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04.05.2017 · IWW-Abrufnummer 193673

Sozialgericht Karlsruhe: Urteil vom 23.03.2017 – S 1 SB 2687/16

Das Gericht kann einen Beweisantrag auf Einholung eines Gutachtens bei dem Arzt des Vertrauens des Klägers ablehnen, wenn dieser innerhalb einer hierzu gesetzten Frist nicht nachweist, dass der als Sachverständige benannte Arzt bereit und in der Lage ist, das Gutachten innerhalb einer angemessenen Frist zu erstatten und vorzulegen.

Angemessen ist eine Frist von drei Monaten seit Erteilung des Gutachtensauftrags.


S 1 SB 2687/16
 
Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
 
Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist umstritten, ob der Beklagte den Grad der Behinderung (GdB) im Sinne des Sozialgesetzbuchs - Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen - (SGB IX) wegen Eintritts von Heilungsbewährung einer Darmerkrankung zu Recht von bislang 80 auf 20 herabgesetzt hat.

Bei dem 1957 geborenen Kläger hatte das Landratsamt K.  (LRA) ab dem 24.03.2010 einen GdB von 80 anerkannt unter Berücksichtigung von Dickdarmerkrankung (in Heilungsbewährung) als Funktionsbeeinträchtigung (Bescheid vom 09.06.2010). Zugrunde lag dem eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. C..

Ein Antrag des Klägers auf Höherbewertung des GdB vom August 2013 blieb nach weiterer medizinischer Sachaufklärung aufgrund einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. S. erfolglos: Trotz Berücksichtigung von
- Refluxkrankheit der Speiseröhre
- Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden
- chronische Bronchitis
als weitere Funktionsbeeinträchtigungen mit einem Teil-GdB von jeweils 10 sei im Gesundheitszustand keine wesentliche Änderung eingetreten (Bescheid vom 24.10.2013).

Im April 2015 leitete das LRA von Amts wegen eine Nachprüfung der Höhe des GdB ein. Hierzu holte es Befundberichte des Allgemeinmediziners Dr. G. und des Gastroenterologen Dr. B. ein, die jeweils u.a. angaben, sie hätten keine Hinweise auf Rezidive oder Metastasen der Darmerkrankung objektiviert. Die Versorgungsärztin Dr. P. empfahl daraufhin, den Teil-GdB für den Teilverlust des Dickdarms unter zusätzlicher Berücksichtigung von „Verdauungsstörungen“ auf 20 herabzusetzen. Unter weiterer Berücksichtigung einer „depressiven Verstimmung“ mit einem Teil-GdB von 10 sei kein höherer Gesamt-GdB als 20 zu begründen. Nach Anhörung des Klägers (Schreiben vom 04.08.2015), eines erneuten Befundberichts von Dr. B. und einer versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. Bü. hob das LRA den Bescheid vom 09.06.2010 auf und setzte den GdB ab dem 21.11.2015 auf - noch - 20 herab. Als Funktionsbeeinträchtigungen berücksichtigte es nunmehr:

- Teilverlust  des Dickdarms, Verdauungsstörungen             Teil-GdB 20
- Refluxkrankheit der Speiseröhre                        Teil-GdB 10
- Funktionsbehinderung der Wirbelsäule, Bandscheibenschaden        Teil-GdB 10
- chronische Bronchitis                            Teil-GdB 10
- depressive Verstimmung                            Teil-GdB 10

(Bescheid vom 18.11.2015).

Zur Begründung seines dagegen erhobenen Widerspruchs trug der Kläger im  Wesentlichen vor, das LRA habe das Ausmaß seiner Gesundheitsstörungen nicht ausreichend gewürdigt. Infolge der Darmoperation leide er an ständigen und unvermittelt auftretenden Durchfallerscheinungen. Diese träten auch nachts auf. Außerdem bestünden Verwachsungsbeschwerden des Darms, was das LRA ebenfalls nicht berücksichtigt habe. Insgesamt sei für diesen Funktionenkomplex ein Teil-GdB von 30 angemessen. Die Refluxkrankheit der Speiseröhre rechtfertige bei anhaltenden Beschwerden trotz medikamentöser Therapie einen Teil-GdB von 20. Dieser Teil-GdB sei auch für seinen Wirbelsäulenschaden angesichts eines spondylogenen Schmerzsyndroms bei ausgeprägter Spondylose und Spondylarthrose und der Notwendigkeit der regelmäßigen Einnahme nichtsteroidaler Antirheumatika angemessen. Wegen seiner depressiven Erkrankung sei ebenfalls eine medikamentöse Behandlung erforderlich; zudem befinde er sich in regelmäßiger Verhaltenstherapie, weshalb der Teil-GdB für diese Funktionsstörung mit 20 zu bemessen sei. Der Beklagte wies den Widerspruch, gestützt auf eine versorgungsärztliche Stellungnahme von Dr. St., zurück (Widerspruchsbescheid vom 30.06.2016, den Prozessbevollmächtigten am 07.07.2016 zugegangen.

Deswegen hat der Kläger am  08.08.2016, einem Montag, Klage zum Sozialgericht K.  erhoben, mit der er sein Begehren weiterverfolgt. Ergänzend zu seiner Widerspruchsbegründung trägt er vor, er befinde sich zwischenzeitlich auch wegen eines Schultergelenksleidens links in ärztlicher Behandlung. Er könne den Arm u.a. nicht bis zur Horizontale anheben.

Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung schriftlicher Auskünfte des Dr. G. und des Orthopäden Dr. Bö. als sachverständige Zeugen:
Dr. G. hat bekundet, der Kläger leide seit der Darmoperation an chronischen Durchfallerscheinungen. Bzgl. der Karzinomerkrankung sei bislang kein Rezidiv aufgetreten. Ein Malabsorptionssyndrom gegenüber Eisen, Kalzium und Vitamin D erfordere eine regelmäßige medikamentöse Substitution. Außerdem leide der Kläger an einem chronischen Schmerzsyndrom des Stütz- und Bewegungsapparats. Wegen eines depressiven Erschöpfungszustandes erfolgten in seiner Praxis regelmäßige gesprächstherapeutische Sitzungen. Seiner Auskunft hat Dr. G. weitere Arztunterlagen beigefügt, u.a. Arztbriefe des Dr. B., der Radiologischen Gemeinschaftspraxis E. und des Dr. Bö..

Dr. Bö. hat mitgeteilt, er habe den Kläger zwischen März und November 2016 dreimal wegen Schulterbeschwerden links behandelt. Zuletzt habe er im August 2016 einen painful arc mit deutlich reduziertem Schürzengriff objektiviert. Den Nackengriff habe der Kläger mit Ausweichbewegung noch ausführen können. Die Behandlung sei konservativ erfolgt. Das von ihm als Gesundheitsstörung diagnostizierte Impingement-Syndrom links verursache eine lediglich temporäre funktionelle Störung und rechtfertige keinen Teil-GdB.

Mit Schriftsatz vom 14.12.2016 hat der Kläger beantragt, gemäß § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) auf eigenes Kostenrisiko ein medizinisches Sachverständigengutachten bei dem Orthopäden Dr. J. , K. , einzuholen. Die Kammer hat ihm daraufhin aufgegeben, bis zum 25.01.2017 einen Kostenvorschuss in Höhe von 1.500,-- €  einzuzahlen, eine Kostenverpflichtungserklärung und einen Nachweis über die Bereitschaft des als Sachverständigen benannten Arztes vorzulegen, das Gutachten innerhalb einer Frist von drei Monaten nach Erteilung des Gutachtensauftrags zu erstellen und vorzulegen. Die Kammer hat den Kläger außerdem darauf hingewiesen, der Gutachtensauftrag werde nicht erteilt, sofern er die Auflagen nicht, nicht fristgerecht oder nur teilweise erfülle. Innerhalb der ihm hierzu eingeräumten Frist hat der Kläger lediglich den Kostenvorschuss einbezahlt und eine von ihm unterzeichnete Kostenverpflichtungserklärung vorgelegt.

Er beantragt,

den Bescheid vom 18. November 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 30. Juni 2016 abzuändern und den Beklagten zu verurteilen, seinen Grad der Behinderung ab dem 21. November 2015 mit 50 festzusetzen,
hilfsweise, gemäß § 109 SGG ein medizinisches Sachverständigengutachten bei Dr. J. , K. , einzuholen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er erachtet die angefochtenen Bescheide für zutreffend.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt er vorliegenden Verwaltungsakte des Beklagten sowie den er Prozessakte Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Verpflichtungsklage (§ 54 Abs. 1 S. 1 SGG; vgl. insoweit BSG vom 11.08.2015 - B 9 SB 2/14 R -, Rdnr. 7 und BSG vom 16.03.2016 - B 9 SB 1/15 R -, Rdnr. 9 <jeweils Juris>) zulässig, aber unbegründet. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig und verletzen den Kläger nicht ins einen Rechten (§ 54 Abs. 2 S. 1 SGG). Zu Recht hat der Beklagte den GdB wegen Eintritts von Heilungsbewährung in Bezug auf die Darmkrebserkrankung von bislang 80 auf nunmehr - noch - 20 herabgesetzt.     

1.     Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgesetzbuches - Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz - (SGB X) i.V.m. § 69 Abs. 1 Satz 3 SGB IX ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsakts mit Dauerwirkung - hier: derjenige vom 09.06.2010 - vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben. Eine Änderung der tatsächlichen Verhältnisse - die hier allein in Betracht kommende Alternative - liegt vor, wenn sich durch das Hinzutreten neuer Funktionsstörungen oder eine Verschlimmerung der anerkannten Funktionsstörungen der Gesundheitszustand des Behinderten verschlechtert oder er sich durch den Wegfall von Funktionsstörungen oder eine Besserung bereits anerkannter Funktionsstörungen gebessert hat. Ob dies der Fall ist, ist durch einen Vergleich der für die letzte, bindend gewordene Feststellung maßgebend gewesenen Befunde und Krankheitsäußerungen mit den jetzt vorliegenden Befunden zu ermitteln (vgl. BSG SozR 3-1500 § 54 Nr. 18 und SozR 3-3870 § 4 Nr. 13). Wesentlich ist eine Änderung der Verhältnisse, wenn aus dieser eine Erhöhung oder Herabsetzung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 folgt (vgl. BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 24; BSG vom 11.11.2004 - B 9 SB 1/03 R - und vom 17.04.2013 - B 9 SB 3/12 R - <jeweils Juris>), denn der GdB ist gemäß § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX nach Zehnergraden abgestuft festzustellen.

Eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse liegt darüber hinaus bei Gesundheitsstörungen, bei denen zunächst ein gewisser Zeitraum abgewartet werden muss, um feststellen zu können, ob sich der Gesundheitszustand zwischenzeitlich stabilisiert hat (sog. Heilungsbewährung) dann vor, wenn nach Ablauf dieser Zeitspanne die Stabilisierung tatsächlich eingetreten ist (ständige Rechtsprechung; vgl. u.a. BSG SozR 3-1300 § 48 Nr. 60; BSG SozR 3-3870 § 3 Nrn. 5 und 7 sowie a.a.O., § 4 Nr. 21 und BSG SozR 3870 § 4 Nr. 3 m.w.N.; siehe auch Teil A Nr. 7 b) der Anlage zu § 2 der Versorgungsmedizin-Verordnung vom 10.12.2008 <BGBl. I Seite 2412>). Während der Dauer der Heilungsbewährung wird der GdB - unabhängig vom tatsächlichen Ausmaß der Gesundheitsstörung - regelmäßig höher bewertet als es dem reinen Organbefund entspricht (vgl. Teil A Nr. 2 h) der versorgungsmedizinischen Grundsätze <VG>). Erst nach Ablauf der Heilungsbewährung wird der GdB entsprechend dem verbliebenen Ausmaß der Funktionseinschränkung festgesetzt. Dementsprechend sehen die seit dem 01.01.2009 maßgebenden (§ 70 Abs. 2 i.V.m. § 159 Abs. 7 SGB IX in der seit dem 15.01.2015 geltenden Fassung des Gesetzes zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates über einen Dreigliedrigen Sozialgipfel für Wachstum und Beschäftigung und zur Aufhebung des Beschlusses 2003/174/EG vom 07.01.2015 <BGBl. II Seite 15> und § 70 Abs. 2 in der seit dem 30.12.2016 gültigen Fassung des Bundesteilhabegesetzes vom 23.12.2016 <BGBl. I Seite 3234; für die Zeit bis zum 14.01.2015 vgl. § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX a.F.), aufgrund der Ermächtigung in § 30 Abs. 16 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erlassenen Bewertungsmaßstäbe der Anlage 2 zur VMV in Teil B Nr. 10.2.2 nach Entfernung bösartiger Darmtumore (vgl. Teil B Nr. 1 c) VG) im Stadium - wie hier - T 3 N0 L0 V0 eine Heilungsbewährung von 5 Jahren vor. Während dieser Zeitspanne ist der GdB mit wenigstens 80 festzusetzen.

Der Begriff der Heilungsbewährung beschreibt nicht nur, dass nach Ablauf der Bewährungszeit keine erhebliche Rezidivgefahr mehr besteht. Die Heilungsbewährung erfasst daneben auch die vielfältigen Auswirkungen, die mit der Feststellung, Beseitigung und Nachbehandlung des Tumors in allen Lebensbereichen verbunden sind. Dies rechtfertigt es nach der in den VG zusammengefassten sozial-medizinischen Erfahrung, bei Krebskrankheiten nicht nur den Organverlust zu bewerten, sondern unter Berücksichtigung der Krebserkrankung als solcher einen GdB von mindestens 80 anzunehmen und Krebskranken damit unterschiedslos zunächst den Schwerbehindertenstatus zuzubilligen. Diese umfassende Berücksichtigung körperlicher und seelischer Auswirkungen der Erkrankung nötigt andererseits dazu, den GdB herabzusetzen, wenn die Krebskrankheit nach rückfallfreiem Ablauf von fünf Jahren aufgrund medizinischer Erfahrungen mit hoher Wahrscheinlichkeit überwunden ist und außer der unmittelbaren Lebensbedrohung damit auch die vielfältigen Auswirkungen der Krankheit auf die gesamte Lebensführung entfallen sind (vgl. BSG vom 09.08.1995 – 9 RVs 14/94 – <Juris>).

Für die Feststellung des GdB sind für die Verwaltung und die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit gleichermaßen seit dem 01.01.2009 die Bewertungsmaßstäbe der Anlage zu § 2 der aufgrund der Ermächtigung in § 30 Abs. 16 (bis zum 30.06.2011: Abs. 17) des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erlassenen Versorgungsmedizin-Verordnung (VMV) vom 10.12.2008 (BGBl. I Seite 2412) in der Fassung der Fünften Änderungs-Verordnung vom 11.10.2012 (BGBl. I Seite 2122), gültig ab dem 17.10.2012, maßgebend (§ 70 Abs. 2 i.V.m. § 159 Abs. 7 SGB IX in der seit dem 15.01.2015 geltenden Fassung des Gesetzes zum Vorschlag für einen Beschluss des Rates über einen Dreigliedrigen Sozialgipfel für Wachstum und Beschäftigung und zur Aufhebung des Beschlusses 2003/174/EG vom 07.01.2015 <BGBl. II Seite 15> und § 70 Abs. 2 in der seit dem 30.12.2016 gültigen Fassung des Bundesteilhabegesetzes vom 23.12.2016 <BGBl. I S. 3234>; für die Zeit bis zum 14.01.2015 vgl. § 69 Abs. 1 Satz 5 SGB IX a.F.). Die versorgungsmedizinischen Grundsätze (VG) stellen ebenso wie die bis zum 31.12.2008 gültig gewesenen „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht“ antizipierte Sachverständigengutachten dar (vgl. BSG vom 16.03.2016 - B 9 SB 85/15 B -, Rn. 6, vom 29.02.2016 - B 9 SB 91/15 B -, Rn. 7 <jeweils Juris>; ferner BSG SozR 4-3250 § 69 Nr. 19, Rn. 12 und BSG SozR 4-3250 § 69 Nr. 18, Rn. 10; vgl. zur Rechtslage nach dem früheren Schwerbehindertengesetz: BSG SozR 3-3870 § 4 Nr. 19, Rn. 14 und BVerfG SozR 3-3870 § 3 Nr. 6, Rn. 7), die den medizinischen Kenntnistand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (vgl. BSG vom 02.12.2010 - B 9 SB 4/10 R -, Rn. 20 <Juris>) und nicht nur die Regelungen der §§ 69 und 70 SGB IX konkretisieren, sondern auch den Behinderungsbegriff der „Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit und Behinderung“ (deren Weiterentwicklung wurde im Mai 2001 von der Weltgesundheitsorganisation als ICF verabschiedet) als Grundlage des Bewertungssystems berücksichtigen. Dadurch wird eine für den behinderten Menschen nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht (vgl. LSG Baden-Württemberg vom 23.07.2010 - L 8 SB 1372/10 - <unveröffentlicht>). Die VG bezwecken darüber hinaus eine möglichst gleichmäßige Anwendung der Bewertungsmaßstäbe im Bundesgebiet und dienen so auch dem Ziel des einheitlichen Verwaltungshandelns und der Gleichbehandlung (vgl. Bay. LSG, Breithaupt 2011, 68 ff).

2.     Orientiert an diesen Rechtsgrundlagen und Beurteilungsmaßstäben sind die angefochtenen Bescheide - entgegen der Auffassung des Klägers - nicht zu beanstanden.

a)     In Bezug auf den Teilverlust des Dickdarms nach Entfernung eines Darmkarzinoms im März 2010 ist zwischenzeitlich Heilungsbewährung eingetreten. Dies steht zur Überzeugung der Kammer (§ 128 Abs. 1 S. 1 SGG) fest aufgrund der aktenkundigen Befundberichte der Dres. G. und B. und der Bekundungen von Dr. G. als sachverständiger Zeuge. Danach haben die von ihnen durchgeführten Untersuchungen des Klägers keinen Hinweis für ein Tumorrezidiv oder Metastasen an anderen Organen ergeben. Zwar leidet der Kläger als Folge der Darmerkrankung an Schmerzen infolge von Verwachsungsbeschwerden im Darm und einer erhöhten Stuhlfrequenz, wie die Dres. G. und B. ebenfalls glaubhaft bestätigt haben. Nach dem Befundbericht des Dr. B. vom 06.10.2015 ist indes der Allgemein- und Ernährungszustand des Klägers altersentsprechend normal ausgeprägt. Hiervon konnte sich die Kammer auch in der mündlichen Verhandlung am 23.03.2017 durch Augenscheinseinnahme des anwesenden Klägers überzeugen. Vor diesem Hintergrund ist die Zuerkennung des Teil-GdB von 80 nach Ablauf der Heilungsbewährungszeit nicht mehr gerechtfertigt. Diesen hat der Beklagte vielmehr zu Recht auf 20 (vgl. Teil B Nr. 10.2.2 VG) herabgesetzt. Auch insoweit schließt sich die Kammer den - im Ergebnis - übereinstimmenden Beurteilungen der Versorgungsärzte Dres. P., Bü. und St. an. Soweit Dr. G. auf die Notwendigkeit einer regelmäßigen Substitution eines Malabsorptionssyndroms gegenüber Eisen, Kalzium und Vitamin D hinweist, führt dies zu keiner Erhöhung dieses Teil-GdB; denn hierdurch wird die Teilhabebeeinträchtigung des Klägers nicht messbar verändert.

b)     Die Refluxkrankheit der Speiseröhre rechtfertigt keinen höheren Teil-GdB als 10 (vgl. Teil B Nr. 10.1 VG). Denn diese Gesundheitsstörung ist nach dem Gastroskopie-Bericht des Dr. B. vom 25.08.2015 nur leichtgradig ausgeprägt mit geringer Entzündungsaktivität. Diese Gesundheitsstörung ist überdies mit einem Protonenpumpenblocker adäquat behandelbar, wie der Kammer aus vergleichbaren Rechtsstreitigkeiten hinreichend bekannt ist. Auf diese Behandlungsmöglichkeit hatte Dr. G. überdies bereits in seinem Befundbericht vom 22.08.2013 hingewiesen.

c)     In Bezug auf die Funktionsbeeinträchtigung der Wirbelsäule mit Bandscheibenschaden im Bereich der Halswirbelsäule bestehen nur beginnende degenerative Veränderungen und gering ausgeprägte Bandscheibenprotrusionen und Unkarthrosen ohne eindeutige neuronale Kompromittierung, wie sich aus dem Arztbrief der Radiologischen Gemeinschaftspraxis E. vom 06.02.2016 ergibt. Hieraus resultierende Funktionseinschränkung, sei es der Halswirbelsäule selbst, sei es in den übrigen Wirbelsäulenabschnitten, hat keiner der den Kläger behandelnden Ärzte mitgeteilt. Solche ergeben sich auch nicht aus den weiteren aktenkundigen medizinischen Unterlagen. Überdies findet in Bezug auf das Wirbelsäulenleiden offenbar aktuell keine fachärztliche orthopädische Behandlung statt. Denn letztmals hat sich der Kläger bei Dr. Bö. im August 2016 vorgestellt. Der Teil-GdB von 10 (vgl. Teil B Nr. 18.9 VG) berücksichtigt in hinreichendem Umfang auch die notwendige regelmäßige Einnahme nichtsteroidaler Antirheumatika. Entsprechende Befunde hatte Dr. G. im Übrigen schon im Arztbrief vom August 2013 mitgeteilt.

d)     Bei Nikotinabusus des Klägers treten nach dem Befundbericht von Dr. G. vom Juni 2015 zwei- bis dreimal jährlich Infekt-Exazerbationen einer chronischen Bronchitis auf, die der sachverständige Zeuge mit Antibiotika behandelt. Eine überdauernde Einschränkung der Lungenfunktion hat Dr. G. nicht mitgeteilt. Auch steht der Kläger aktuell nicht in fachärztlicher Behandlung bei einem Pneumologen. Daher ist der vom Beklagten zuerkannte Teil-GdB von 10 nicht zu beanstanden (vgl. Teil B Nr. 8.2 VG). Dies räumt der Kläger in seiner Widerspruchsbegründung selbst ein.

e)     Auch die depressive Verstimmung hat der Beklagte mit einem Teil-GdB von 10 zutreffend (vgl. Teil B Nr. 3.7) bewertet, nachdem neben regelmäßigen Gesprächen des Klägers mit seinem Hausarzt Dr. G. keine fachärztliche Behandlung durch einen Neurologen und/oder Psychiater stattfindet. Deshalb ist - entgegen der Einschätzung von Dr. G. - nicht davon auszugehen, dass das seelische Leiden über eine leichtere psychische Störung hinausgeht. Für eine stärker behindernde Störung mit entsprechendem Leidensdruck des Klägers, der dann zu erwarten ist (vgl. insoweit LSG Baden-Württemberg vom 17.12.2010 - L 8 SB 1549/10 -, Rn. 31 <Juris>, vom 21.04.2016 - L 6 SB 461/15 - und vom 23.06.2016 - L 6 SB 5131/15 - <beide unveröffentlicht>), findet sich aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens kein Anhalt. Soweit der Beklagte für diese Funktionseinschränkung deshalb einen Teil-GdB von 10 berücksichtigt, ist dies auch vor dem Hintergrund, dass der Kläger weiter vollschichtig als Lagerarbeiter bei einem Automobilhersteller beschäftigt ist, nicht zu beanstanden.

f)     Eine wesentliche Funktionseinschränkung des linken Schultergelenkes, insbesondere eine Bewegungslimitierung unterhalb von 90°, hat Dr. Bö. als sachverständiger Zeuge nicht bestätigt. Im August 2016 hat er allein einen painful arc (= schmerzhafter Bogen) erhoben, wobei der Kläger den Nackengriff, wenn auch mit Ausweichbewegung, noch durchführen konnte. Der Nackengriff erfordert indes eine Bewegungsfähigkeit des Schultergelenks mindestens bis zur Horizontalen. Einen Teil-GdB von wenigstens 10 hat auch Dr. Bö. ausdrücklich verneint.

g)     Der von Dr. G. im Befundbericht vom Juni 2015 als Gesundheitsstörung diagnostizierte Diabetes mellitus ist diätetisch eingestellt ohne medikamentöse Behandlung. Hieraus resultiert daher kein messbarer GdB (vgl. Teil B Nr. 15.1 VG).

3.     Den Gesamt-GdB bewertet auch das erkennende Gericht, ausgehend von Teil-GdB-Werten von 20 und 4 x 10, ab dem 21.11.2015, dem Tag, an dem der Bescheid vom 18.11.2015 kraft Gesetzes (§ 37 Abs. 2 S. 1 SGB X) als bekanntgegeben gilt, mit - noch - 20. Dabei ist zu berücksichtigen, dass bei - wie hier - mehreren Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzustellen ist (§ 69 Abs. 3 S. 1 SGB IX). Dabei dürfen die einzelnen Teil-GdB-Werte weder addiert noch andere Rechenmethoden für die Bildung des Gesamt-GdB angewandt werden (vgl. Teil A Nr. 3 a) VG). Insbesondere ist zu beachten, dass von Ausnahmefällen abgesehen, z.B. bei einer hochgradigen Schwerhörigkeit eines Ohres bei schwerer beidseitiger Einschränkung der Sehfähigkeit, zusätzliche leichte Gesundheitsstörungen, die lediglich einen GdB von 10 bedingen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigung führen, und zwar auch dann nicht, wenn - wie hier - mehrere derartige leichte Gesundheitsstörungen nebeneinander bestehen (vgl. Teil A Nr. 3 d) ee) VG). Vielmehr besteht insoweit ein absoluten Additionsverbot (vgl. BSG SozR 3-3100 § 30 Nr. 24).

4.     Aus eben diesen Gründen sind die angefochtenen Bescheide rechtmäßig und musste das Begehren des Klägers erfolglos bleiben.

5.     Dem Hilfsantrag auf Einholung eines medizinischen Sachverständigengutachtens gemäß § 109 SGG bei Dr. J. , K. , war nicht stattzugeben. Denn der Kläger hat die ihm mit Verfügung des Gerichts vom 16.12.2016 erteilten Auflagen innerhalb der ihm hierzu eingeräumten Frist bis zum 25.01.2017 nicht vollständig erfüllt.
Ungeschriebene Voraussetzung jeder Bestellung zum gerichtlichen Sachverständigen ist dessen Eignung für die Erstattung des Gutachtens. Diese Eignung fehlt, wenn der als Sachverständige benannte Arzt - aus welchen Gründen auch immer - nicht bereit und/oder nicht in der Lage ist, das Gutachten innerhalb einer angemessenen Frist, die die Kammer mit drei Monaten ab Erteilung des Gutachtensauftrags für ausreichend erachtet, zu erstatten und dem Gericht vorzulegen. Dies vor Benennung eines Arztes als gerichtlichen Sachverständigen nach § 109 SGG zu klären, ist Aufgabe des Antragstellers - hier: des Klägers (so im Ergebnis SG K.  vom 20.05.2014 - S 1 SB 2343/14 -, Rn. 33 und vom 12.01.2015 - S 4 U 1362/14 -, Rn. 40 f. <jeweils Juris>). Zu beachten ist weiter die Verpflichtung des Gerichts, den Rechtsstreit zügig zur Entscheidungsreife zu führen und eine Sachentscheidung zu treffen (Art. 6 Abs. 1 S. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention und § 198 des Gerichtsverfassungsgesetzes). Es hat deshalb u. a. vor der mündlichen Verhandlung alle Maßnahmen zu treffen, die notwendig sind, um den Rechtsstreit möglichst in einer mündlichen Verhandlung zu erledigen (§ 106 Abs. 2 SGG). Überdies hat das Gericht auch bei Gutachten nach § 109 SGG auf eine zügige Gutachtenserstattung hinzuwirken (vgl. EuGH vom 25.03.2010 - 901/05 - <Juris> und Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 109, Rn. 19 m.w.N.). Aus diesen Gründen erachtet es die Kammer für erforderlich, im Fall eines Antrags gemäß § 109 Abs. 1 SGG vor Erteilung des Gutachtensauftrags dem Antragsteller die Beibringung eines Nachweises über die Bereitschaft des als Sachverständigen benannten Arztes aufzugeben, das Gutachten innerhalb einer Frist von drei Monaten ab Erteilung des Gutachtensauftrags zu erstellen und dem Gericht vorzulegen (vgl. auch LSG Baden-Württemberg vom 21.11.2014 - L 4 R 4797/13 -, Rn. 35 <Juris>), und zwar unabhängig davon, ob der als Sachverständige benannte Arzt in der Vergangenheit ihm zur Gutachtenserstellung gesetzte Fristen (§ 118 Abs. 1 S. 1 SGG i.V.m. § 411 Abs. 1 der Zivilprozessordnung) eingehalten oder überschritten hat. Die Befugnis hierzu entnimmt das Gericht auch § 106 Abs. 3 SGG, dessen Regelungsinhalt nicht abschließend ist, wie sich aus der Verwendung des Wortes „ … insbesondere …“ ergibt.

Vorliegend hat der sachkundig vertretene Kläger innerhalb der ihm hierzu eingeräumten Frist keinen Nachweis vorgelegt, dass Dr. J. bereit und in der Lage ist, das Gutachten innerhalb von drei Monaten nach Erteilung des Gutachtensauftrags zu erstellen und dem Gericht zu übermitteln. Er hat damit die für eine ordnungsgemäße Prozessführung erforderliche Sorgfalt im Zusammenhang mit dem Antrag nach § 109 SGG außer Acht gelassen, was eine grobe Nachlässigkeit darstellt und zur Ablehnung des hilfsweise aufrecht erhaltenen Beweisantrags führt (§ 109 Abs. 2 SGG). Denn ihm war seit der Verfügung vom 16.12.2016 bekannt, dass für das beantragte Gutachten nach § 109 SGG - auch - die Bestätigung des benannten Sachverständigen erforderlich war, das Gutachten binnen einer Frist von drei Monaten nach Zugang des Gutachtensauftrags zu erstellen und vorzulegen. Außerdem hatte ihn das Gericht - zudem durch Fettdruck noch textlich hervorgehoben - ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es das Gutachten nicht in Auftrag gebe, wenn der Kläger die Auflagen nicht, nur teilweise oder nicht fristgerecht erfüllt. Wollte die Kammer dem Hilfsantrag gleichwohl stattgeben, hätte sie im Termin zur mündlichen Verhandlung am 23.03.2017 nicht in der Sache entscheiden können, vielmehr den Rechtsstreit vertagen und zunächst das Gutachten einholen müssen. Dadurch hätte sich die Erledigung des Rechtsstreits deutlich verzögert.

6.     Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183, 193 Absätze 1 und 4 SGG.

RechtsgebietBegutachtungVorschriften§ 106 Abs. 2 und 3 SGG; § 109 SGG; Art. 6 Abs. 1 EMRK