12.09.1990 - 5 RJ 88/89; BSG Urteil vom 29.03.2006 - B 13 RJ 31/05 R - jeweils zitiert nach juris; BayLSG Urteil vom 12.10.2011 - L 19 R 738/08; BayLSG Urteil vom 30.11.2011 - L 20 R 229/08; BayLSG Urteil vom 18.01.2012 - L 20 R 979/09; BayLSG Urteil vom 15.02.2012 - L 19 R 774/06; BayLSG Urteil vom 21.03.2012 - L 19 R 35/08; BayLSG Urteil vom 15.01.2015 - L 20 R 980/08; BayLSG vom 24.05.2017 - L 19 R 1047/14).

Der Senat hat auch die Einholung eines augenärztlichen Gutachtens gegenwärtig nicht für erforderlich gehalten. Die behandelnden Augenärzte Dr. E. und Dr. F. beschreiben zwar eine Augenerkrankung des Klägers, gleichwohl ist noch ein Visus von 0,5 auf beiden Augen vorhanden. Eine akute Behandlungsnotwendigkeit wurde nicht gesehen, auch keine Verschlimmerung dokumentiert. Relevante Gesichtsfeldausfälle waren neurologisch nicht feststellbar. Der Kläger gibt an, jetzt mit einer Gleitsichtbrille versorgt zu sein.

Auch aus dem bei Dr. H. geschilderten Tagesablauf ergeben sich keine Hinweise auf ein unter 6 Stunden täglich abgesunkenes Leistungsvermögen. Der Kläger hat bei Dr. H. angegeben, dass er ca. 2 Stunden am PC sitzen, lesen und damit auch Filme ansehen könnte und er erst dann Probleme bekomme. Der Kläger kann ohne relevante Einschränkungen auch längere Fahrradtouren unternehmen und offensichtlich auch ohne Einschränkungen seinen Haushalt, seinen Garten und seine Verwaltungsangelegenheiten erledigen. Er pflegt weiterhin soziale Kontakte. Eine relevante Einschränkung der sozialen Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit im rentenrechtlichen Sinne lässt sich hieraus ebenfalls nicht ableiten.

Nach alledem ist ein Nachweis eines auf unter 6 Stunden täglich abgesunkenen Leistungsvermögens des Klägers für Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes im Sinne des § 43 SGB VI nicht geführt worden. Das SG hat bereits zutreffend ausgeführt, dass ein Anspruch auf eine Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit nach § 240 SGB VI aufgrund des beruflichen Werdegangs des Klägers nicht in Betracht kommt. Er muss sich auf den allgemeinen Arbeitsmarkt verweisen lassen, für den noch ein mindestens 6stündiges Leistungsvermögen besteht.

Die Berufung gegen das Urteil des SG Nürnberg vom 14.02.2017 ist deshalb als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn 1 und 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.

RechtsgebietSGB VIVorschriften§ 43 Abs. 1 SGB VI; § 43 Abs. 2 SGB VI