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· Fachbeitrag · Betreuungsverfahren

Anhörung vor dem Beschwerdegericht

von RA Prof. Dr. Tim Jesgarzewski, FA FamR, Prof. Dr. Jesgarzewski & Kollegen Rechtsanwälte, Osterholz-Scharmbeck, FOM Hochschule Bremen

| Durch die Anordnung einer Betreuung wird tief in die Rechtsposition des Betroffenen eingegriffen. Vor einer solchen richterlichen Entscheidung ist daher dem Betroffenen umfassendes rechtliches Gehör zu geben. Dazu dient ganz wesentlich die persönliche Anhörung des Betroffenen, wie der BGH in einer aktuellen Entscheidung erneut betont. |

 

Ist dem Betroffenen das Sachverständigengutachten nicht rechtzeitig vor dem Anhörungstermin überlassen worden, leidet die Anhörung an einem wesentlichen Verfahrensmangel. Ausnahmsweise kann von einer Bekanntgabe des Gutachtens an den Betroffenen entsprechend § 288 Abs. 1 FamFG abgesehen werden, um erhebliche Nachteile für seine Gesundheit zu vermeiden. Hierzu sind umfassende tatrichterliche Feststellungen zu treffen.

(Abruf-Nr. 221020)

 

Sachverhalt

Die Betroffene wehrt sich gegen die für sie eingerichtete Betreuung. Sie leidet an einer paranoiden Schizophrenie, wegen derer sie ihre Angelegenheiten nicht mehr selbst besorgen kann. Das AG hat daher eine Betreuung mit einem umfassenden Aufgabenkreis und auch einen Einwilligungsvorbehalt für den Bereich der Vermögensangelegenheiten angeordnet. Zur Durchführung wurde ein Berufsbetreuer und eine Ersatzbetreuerin bestimmt.

 

Das LG hat die Beschwerde der Betroffenen zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich die Betroffene mit der Rechtsbeschwerde. Die Betroffene rügt, dass das LG ‒ ohne sie persönlich anzuhören ‒ über ihre Beschwerde gegen den amtsgerichtlichen Beschluss entschieden hat.

Entscheidungsgründe

Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wurde der landgerichtliche Beschluss aufgehoben und zur weiteren Sachaufklärung und erneuten Entscheidung zurückverwiesen (BGH 27.1.21, XII ZB 411/20, Abruf-Nr. 221020).

 

Persönliche Anhörung im Beschwerdeverfahren

Das Betreuungsgericht habe die Betroffene vor der Bestellung eines Betreuers persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihr zu verschaffen. Dies gelte grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren.

 

Beachten Sie | Von einer erneuten Anhörung der Betroffenen könne nur dann ausnahmsweise abgesehen werden, wenn die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung zwingender Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist und keine neuen Erkenntnisse zu erwarten sind.

 

Bekanntgabe des Sachverständigengutachtens

Eine solche ordnungsgemäße Anhörung hätte vorliegend vorausgesetzt, dass der Betroffenen das Sachverständigengutachten in ausreichender Weise vor der Anhörung bekannt gegeben wurde. Die Betroffene hätte vor der Entscheidung so rechtzeitig im Besitz des schriftlichen Sachverständigengutachtens sein müssen, dass ihr hinreichend Zeit für eine eigene Stellungnahme verblieben wäre. Da dies vorliegend nicht der Fall gewesen sei, sei die Anhörung fehlerhaft erfolgt.

 

Auch die Bekanntgabe des Gutachtens an den Verfahrenspfleger ersetze eine Bekanntgabe an die Betroffene nicht, denn der Verfahrenspfleger sei nicht Vertreter der Betroffenen im Verfahren.

 

PRAXISTIPP | Durch eine Bekanntgabe an den Verfahrenspfleger könne allenfalls dann ein notwendiges Mindestmaß rechtlichen Gehörs sichergestellt werden, wenn das Betreuungsgericht von der vollständigen schriftlichen Bekanntgabe eines Gutachtens an die Betroffenen entsprechend § 288 Abs. 1 FamFG absieht, weil zu besorgen ist, dass die Bekanntgabe die Gesundheit der Betroffenen schädigen oder zumindest ernsthaft gefährden werde. Zusätzlich müsse die Erwartung gerechtfertigt sein, dass der Verfahrenspfleger mit der Betroffenen über das Gutachten spricht. Letzteres setze in der Regel einen entsprechenden Hinweis an den Verfahrenspfleger voraus.

 

Vorliegend habe die Sachverständige zwar die Befürchtung geäußert, dass die Betroffene einige Passagen aus dem Gutachten als massive Kränkung verarbeiten wird. Daher sei ihr dieses besser nicht zu überlassen. Die Sachverständige hat jedoch auch ausgeführt, dass eine Verweigerung der Herausgabe an die Betroffene deren Misstrauen verschärfen würde, was ebenfalls die Kooperation erschweren könnte. Der Betroffenen könnte daher der Inhalt des Gutachtens mitgeteilt werden, ohne dass hiervon erhebliche Nachteile für ihre Gesundheit befürchtet werden müssten.

 

Vor diesem Hintergrund habe in der fehlenden Überlassung des Gutachtens an die Betroffene eine Gehörsverletzung gelegen, weshalb das Beschwerdegericht nicht von einer erneuten Anhörung absehen durfte. Da dem Verfahrenspfleger kein ausdrücklicher Hinweis erteilt worden war, das Gutachten mit der Betreuten zu besprechen, bleibe es bei diesem Ergebnis.

Relevanz für die Praxis

Sind von einer Anhörung neue Erkenntnisse zu erwarten, hat eine Anhörung stattzufinden. Das kann dazu führen, dass im Rahmen eines Betreuungsverfahrens wiederholte Anhörungen erfolgen müssen. Dieser Grundsatz gilt auch für das Beschwerdegericht.

 

PRAXISTIPP | Der verfahrensrechtliche Grundsatz des rechtlichen Gehörs als Ausprägung des Art. 103 Abs. 1 GG ist folglich durch die Betreuungs- und Beschwerdegerichte sehr ernst zu nehmen. Ein Absehen von der Anhörung darf nur ganz ausnahmsweise erfolgen. Holt das Betreuungsgericht ein Sachverständigengutachten ein, ist dieses praktisch eine ganz wesentliche Grundlage der richterlichen Entscheidungsfindung. Um dem Betroffenen vor der durchzuführenden Anhörung die Gelegenheit zur Kenntnis- und Stellungnahme zu geben, muss eine rechtzeitige Bekanntgabe des Gutachtens an ihn erfolgen (siehe zuletzt etwa BGH 14.10.20, XII ZB 244/20).

 

Beachten Sie | Von einer Überlassung des Gutachtens an den Betroffenen darf das Betreuungsgericht nur dann ausnahmsweise absehen, wenn erhebliche gesundheitliche Nachteile zu besorgen sind. Hierzu sind umfassende tatrichterliche Feststellungen zu treffen.

 

In der vorliegenden Entscheidung war das gerade nicht der Fall. Die Sachverständige hat zwar Nachteile für die Betroffene beschrieben, im Ergebnis aber formuliert, dass eine Bekanntgabe an die Betroffene erfolgen könne. Da das Betreuungsgericht mithin rechtsfehlerhaft von einer Bekanntgabe des Gutachtens an die Betroffene abgesehen hat, war die Anhörung fehlerhaft.

 

Somit durfte das Beschwerdegericht nicht von einer erneuten Anhörung absehen, da auch dem Verfahrensbeistand nicht der ausdrückliche Hinweis erteilt worden war, das Gutachten mit der Betroffenen vorab zu erörtern.

 

 

Weiterführende Hinweise

  • Anhörung und Beschwerderecht zur Betreuung: BGH SR 21, 5
  • Persönliche Anhörung auf Basis aller Tatsachen erforderlich ‒ Corona ändert daran nichts: BGH SR 21, 57
Quelle: Ausgabe 06 / 2021 | Seite 97 | ID 47378233