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05.03.2015 · IWW-Abrufnummer 144003

Sozialgericht Aachen: Urteil vom 19.08.2014 – S 12 SB 1088/12

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


Sozialgericht Aachen

S 12 SB 1088/12

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen. Kosten sind nicht zu erstatten.

Tatbestand:
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Zwischen den Beteiligten sind die Höhe des Grades der Behinderung (GdB) sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens "aG" streitig.
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Der Beklagte stellte bei dem am 00.00.0000 geborenen Kläger mit Bescheid vom 24.01.2011 aufgrund von Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule, Funktionsbeeinträchtigungen der unteren Gliedmaße sowie seelischer Beeinträchtigung und Schmerzkrankheit einen GdB von 60 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens "G" fest.
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Am 10.02.2012 beantragte der Kläger, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, die Feststellung eines höheren GdB sowie des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens "aG". Hierbei gab er an, sein gesundheitlicher Zustand habe sich so verschlechtert, dass er ohne Rollator das Haus nicht mehr verlassen könne. Er könne mit Rollator Wegstrecken von allenfalls noch 50 bis 100 m zurücklegen.
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Der medizinische Dienst des Beklagten wertete Arztberichte der Klinik für Manuelle Therapie, der Klinik am Park, der Klinik für Anästhesiologie des Universitätsklinikums B, der Klinik für Orthopädie und Unfallchirurgie des Universitätsklinikums B sowie Befundberichte des Allgemeinmediziners O und der psychiatrischen Institutsambulanz der H aus. Hierbei kam er zu der Einschätzung, die Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule seien weiter mit einem GdB von 40, die Funktionsbeeinträchtigung der unteren Gliedmaße weiter mit einem GdB von 30 und die seelische Beeinträchtigung mit Schmerzkrankheit ebenfalls weiter mit einem GdB von 30 zu bewerten. Der Gesamt-GdB sei ebenfalls mit 60 weiterhin zutreffend, da weder eine wesentliche Besserung noch eine wesentliche Verschlechterung ersichtlich seien. Die Zuerkennung des Merkzeichens "aG" komme nicht in Betracht, weil ein Gehvermögen, das bereits ab dem ersten Schritt auf das Schwerste eingeschränkt ist, nicht beschrieben werde.
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Mit Bescheid vom 17.04.2012 lehnte der Beklagte die Feststellung eines höheren Grades der Behinderung sowie des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens "aG" ab.
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Am 18.05.2012 legte der Kläger, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, Widerspruch ein. Zur Begründung führte er aus, der Schmerzzustand des Klägers würde bislang nicht zutreffend bewertet. Darüber hinaus müsse berücksichtigt werden, dass der Kläger kaum in der Lage sei, sich noch fortzubewegen. Ohne Gehhilfe, insbesondere Rollator, sei ihm eine Bewegung gänzlich unmöglich. Selbst beim Duschen bedürfe er ständiger Hilfen. Der Kläger müsse sich nach dem Duschen wegen Stehproblemen und Schmerzen in den Füßen auf einen Hocker setzen. Ein Stehen sei ihm dann nicht mehr möglich. Nach dem Ankleiden suche er auch sofort eine Sitzmöglichkeit auf. Gehen sei ihm schlichtweg unmöglich. Er brauche für eine Strecke von max. 300 m mindestens eine Zeit von 30 Minuten. Der Kläger reichte zur weiteren Begründung Arztberichte der Klinik für Anästhesie und Schmerzmedizin der N zu den Akten. Auch hierzu nahm der ärztliche Dienst des Beklagten Stellung
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Mit Widerspruchsbescheid vom 06.09.2012 wies die Bezirksregierung N den Widerspruch als unbegründet zurück.
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Am 26.09.2012 hat der Kläger, vertreten durch seinen Prozessbevollmächtigten, Klage erhoben.
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Das Gericht hat Beweis erhoben durch Einholung eines Gutachtens der Fachärztin für Orthopädie, Rheumatologie und spezielle Schmerztherapie Dr. Q. Auf Antrag des Klägers hat das Gericht zudem ein schmerztherapeutisches Gutachten des Klinikdirektors der Klinik für Anästhesie, Intensivmedizin und spezielle Schmerztherapie Dr. X eingeholt. Darüber hinaus haben beiden Gutachten eine ergänzende Stellungnahme abgegeben. Auch die Beteiligten haben sich zu den Gutachten geäußert. Das Gericht hat schließlich ein Pflegegutachten des N vom 03.04.2014 beigezogen.
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Am 19.08.2014 hat der Termin zur mündlichen Verhandlung stattgefunden, an dem der Kläger persönlich teilgenommen hat. Im Rahmen des Termins hat eine In-Augenscheinnahme des Gangbildes des Klägers stattgefunden.
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Der Kläger beantragt,
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den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 17.04.2012 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 06.09.2012 zu verurteilen, bei ihm ab dem 10.02.2012 einen Grad der Behinderung von mindestens 80 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens "aG" festzustellen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen
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Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein Vorbringen aus dem Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren. Darüber hinaus nimmt er Bezug auf die Ausführungen seines medizinischen Beraters im vorliegenden Verfahren.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die beigezogene Verwaltungsakte sowie die Gerichtsakte Bezug genommen, deren wesentlicher Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen ist.
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Entscheidungsgründe:
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Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger ist durch die angefochtenen Bescheide nicht im Sinne des § 54 Abs. 2 SGG beschwert, da bei ihm weder ein höherer GdB als 60 (dazu unter 1.) noch das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens "aG" festzustellen ist (dazu unter 2.). Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig.
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1.
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Nach § 2 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion oder geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht und daher ihre Teilhabe am Leben der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Gemäß § 69 Abs. 1 Satz 4 SGB IX werden die Auswirkungen auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft als Grad der Behinderung nach 10er Graden abgestuft dargestellt. Bei dem Vorliegen mehrerer Beeinträchtigungen der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wird nach § 69 Abs. 3 SGB IX der GdB nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festgestellt.
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Die Bemessung des Gesamt-GdB hat dabei in mehreren Schritten zu erfolgen und ist tatrichterliche Aufgabe (BSG Beschluss vom 09.12.2010 – B 9 SB 35/10 B = juris Rn. 5 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).
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Zunächst sind unter Heranziehung ärztlichen Fachwissens die einzelnen, nicht nur vorübergehenden Gesundheitsstörungen im Sinn von regelwidrigen, von der Norm abweichenden Zuständen gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX und die daraus ableitenden Teilhabebeeinträchtigungen festzustellen. Sodann sind diese den in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen genannten Funktionssystemen zuzuordnen und mit einem Einzel-GdB zu bewerten. Schließlich ist unter Berücksichtigung der wechselseitigen Beziehungen in einer Gesamtschau der Gesamt-GdB zu bilden (BSG Urteil vom 30.09.2009 – B 9 SB 4/08 R = juris Rn. 18 m.w.N.; LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 32).
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Nach Teil A Ziffer 3 der Anlage zu § 2 der aufgrund § 30 Abs. 17 Bundesversorgungsgesetzes (BVG) erlassenen Verordnung zur Durchführung des § 1 Abs. 1 und 3, des § 30 Abs. 1 und des § 35 Abs. 1 BVG (BGBl. I 2008, S. 2412 - Versorgungsmedizin-Verordnung) vom 10.12.2008 (Versorgungsmedizinische Grundsätze), die wegen § 69 Abs. 1, Satz 4 SGB IX auch im Schwerbehindertenrecht zur Anwendung kommt, sind zur Ermittlung des Gesamtgrades der Behinderung rechnerische Methoden, insbesondere eine Addition der Einzelgrade der Behinderung, nicht zulässig. Vielmehr ist bei der Beurteilung des Gesamtgrades der Behinderung in der Regel von der Funktionsbeeinträchtigung auszugehen, die den höchsten Einzelgrad der Behinderung bedingt und dann im Hinblick auf alle weiteren Funktionsbeeinträchtigungen zu prüfen, ob und inwieweit hierdurch das Ausmaß der Behinderung größer wird, ob also wegen der weiteren Funktionsbeeinträchtigungen dem ersten Grad der Behinderung 10 oder 20 oder mehr Punkte hinzuzufügen sind, um der Behinderung insgesamt gerecht zu werden. Hierbei ist gemäß Teil A Ziffer 3 lit. d) ee) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu beachten, dass leichtere Gesundheitsstörungen mit einem Einzelgrad der Behinderung von 10 nicht zu einer Erhöhung des Gesamtgrades der Behinderung führen, selbst wenn mehrere dieser leichteren Behinderungen kumulativ nebeneinander vorliegen. Auch bei Leiden mit einem Einzelgrad der Behinderung von 20 ist es vielfach nicht gerechtfertigt, auf eine Zunahme des Gesamtausmaßes der Behinderung zu schließen.
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Schließlich sind bei der Festlegung des Gesamt-GdB zudem die Auswirkungen im konkreten Fall mit denjenigen zu vergleichen, für die in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen feste GdB-Werte angegeben sind (BSG Urteil vom 02.12.2010 –B 9 SB 4/10 R = juris Rn. 25; vgl. auch Teil A Ziffer 3 lit. b) Versorgungsmedizinische Grundsätze).
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Der Kläger leidet zum Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung im Wesentlichen unter
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a) Zustand nach Repositionspondylodese Th10-L2 bei segmentaler Instabilität Dezember 2010 mit chronifiziertem Schmerzsyndrom, Infekt bei Spinalkatheter, leichtgradige Funktionsstörung der Halswirbelsäule bei degenerativen Veränderungen im atlantoaxialen Gelenk sowie Bandscheibenprotrusion HWK 4/5 b) Zustand nach Fersenbeinbruch bds., Zustand nach USG-Arthrodese links 2006 mit Knochenspanentnahme, posttraumatische untere Sprunggelenksarthrose rechts, Hyperurikämie, Knicksenkfuß c) Depressive Störung, chronisches Schmerzsyndrom (MPSS III nach Gerbershagen), Zustand nach Alkoholabusus bis 1989 d) Therapiepflichtige arterielle Hypertonie ohne kardiovaskuläre Folgen
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Das Vorliegen dieser Gesundheitsbeeinträchtigungen steht nach Auffassung der Kammer aufgrund der im Verwaltungs- und Klageverfahren eingeholten Befund- und Arztberichte sowie insbesondere dem Gutachten der Frau Dr. Q fest.
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Das Gutachten beruht auf umfangreichen Untersuchungen, die von einer erfahrenen medizinischen Gutachterin unter Einsatz von diversen Hilfsmitteln durchgeführt worden sind. Die Kammer hat keinen Anlass an der Richtigkeit und Vollständigkeit der in dem Gutachten erhobenen medizinischen Befunde zu zweifeln.
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Demgegenüber vermag das auf Antrag des Klägers nach § 109 SGG eingeholte Gutachten des Dr. X nach Auffassung der Kammer nicht zu überzeugen. Dies bezieht sich freilich – auf diese Feststellung legt die Kammer Wert – nicht auf die schmerztherapeutischen Diagnosen und die – im Übrigen vom Gutachter nicht erfragten – Prognose und Therapievorschläge. Hinsichtlich der Feststellungen, dass bei dem Kläger nach stattgehabten Wirbelsäulenoperationen eine Schmerzchronifizierung stattgefunden hat, sind sich beide Gutachter einig. Während das Gutachten der Frau Dr. Q allerdings versucht, die Angaben des Klägers zur Schmerzintensität und Schmerzlokalisation zu objektivieren, beruhen die Feststellungen – und letztlich auch die Schlussfolgerungen – im Gutachten des Dr. X größtenteils auf den subjektiven Angaben des Klägers. Es entspricht nach Auffassung der Kammer damit auch nicht im gebotenen Maße den Vorgaben der Leitlinie für die Begutachtung von Schmerzen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN), der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC), der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie (DGPM), des Deutschen Kollegiums für Psychosomatische Medizin (DKPM), der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) und der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS) – Leitlinie Schmerzbegutachtung. Das Gutachten des Dr. X lässt – dies steht zur Überzeugung der Kammer fest – die gebotene klare Trennung zwischen therapeutischer Tätigkeit und den geforderten unparteilichen Feststellungen eines gerichtlichen Gutachters vermissen. Dies zeigt sich insbesondere in der bereits geschildeten weitgehend unkritischen Übernahme der Angaben des Klägers insbesondere hinsichtlich der Intensität des Schmerzes. Die Kammer verkennt nicht, dass gerade die Quantifizierung von Schmerzen ein erhebliches Problem darstellt, zumal nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Stand bildgebende oder neurophysiologische Verfahren nicht geeignet sind, das Ausmaß von Schmerzen darzustellen (vgl. Ziffer 2 der Leitlinie Schmerzbegutachtung). Es wird daher weitgehend als erforderlich angesehen, konkrete Nachweise körperlicher und/oder psychischer Beeinträchtigungen im Alltagsleben zu erbringen, die geeignet sind diese Schmerzen zu erklären. Während die Gutachterin Dr. Q hier entsprechende Feststellungen trifft und anhand derer die Angaben des Klägers kritisch hinterfragt, findet dies nach Auffassung der Kammer im Gutachten des Dr. X zu wenig statt. Die Auswertung von Selbsteinschätzungsskalen und Fragebögen kommt demgegenüber – nach Ansicht der oben genannten Fachgesellschaften, der sich die Kammer anschließt – in einer Begutachtungssituation keine besonders starke Aussagekraft zu. Das Gutachten des Dr. X stützt sich aber zu einem erheblichen Teil gerade auf die in diesem Rahmen abgegeben Selbsteinschätzungen des Klägers, was schmerztherapeutisch, lege artis sein mag (vgl. dazu etwa Heisel/Jerosch, Schmerztherapie der Halte- und Bewegungsorgane, 2007, S. 21 ff.; Spies/Kastrup/Kerner/Melzer-Gartzke/Zielke/Kox, SOPs in Anästhesiologie und Schmerztherapie, S. 500 ff.; Standl/Treede, Schmerztherapie, 2. Aufl. 2010, S. 64 f.) und was auch ein Baustein einer gutachterlichen Bewertung der Frage chronischer Schmerzen ist (vgl. dazu etwa BSG Beschluss vom 09.04.2003 – B 5 RJ 80/02 B = juris), jedoch für sich allein nicht den Anforderung eines sozialgerichtlichen Gutachtens gerecht wird (so zu Recht Leitlinie Schmerzbegutachtung Ziffer 2). Auch Dr. Q arbeitete in ihrem Gutachten mit Schmerzfragebögen, unterzog deren Ergebnis sodann aber einer kritischen Würdigung unter Berücksichtigung der objektivierten Beschwerden.
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Für das Funktionssystem der Wirbelsäule sind beim Kläger insbesondere die Auswirkungen der durchgeführten Operationen im Bereich der Brust- und Lendenwirbelsäule zu berücksichtigen. Im Rahmen der Untersuchung durch Frau Dr. Q zeigte der Kläger eine ausgeprägte Anteflexionshaltung der gesamten Wirbelsäule mit vermehrter Kyphose der Brustwirbelsäule und Endlordosierung der Lendenwirbelsäule. Das Aufrichten des Klägers erwies sich als stark schmerzhaft. Die Vor-/Rückneigung zeigte sich mit 25°/0°/0° bei starkem Aufrichteschmerz, die Seitneigung wurde mit 15°/0°/15°, die Rotation mit 10°/0°/10° gezeigt, wobei der Kläger bei allen Bewegungen deutliche Schmerzäußerungen zeigte. Das Schobermaß wurde mit 10/11,5 cm und das Maß nach Ott mit 30/31 cm ermittelt, was eine deutliche Entfaltungsstörung der Brust und Lendenwirbelsäule anzeigt. Über dem thorakolumbalen Übergang bestand ein deutlicher Klopfschmerz bei deutlicher Muskeltonusminderung. Es zeigen sich generell und partiell Muskelspannungsstörungen bei erheblichem Druckschmerz über der gesamten unteren Brustwirbelsäule und Lendenwirbelsäule. Im distalen OP- Bereich beschrieb der Kläger Taubheitsgefühle. Im Sitzen zeigte sich die Dreh und Seitneigung der Brust und Lendenwirbelsäule leicht eingeschränkt. Der Oberkörper konnte in Bauchlage ohne Abstützen der Arme von der Unterlage nicht angehoben werden. In der Bauchlage stützte sich der Kläger auf die Unterarme, die vor dem Körper positioniert wurden, wobei er deutliche Schmerzäußerungen vernehmen ließ. Ein leichtes Anheben der gestreckten Beine war in dieser Position möglich. Aus Schmerzgründen war eine entspannte Bauchlage nicht möglich. Es wurden paravertrebral Druckschmerzen mit vermehrter Schmerzwahrnehmung bei Berührung angegeben. Insgesamt zeigte der Kläger viele Ausweichbewegungen beim Drehen des Rumpfes auf der Untersuchungsliege, auch der Langsitz konnte nur unvollständig eingenommen werden mit hinterem Abstützen der Arme auf der Untersuchungsliege. Beim Aufrichten aus der Sitzposition erfolgte vorsichtiges Abstützen, die Schrittfolge ohne Rollator war bei der Untersuchung durch Frau Dr. Q langsam und wirkte unkoordiniert. Motorischer Ausfälle zeigten sich jedoch nicht. Insgesamt zeigten sich im Bereich der Brust und Lendenwirbelsäule hier durchaus schwerere funktionelle Auswirkungen.
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Für den Bereich der Halswirbelsäule ist demgegenüber – trotz nachgewiesener degenerativer Veränderungen im atlantoaxialen Gelenk und Bandscheibenvorwölbung HWK 4/5 - eher von leichtgradigen funktionellen Auswirkungen auszugehen. So wurden die Bewegungsausmaße der Halswirbelsäule wurden bei der Vorwärts-/Rückwärtsneigung mit 40°/0°/30° und bei der Rotation mit 60°/0°/60° ermittelt. Es bestand eine mäßige Muskelatrophie paravertebral mit leichter Druckschmerzhaftigkeit über dem Trapezius. Der Kinn-Brustbeinabstand wurde mit 0/17cm ermittelt. Bei Bewegungsprüfung der Schultergelenke gab der Kläger eine Schmerzausstrahlung in die untere Halswirbelsäule und die obere Brustwirbelsäulen-Region an.
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Dr. X gab ein seinem Gutachten an, die Beweglichkeit der Halswirbelsäule sei rechts bei 70° und links bei 60° eingeschränkt – gemeint ist hierbei wohl die Rotation. Der Kläger könne das Kinn nur unter Schmerzen zur Brust bewegen. Die Rückneigung sei nur bis 10° möglich. Bücken könne der Kläger sich nicht, bzw. nur unter starken Schmerzen, wobei er in die Hocke gehen und sich dabei festhalten müssen. Dr. X beschrieb überdies sichtbare Hämatome an der Stirn, am Nasenbein und am Bauch. Diese, so schlussfolgert der Gutachter, seien darauf zurückzuführen, dass der Kläger wohl schon mehrfach mit dem Kopf oder dem Bauch auf den Rollator gefallen sei. Er beschreibt eine motorische Schwäche beider Beine. So falle bei der Flexion gegen Widerstand eine deutliche Kraftminderung des rechten Fußes/Beines auf.
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Unter Berücksichtigung beider Gutachten ist gemäß Teil B Ziffer 18.9 der Versorgungsmedizinische Grundsätze im Hinblick auf die erheblichen Beeinträchtigungen des Klägers im Bereich der Wirbelsäule von einem GdB von 40 auszugehen, berücksichtigt dies doch die objektivierten schweren funktionellen Auswirkungen in zwei Wirbelsäulenabschnitten. Die objektivierten Beeinträchtigungen der Halswirbelsäule sind nicht geeignet, den Grad der Behinderung zu erhöhen. Insbesondere erscheint der von Dr. X vorgeschlagene GdB von 60 für den Bereich der Wirbelsäule allein nicht angemessen. Ein solcher Grad der Behinderung wäre - worauf die Gutachterin Dr. Q in ihrer ergänzenden Stellungnahme zutreffend hinweist - bei Versteifung großer Teile der Wirbelsäule, anhaltender Ruhigstellung durch Rumpforthose, die drei Wirbelsäulenabschnitte umfasst oder schwerer Skoliose ab 70° nach Cobb, in Ansatz zu bringen. Entsprechende Beeinträchtigungen sind beim Kläger derzeit nicht objektiviert. Die Schmerzproblematik des Klägers wird eigenständig unter Ziffer 3.7 der Versorgungsmedizinische Grundsätze bewertet (dazu unten).
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Für das Funktionssystem der unteren Extremitäten sind beim Kläger die Beeinträchtigungen durch den stattgehabten beidseitigen Fersenbeinbruch, die Arthrodese des linken unteren Sprunggelenks mit Knochenspanentnahme, die posttraumatische Arthrose des rechten unteren Sprunggelenks, die Hyperurikämie und der Knick Senkfuß zu berücksichtigen. Der Kläger erlitt 1976 nach einem Sturz aus etwa 10 m Höhe aus einem Baum eine Fraktur beider Fersenbeine, aus der sich posttraumatische eine sekundäre Arthrose entwickelte, die 2006 zu einer Versteifung des linken unteren Sprunggelenks mit Knochenspanentnahme führte. Die Versteifungsoperation hat im Bereich des linken Sprunggelenks zu einer Besserung der Schmerzsymptomatik geführt. Rechts klagte der Kläger weiter über erhebliche Schmerzen. Die Beweglichkeit des rechten unteren Sprunggelenks war bei der Begutachtung durch Frau Dr. Q nahezu aufgehoben und es bestanden durchaus starke Bewegungsstörungen. Verstärkt würden diese Schmerzen durch gichtartige Symptome bei Hyperurikämie. Hier nimmt der Kläger eine entsprechende Medikation ein. Beim Gehen beschrieb Frau Dr. Q eine rechtsbetonte Abrollstörung, die Schrittfolge war verkürzt, das Sprunggelenk war verplumpt. Die Beweglichkeit des oberen Sprunggelenks war ebenfalls eingeschränkt, aber weiter durchaus möglich. Die Bewegung nach Fußrücken-/Sohlenwärts wurde beidseits mit 10°/0°/15° ermittelt. Im rechten unteren Sprunggelenk zeigte sich eine Wackelsteife, die Beweglichkeit des linken unteren Sprunggelenks war aufgehoben. Zudem ist beim Kläger eine deutliche Knickfußstellung beschrieben. Der Kläger gab gegenüber der Gutachterin an, er verfüge über Einlagen, die er aber nicht regelmäßig trage. Die Bewegungsausmaße der Kniegelenke waren weit gehend unauffällig, die Beugung-/Streckung der Hüftgelenke mit 95°/0°/10° war beidseits eingeschränkt. Im Bereich der Hüfte bestanden überdies von der Lendenwirbelsäule ausgehende in beide Leisten strahlende Schmerzen. Letztere beschreibt auch Dr. Welke in seinem Gutachten. Darüber hinaus finden sich kaum selbst erhobene Befunde in seinem Gutachten. Er beschreibt das Gangbild des Klägers als schleppend und häufig pausierend. Darüber hinaus beschreibt er – wie oben bereits dargelegt - eine Kraftminderung im rechten Bein/Fuß. Im Übrigen gibt er die Angaben und subjektiven Beschwerden des Klägers, ohne diese erkennbar näher zu prüfen.
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Unter Berücksichtigung der objektivierten Feststellungen der Gutachter sowie der vorliegenden Vorbefunde ist im vorliegenden Fall gemäß Teil B Ziffer 18.13 der Versorgungsmedizinische Grundsätze weiter von einem GdB von 30 auszugehen. Hierbei wurde aber schon die besondere Schmerzproblematik des Klägers mit berücksichtigt.
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Beim Kläger ist darüber hinaus noch eine ausgeprägte und chronifizierte Schmerzsymptomatik sowie eine depressive Störung gemäß Teil B Ziffer 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zu berücksichtigten.
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Nach übereinstimmender Feststellung beider Gutachter bestehen bei dem Kläger eine Schmerzchronifizierung im Stadium III MPSS nach Gerbershagen (vgl. zum Mainzer Stadiensystem der Schmerzchronifizierung, Standl/Treede, Schmerztherapie, 2. Aufl. 2010, S. 39 f.). Bei beiden ergaben die Auswertung der klägerseits beantworteten Fragebögen auch jeweils Hinweise auf eine Depression. Es findet auch eine antidepressive Co-Medikation statt. Auch die den Kläger behandelnde psychiatrische Institutsambulanz diagnostizierte beim Kläger in der Vergangenheit eine mittelschwere rezidivierende Depression nebst chronifiziertem Schmerzsyndrom. Dort wurde auch bereist ein sozialer Rückzug mit Antriebsstörung, geminderter Konzentrationsfähigkeit und fehlender Frustrationstoleranz beschrieben. In der Untersuchung bei Frau Dr. Q zeigte sich der Kläger insgesamt sehr auf die Schmerzproblematik fokussiert. Er machte ihr gegenüber deutlich, dass er sich – anders als früher – kaum noch um "Haus und Hof" kümmern könne. Seine Ehefrau müsse in bei fast allen Arbeiten unterstützen, was immer wieder zu Konflikten führe. Auch leide er unter erheblichen Schlafstörungen. Um sich abzulenken löse er Kreuzworträtsel und Sudokus. Entsprechendes gab der Kläger auch gegenüber Dr. X an. Ergänzend erklärte er dort, er fühle sich nur noch selten glücklich. In der Vergangenheit habe er auch Suizidgedanken gehabt, derzeit aber nicht mehr. Hieraus folgert der Gutachter, es liege eine schwere Depression vor. Diese Schlussfolgerung erscheint der Kammer indes weder durch die Feststellungen des Gutachters noch durch die übrigen vorliegenden Befunde gedeckt. So beschreiben sowohl Dr. Q als auch Dr. X jeweils Beeinträchtigungen der Affektivität, des Antriebs und des Denkens, die nach ICD 10 F 32 zwar durchaus die Diagnose einer Depression rechtfertigen. Danach gilt nämlich, dass "bei den typischen leichten (F32.0), mittelgradigen (F32.1) oder schweren (F32.2 und F32.3) Episoden der betroffene Patient unter einer gedrückten Stimmung und einer Verminderung von Antrieb und Aktivität leidet. Die Fähigkeit zu Freude, das Interesse und die Konzentration sind vermindert. Ausgeprägte Müdigkeit kann nach jeder kleinsten Anstrengung auftreten. Der Schlaf ist meist gestört, der Appetit vermindert. Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen sind fast immer beeinträchtigt. Sogar bei der leichten Form kommen Schuldgefühle oder Gedanken über eigene Wertlosigkeit vor. Die gedrückte Stimmung verändert sich von Tag zu Tag wenig, reagiert nicht auf Lebensumstände und kann von so genannten "somatischen" Symptomen begleitet werden, wie Interessenverlust oder Verlust der Freude, Früherwachen, Morgentief, deutliche psychomotorische Hemmung, Agitiertheit, Appetitverlust, Gewichtsverlust und Libidoverlust."
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Die Frage, ob von einer leichten, mittelgradigen oder schweren depressiven Episode auszugehen ist, hängt nach ICD 10 von der Anzahl und Schwere der Symptome ab. Die im vorliegenden Fall bestehenden Zweifel an der Diagnose einer schweren depressiven Episode rühren daher, dass Dr. Welke auch hier wieder fast ausschließlich die Angaben des Klägers zugrunde legt, ohne dass klar auf das klinische Erscheinungsbild des Klägers eingegangen wird. Auch gegenüber Frau Dr. Q hatte der Kläger seine Beschwerden deutlich gemacht, in der Begutachtungssituation konnte die Gutachterin indes nur eine "etwas gedrückte" Stimmung feststellen. Im Übrigen erwies sich der Kläger konzentriert, ohne auffällige Stimmungsschwankungen, bei regelrechter Orientierung ohne wahnhafte Symptome und ohne Erinnerungsstörungen. Dieses geschilderte Bild spricht nach Auffassung der Kammer klar gegen das Vorliegen einer schweren depressiven Episode – jedenfalls zum Zeitpunkt der Untersuchung durch Frau Dr. Q. Dass eine solche bei der Untersuchung durch Dr. X bestanden hat ist durch das Gutachten demgegenüber nicht hinreichend objektiviert. Das Gleiche gilt für die durch Dr. X diagnostizierte Angst und Panikstörung. Hier hat der Gutachter lediglich ausgeführt, der Kläger leide unter Angst und Panikstörungen. Eine nähere Erläuterung oder gar kritische Prüfung der Angaben des Klägers ist nicht erkennbar. Symptome, die die insoweit erforderlichen schweren Angstattacken näher spezifizieren würden, werden nicht genannt. Auch in den Vorbefunden findet sich diese Diagnose nicht.
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Im Schwerbehindertenrecht sind indes ohnehin nicht die Diagnosen, sondern die Auswirkungen maßgeblich. Insoweit geht die Kammer unter Berücksichtigung der Darstellungen beider Gutachter, der eingenommenen Medikation und unter Berücksichtigung der durchgeführten therapeutischen Maßnahmen davon aus, dass die beim Kläger vorliegenden psychischen Beeinträchtigungen nach Teil B Ziffer 3.7 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze als stärker behindernde Störungen mit wesentlicher Einschränkung der Erlebnis- und Gestaltungsfähigkeit einzuschätzen sind. Maßgeblich ist insoweit vor allem die beim Kläger bestehende Schmerzerkrankung, da diese letztlich auch Ausgangspunkt der übrigen Beeinträchtigungen ist. Hier ist bereits von durchaus ausgeprägteren Störungen auszugehen, berücksichtigt man den beim Kläger offensichtlich stattfindenden sozialen Rückzug und die bereist aufkeimenden innerfamiliären Probleme. Nach Auffassung der Kammer kann insoweit ein GdB von 30, der voll erreicht ist, und nach Auffassung der Kammer durchaus Tendenz zur 40 hat, in Ansatz gebracht werden. Schwere Störungen mit mittelgradigen sozialen Anpassungsschwierigkeiten sind nach Auffassung der Kammer indes bislang weder durch die Gutachten noch durch die Vorbefunde hinreichend objektiviert. Der Zustand nach Alkoholabusus wirkt sich insgesamt nicht weiter erhöhend aus.
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Für den beim Kläger bestehenden medikamentös behandelten Bluthochdruck ohne objektivierte Beeinträchtigung an Zielorganen ist gemäß Teil B Ziffer 9.3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze weiterhin ein GdB von 10 in Ansatz zu bringen.
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Für das Funktionssystem der oberen Gliedmaße ist gemäß Teil B Ziffer 18.14 der Versorgungsmedizinische Grundsätze ein GdB nicht festzustellen. Die Funktionsprüfung der oberen Extremitäten zeigte sich insgesamt als unauffällig. Soweit der Gutachter Dr. X angibt, der Kläger klage über Schmerzen in den Handgelenken durch das Aufstützen auf den Rollator, so bedingte dies keinen eigenen GdB. Auch der Gutachter selbst hat einen solchen nicht in Ansatz gebracht. Die vom Kläger im Schulterbereich geschilderten Beschwerden sind im Übrigen nach beiden Gutachten als Folge der Beeinträchtigungen der Wirbelsäule bereits dort mitberücksichtigt worden.
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Die Beeinträchtigungen durch die Hyperurikämie wurden im Bereich der unteren Extremitäten berücksichtigt. Die diagnostizierte Hyperlipidämie bedingt gemäß Teil B Ziffer 15 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze keinen GdB.
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Vor diesem Hintergrund ist bei dem Kläger für den streitbefangenen Zeitraum nach § 69 Abs. 3 SGB IX in Verbindung mit Teil A Nr. 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze weiterhin ein Gesamt-GdB von 60, der voll erreicht ist, zu bilden.
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§ 69 Abs. 3 Satz 1 SGB IX schreibt vor, bei Vorliegen mehrerer Teilhabebeeinträchtigungen den Grad der Behinderungen nach den Auswirkungen der Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen festzusetzen. Der maßgebliche Gesamt-GdB ergibt sich dabei aus der Zusammenschau aller Funktionsbeeinträchtigungen. Er ist nicht nach starren Beweisregeln, sondern aufgrund richterlicher Erfahrung unter Hinzuziehung der Sachverständigengutachten sowie der versorgungsmedizinischen Grundsätze in freier richterlicher Beweiswürdigung nach natürlicher, wirklichkeitsorientierter und funktionaler Betrachtungsweise festzustellen (LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 – L 13 SB 127/11 = juris Rn. 42 unter Bezugnahme auf BSG Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 9/97 R = juris Rn. 10 m.w.N.). Dabei ist zu berücksichtigen, ob die Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen ineinander aufgehen, sich überschneiden, sich verstärken oder beziehungslos nebeneinander stehen (BSG Urteil vom 02.12.2010 - B 9 SB 4/10 R = juris).
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Im vorliegenden Fall ist als führender GdB derjenige für das Funktionssystem Wirbelsäule heranzuziehen. Dieser GdB von 40 wird durch die bestehenden psychischen Beeinträchtigungen, insbesondere die Schmerzproblematik des Klägers, sowie die Beeinträchtigungen der unteren Extremitäten auf 60 erhöht. Eine trennscharfe Zuweisung der "Erhöhungsanteile" auf die einzelnen Funktionssysteme ist hierbei nach Auffassung der Kammer nicht möglich. Zu berücksichtigen ist aber, dass der GdB von 30 für den Bereich der unteren Extremitäten nur allein deshalb zu rechtfertigen war, weil hier die Schmerzkomponente schon im jeweiligen Funktionssystem berücksichtigt wurde. Insoweit ist bei der Bildung des Gesamt-GdB eine Doppelbewertung zu vermeiden. Insgesamt muss – aufgrund der Schmerzproblematik und der psychischen Beeinträchtigung – der führende GdB hier aber insgesamt maßgeblich angehoben werden, um dem Leidensbild des Klägers insgesamt gerecht zu werden. Insoweit erscheint mit der Gutachterin Dr. Q ein GdB von 60 weiter angemessen, wobei – bei entsprechender progredienter Entwicklung – eine Verschlechterung in absehbarer Zeit nicht ausgeschlossen erscheint. Die weiteren Beeinträchtigungen nehmen nicht an der Bildung des Gesamt-GdB teil, da sie höchstens einen GdB von 10 bedingen. Eine Erhöhung des Gesamt-GdB, insbesondere die Feststellung des begehrten GdB von 80, kommt im vorliegenden Fall derzeit nach Auffassung der Kammer nicht in Betracht.
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Das Gesamtmaß der objektivierten Behinderungen des Klägers lässt sich insgesamt nicht mit einem einzelnen Gesundheitsschaden vergleichen, für den die Versorgungsmedizinischen Grundsätze einen festen Wert von 80 angeben, wie es Teil A Ziffer 3 lit. b) der Versorgungsmedizinischen Grundsätze vorschreiben (vgl. hierzu auch LSG Nordrhein-Westfalen Urteil vom 29.06.2012 –L 13 SB 127/11 = juris Rn. 49 ff. unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des BSG und den hierzu vertretenen Meinungsstand in der Literatur).
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2.
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Der Kläger hat auch keinen Anspruch auf Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG.
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Gemäß § 69 Abs. 4 SGB IX stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 StVG oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen "aG" einzutragen ist (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung; vgl. hierzu und zu den sich aus dem Merkzeichen ergebenden rechtlichen Folgen, Bundessozialgericht – BSG – Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R = juris Rn. 11; BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R = juris Rn. 15). Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung ist Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO (neu bekannt gemacht am 26. Januar 2001, BAnz 2001, Nr. 21, S 1419). Hiernach ist außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz (StVG), wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann. Hierzu zählen Querschnittsgelähmte, Doppeloberschenkelamputierte, Doppelunterschenkelamputierte, Hüftexartikulierte und einseitig Oberschenkelamputierte, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen, oder nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere Schwerbehinderte, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch auf Grund von Erkrankungen, dem vorstehenden Personenkreis gleichzustellen sind. Erläuternde Feststellungen zur Zuerkennung des Merkzeichens G enthält Teil D Ziffer 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze (zur Qualifikation der Versorgungsmedizinischen Grundsätze als Erläuterungen vgl. LSG NRW Urteil vom 13.07.2010 – 6 SB 133/09 = juris Rn. 27 – zum Merkzeichen aG). Die Frage, ob die Versorgungsmedizinischen Grundsätze darüber hinaus als Rechtsverordnung verbindliche Festlegungen enthalten ist umstritten. So wird teilweise die Auffassung vertreten, eine Ermächtigungsgrundlage zur Schaffung einer Rechtsverordnung betreffend die im SGB IX geregelten Nachteilsausgleiche sei nicht gegeben. Insbesondere enthalte der durch die Versorgungsmedizin in Bezug genommene Regelung des § 30 Abs. 17 BVG a.F. (nunmehr § 30 Abs. 16 BVG) keine entsprechende Ermächtigung (vgl. Dau, jurisPR-SozR 4/2009 Anm. 4; LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 02.10.2012 – L 8 SB 1914/10 = juris Rn. 26). Die Regelungen der Versorgungsmedizinischen Grundsätze zum Nachteilsausgleich aG seien damit mangels entsprechender Ermächtigungsgrundlage rechtswidrig. Rechtsgrundlage seien daher allein die genannten gesetzlichen Bestimmungen und die hierzu in ständiger Rechtsprechung anzuwendenden Grundsätze.
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Die Kammer schließt sich dieser Auffassung an. Sie ist gleichwohl der Ansicht, dass die Feststellungen des Teil D Ziffer 3 mit in die Bewertung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG mit einbezogen werden können, wenngleich freilich nicht als Rechtsgrundlage im Sinne einer Rechtsverordnung.
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Die Feststellungen in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen werden auf Grundlage des aktuellen Stands der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze evidenzbasierter Medizin erstellt und fortentwickelt, vgl. § 2 Versorgungsmedizin-Verordnung. Sie enthalten – im Hinblick auf das Merkzeichen aG – im Wesentlichen die gleichen Regelungen, wie bereits Ziffer 31 der vom Bundesministerium für Gesundheit und soziale Sicherung herausgegebenen Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX), zuletzt aus dem Jahr 2008, (AHP 2008). Die AHP 2008 beschrieben in Ziffer 31 Abs. 3 bis 4 Regelfälle, bei denen nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen aG als erfüllt anzusehen waren und die bei der Beurteilung einer dort nicht erwähnten Behinderung als Vergleichsmaßstab dienen konnten. Sie gaben an, welche Funktionsstörungen in welcher Ausprägung vorliegen müssen, bevor angenommen werden konnte, dass ein Behinderter außergewöhnlich gehbehindert ist. Die Festlegungen der Anhaltspunkte sind von der Rechtsprechung – als antizipierte Sachverständigengutachten – bei der Frage der Beurteilung der Zuerkennung von Merkzeichen zugrundegelegt worden.
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Eine entsprechende Funktion erfüllen auch die nunmehr in Teil D Ziffer 3 der Versorgungsmedizinischen Grundsätze dargelegten Regelungen (für eine Anwendung der in den Versorgungsmedizinischen Grundsätzen dargelegten Anforderungen auch Bayerisches LSG Urteil vom 26.09.2012 – L 15 SB 46/09 = juris Rn. 61; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Urteil vom 19.12.2011 - L 13 SB 12/08 = juris Rn. 29; Landessozialgericht Berlin-Brandenburg Urteil vom 16.11.2011 – L 11 SB 67/09 = juris Rn. 34; wohl auch LSG Niedersachsen-Bremen Urteil vom 09.08.2012 – L 10 SB 10/12 = juris Rn. 15; LSG NRW Urteil vom 13.07.2010 – L 6 SB 133/09 = juris Rn. 29 – zu aG; a.A. offensichtlich LSG Baden-Württemberg Beschluss vom 12.10.2011 – L 6 SB 3032/11 = juris Rn. 39 ff.; Vogl in: jurisPK-SGB IX, § 146 SGB IX Rn. 5). Da der Kläger jedenfalls nicht in eine der oben genannten Beispielsgruppen fällt, war zu klären, ob er dem ausdrücklich beschriebenen Personenkreis gleichzustellen ist. Eine Gleichstellung muss dann erfolgen, wenn ein Betroffener in seiner Gehfähigkeit in ungewöhnlichem Masse eingeschränkt ist und er sich nur unter eben so großen Anstrengungen wie die erstgenannte Gruppe von Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R = juris Rn. 11 ff.; BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R = juris Rn. 15 ff.; BSG Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 1/97 R =juris Rn.18) Die damit erforderliche Bildung eines Vergleichsmaßstabes birgt freilich Schwierigkeiten, weil die verschiedenen, im Gesetz ausdrücklich aufgezählten Gruppen in ihrer Wegfähigkeit nicht homogen sind und einzelne Vertreter dieser Gruppe - bei gutem gesundheitlichem Allgemeinzustand, hoher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung - ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines Nichtbehinderten erreichen können. Auf die individuelle prothetische Versorgung der aufgeführten behinderten Gruppen kann es grundsätzlich aber nicht ankommen (vgl. dazu Bundessozialgericht, a.a.O.) Im Ergebnis ist hinsichtlich der Gleichstellung bei dem Restgehvermögen des Betroffenen anzusetzen. Insoweit stellen die maßgeblichen straßenrechtlichen Vorschriften darauf ab, ob ein schwerbehinderter Mensch nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung - und zwar praktisch von den ersten Schritten - außerhalb seines Kraftfahrzeuges sich bewegen kann. Wegen der begrenzten städtebaulichen Möglichkeiten, Raum für Parkerleichterungen zu schaffen, sind hohe Anforderungen zu stellen, um den Kreis der Begünstigten klein zu halten (BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R = juris Rn. 11 ff.; BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R = juris Rn. 15 ff.; BSG Urteil vom 11.03.1998 - B 9 SB 1/97 R =juris Rn.18) Bei der erforderlichen tatrichterlichen Feststellung, ob und ggf. in welchem Umfang körperlichen Anstrengungen vorhanden sind, kann dabei nicht allein auf eine gegriffene Größe wie die schmerzfrei zurückgelegte Wegstrecke abgestellt werden. Zur Klärung dieser Frage sind Indizien wie Erschöpfungszustände, Luftnot, Schmerzen oder ähnliches heranzuziehen (vgl. BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 5/05 R = juris Rn. 11 ff.; BSG Urteil vom 29.03.2007 - B 9a SB 1/06 R = juris Rn. 15 ff.). So lässt sich ein vergleichbares Erschöpfungsbild u.a. aus der Dauer der erforderlichen Pause sowie den Umständen herleiten, unter denen der Schwerbehinderte nach der Pause seinen Weg fortsetzt. Nur kurzes Pausieren - auch auf Großparkplätzen - mit anschließendem Fortsetzen des Weges ohne zusätzliche Probleme ist im Hinblick auf den durch die Vergleichsgruppen gebildeten Maßstab zumutbar. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, dass das ein Abstellen auf ein starres Kriterium keine sachgerechte Beurteilung ermöglicht, weil es eine Gesamtschau aller relevanten Umstände eher verhindert (BSG, a.a.O.). Unter Berücksichtigung der genannten Kriterien liegen beim Kläger die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG nicht vor. Die Gutachterin Dr. Q hat beschrieben, dass der Kläger beim Gehen im Barfußgang eine deutliche Anteflektionshaltung einnimmt und das Gangbild verlangsamt ist. Beim Aufrichten des Rumpfes zeigte sich ein Zittern bei Anstrengung. Die Schrittfolge ist langsam, der Kläger hielt sich am Mobiliar fest. Unter Zuhilfenahme des Rollators konnte nach Auffassung der Gutachterin eine ausreichende vordere Abstützung erfolgen. Der Kläger legte eine Wegstrecke von 100 m verlangsamt zurück, wobei er eine deutliche Anstrengung zeigte. Der Kläger verwendete bei der Gangprüfung hinten offene Schlappen – also kein nur ansatzweise adäquates Schuhwerk. Eine Vergleichbarkeit in der Anstrengung entsprechend Personen aus obiger Vergleichsgruppe verneinte die Gutachterin, insbesondere hätten sich keine besondere Luftnot oder kardiale Erschöpfungszeichen gezeigt. Dr. X beschreibt das Gangbild (unklar ist hierbei ob mit oder ohne Hilfsmittel) als schleppend und häufig pausierend. Im Übrigen nimmt er Bezug auf den Vortrag des Klägers, wonach er sich nur mit dem Rollator fortbewegen könne und bei einer Strecke von 300 Metern alle 50 bis 100 Meter stehen bleiben müsse. Dr. X beschreibt überdies beim Stehen ebenfalls einen Anstrengungstremor, der indes beim Gehen mit dem Rollator nicht mehr auffiel. Die vom Kläger angegebene Limitation der Gehstrecke wird vom Gutachter Dr. X nicht in Frage gestellt oder erkennbar überprüft. Zuzustimmen ist dem Gutachter, dass die Kriterien für die Zuerkennung des Merkzeichens aG nicht besonderes trennschaft definiert sind und dass es vor diesem Hintergrund darauf ankommt, die Gesamteinschränkung individuell – ggf. durch Begutachtung – einzuschätzen. Soweit der Gutachter dann das Vorliegen der Voraussetzungen bejaht, ist dies nach Auffassung der Kammer nicht hinreichend durch entsprechende nachprüfbare Befunde belegt. Es wird – hierauf wurde bereits an zahlreichen anderen Stellen hingewiesen – vom Gutachter lediglich der subjektive Leidensvortrag des Klägers der Einschätzung zugrunde gelegt. Dies kann die Kammer nicht überzeugen. Die Kammer ist nach alledem aufgrund der Feststellungen der Gutachterin Dr. Q, derjenigen des MDK Nordrhein im Pflegegutachten vom 03.04.2014 und nicht zuletzt aufgrund des Eindrucks, den der Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung, insbesondere im Rahmen der dort vorgenommenen Inaugenscheinnahme des Gangbilds, davon überzeugt, dass der Kläger trotz seiner zweifelsohne schweren körperlichen Beeinträchtigungen nicht mit der oben genannten Personengruppe gleichzustellen ist. Insbesondere die geforderte große Anstrengung ab dem ersten Schritt war für die Kammer, allesamt freilich medizinische Laien, auch unter Berücksichtigung der vorhandenen Beschwerden des Klägers beim Aufstehen aus dem Stuhl bis zur Zuhilfenahme des Rollators, nicht zu erkennen. Mit dem Rollator ging der Kläger zwar vorne übergebeugt und langsam, aber durchaus stetig und ohne erkennbare besondere Anstrengung. Soweit der Kläger hiernach erklärt hat, er sei nassgeschwitzt, war Schweiß jedenfalls an den sichtbaren Stellen wie insbesondere im Gesicht nicht erkennbar. Auch bestand unmittelbar nach dem Gehtest keine erkennbare besondere Kurzartmigkeit. Die Kammer möchte nicht Abrede stellen, dass der Kläger u.U. auch gelegentlich stürzt oder zu stürzen droht. Auch dies rechtfertigt indes nach Auffassung der Kammer ebenfalls noch nicht die Zuerkennung des Merkzeichens aG. Vor dem Hintergrund der strengen Anforderungen an die Vergabe des Merkzeichens begründet eine Sturzgefahr nur dann die Inanspruchnahme des Merkzeichens aG, wenn diese Gefahr so ausgeprägt wäre, dass aus der objektiven und medizinisch begründeten Sicht eines vernünftigen Behinderten, der sich in der gleichen Situation wie der Kläger befindet, der Kläger dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen wäre (vgl. Bayerisches LSG Urteil vom 20.05.2014 – L 15 SB 226/13 = juris Rn. 116 f.). Dies ist vorliegend nicht der Fall. Das Erfordernis eines Rollstuhls aus diesem Grunde wurde indes von keinem der Gutachter gesehen. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 183,193 SGG.

RechtsgebietEntschädigungs-/Schwerbehindertenrecht