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· Fachbeitrag · Vorgaben aus Europa für das deutsche Umsatzsteuerrecht

MwStSystRL: Was passiert, wenn die europäischen Vorgaben vom Fiskus pflichtwidrig (nicht) umgesetzt wurden?

| Die MwSystRL richtet sich als europäische Richtlinie ausschließlich an die Mitgliedstaaten. Damit verpflichtet sie den europäischen Bürger nicht unmittelbar, gibt ihm aber im Grundsatz auch keine eigene Rechtsposition. Die MwStSystRL verpflichtet lediglich die Mitgliedstaaten, ihren Inhalt in das jeweilige nationale Umsatzsteuerrecht zu transferieren (Art. 249 Abs. 3 EGV). |

Unmittelbare Wirkung von nicht oder unzutreffend umgesetzten Richtlinien

Ist der nationale Gesetzgeber hinsichtlich der Umsetzung einer europäischen Richtlinie weitgehend frei und nur an deren Inhalt und Vorgabe der Umsetzungszeit gebunden, so stellt sich die Frage, welche Rechtsfolgen eintreten, wenn eine europäische Richtlinie nicht, nicht in der hierfür vorgesehenen Zeit oder nicht vollständig umgesetzt wird.

 

Keine belastende Wirkung für den Bürger im Verhältnis zum Staat

Der pflichtwidrig unterlassende Staat kann sich nie zum Nachteil des Bürgers auf eine nicht umgesetzte europäische Richtlinie berufen; ansonsten müsste der Bürger für die negativen Folgen des Fehlverhaltens seines Mitgliedstaates einstehen. Letzteres darf nicht sein, denn der Staat und nicht der einzelne Bürger hat Einfluss auf die rechtzeitige Umsetzung des europäischen Rechts in nationales Recht. Der EuGH hat daher bereits im Urteil vom 26.2.1986 (Rs. C-152/84, M. H. Marshall gegen Southhampton and South-West Hampshire Area Health Authority, Slg. 1986 S. 723) ausdrücklich festgestellt, dass sich der Bürger zwar gegenüber dem Staat unter den oben genannten Voraussetzungen auf die nicht rechtzeitig umgesetzte Richtlinie berufen kann. Die staatlicherseits unterlassene Umsetzung einer Richtlinie schaffe aber selbst keine Verpflichtung für den einzelnen Bürger gegenüber dem Staat. Eine nicht rechtzeitig umgesetzte Richtlinie hat daher keine „Direkt“-Wirkung zulasten des Bürgers (so auch EuGH 19.1.82, C-8/81, Ursula Becker, Slg. 1982 S. 53).

 

  • Beispiele
  • 1. Nach damaliger Verwaltungsauffassung (Abschn. 202 Abs. 4 Satz 2 UStR 2005) genügte eine Eingangsrechnung den formalen Voraussetzungen für den Vorsteuerabzug, wenn neben dem Rechnungsbetrag (Bruttobetrag) der in diesem enthaltene Steuerbetrag vermerkt war. Der BFH teilte diese ‒ für den Steuerbürger günstige und in der Praxis seit 1968 bewährte ‒ Rechtsauffassung unter Hinweis auf das Gemeinschaftsrecht nicht und betrachtete den zusätzlichen Ausweis des Nettoentgelts in der Rechnung als zwingende Voraussetzung für den Vorsteuerabzug (BFH 27.7.00, V R 55/99, BFH/NV 2001, 130). An diese Rechtsprechung knüpft die seit dem 1.1.2002 gültige Neufassung des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 UStG an.

 

  • 2. Nach Art. 22 Abs. 3 Buchstabe a der 6. EG-RL besteht eine Verpflichtung zur Rechnungslegung auch bei steuerfreien Leistungen an andere Unternehmer sowie bei Leistungen an eine nicht steuerpflichtige juristische Person. Entsprechend sieht Art. 22 Abs. 3 Buchstabe b Unterabsatz 1 der 6. EG-RL vor, dass in die Rechnung ggf. ein Hinweis auf die Steuerbefreiung aufzunehmen ist. Diese Verpflichtung hat das Steueränderungsgesetz 2001 (StÄndG 2001 vom 20.12.01, BGBl I 01, 3794) durch eine Neufassung des § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 UStG umgesetzt. So wird auch gewährleistet, dass in den Fällen des § 13b UStG der Leistungsempfänger Kenntnis über eine Steuerbefreiung erlangt.

 

  • 3. Die Vorschriften über die umsatzsteuerliche Rechnungsstellung waren innerhalb der EG bis 2003 nur ansatzweise harmonisiert. Entsprechend unterschiedlich waren daher die Rechnungsanforderungen der einzelnen Mitgliedstaaten, was grenzüberschreitenden unternehmerischen Betätigungen wenig dienlich war. Auch wurden die „alten“ Vorgaben der 6. EG-RL dem technischen Fortschritt nicht mehr gerecht; insbesondere war eine elektronische Rechnungsstellung nicht vorgesehen. Aus diesem Grund verabschiedete der Rat der Europäischen Union am 20.12.2001 eine neue Richtlinie zur Änderung der 6. EG-RL mit dem Ziel, die Rechnungsstellung zu vereinfachen und zu modernisieren sowie insbesondere die obligatorischen Rechnungsangaben zu harmonisieren. Die Richtlinie war von den Mitgliedstaaten spätestens zum 1.1.2004 in nationales Recht umzusetzen. Deutschland hat dieser Verpflichtung durch das StÄndG 2003 entsprochen.
 

Begünstigende Wirkung für den Bürger im Verhältnis zum Staat

Da die Wirkung einer europäischen Richtlinie für und gegen den Bürger erst mit deren Umsetzung in nationales Recht eintritt, könnten Mitgliedsländer eine missliebige europäische Rechtslage dadurch vermeiden, dass sie eine Richtlinie pflichtwidrig nicht umsetzen. Ein wirksames „Druckmittel“, mit dem die Europäischen Gemeinschaften das Mitgliedsland zur Umsetzung zwingen könnten, gibt es formell nicht. Der EuGH hat dennoch mit Urteil vom 5.4.1979 ein probates Mittel gefunden, um einem derartigen Fehlverhalten vorzubeugen (EuGH 5.4.79, C-148/78, Ministère public/Tulio Ratti, Slg. 1979, S. 1629). Er gewährt dem europäischen Bürger ausnahmsweise die unmittelbare Wirkung der europäischen Richtlinie, obschon das europäische Mitgliedsland diese eben (noch) nicht in nationales Recht umgesetzt hat.

 

  • Sachverhalt des Besprechungsurteils (EuGH-Urteil „Ratti“)

Richtlinie 73/173/EWG des Rates zur Angleichung der Rechts- und Verwaltungsvorschriften der Mitgliedstaaten für die Einstufung, Verpackung und Kennzeichnung von Zubereitungen gefährlicher Stoffe (Lösungsmittel, ABl. 1973 L. Nr. 189, S. 7 ff.) enthält Kennzeichnungsvorschriften für gefährliche Stoffe. Das italienische Warenkennzeichnungsrecht sieht gegenüber der europäischen Richtlinie strengere Kennzeichnungsvorschriften und sogar die Bestrafung für den Fall vor, dass der Verpflichtete dieser strengen Kennzeichnungspflicht nicht nachkommt.

 

Ein italienisches Gericht verurteilte Herrn Ratti wegen eines Verstoßes gegen die strengeren italienischen Kennzeichnungsvorschriften und ließ dabei das mildere europäische Recht der Richtlinie unbeachtet. Der italienische Gesetzgeber hatte die europäischen Richtlinien nicht in nationales Recht umgesetzt, obschon die 18-monatige Frist zur Umsetzung der Richtlinie abgelaufen war.

 

Der EuGH bejaht grundsätzlich die Möglichkeit der nationalen Gesetzgeber, strengere Vorschriften neben das europäische Recht zu stellen. In diesem Fall verstoßen die strengeren nationalen Regelungen jedoch gegen das europäische Recht. Im Urteilsfall widersprechen die italienischen Vorschriften insbesondere dem Wortlaut, der Systematik und dem Zweck der Richtlinie, das Kennzeichnungsrecht für die oben genannten Produkte für den gesamten europäischen Markt zu vereinheitlichen. So würden Verbraucher irritiert und gefährdet, ließe man unterschiedliche nationale Kennzeichnungen für gefährliche, gesundheitsschädliche Produkte in jedem einzelnen europäischen Mitgliedstaat doch wieder zu. Somit gebührt der Richtlinie der Vorrang gegenüber dem italienischen Gesetz.

 

Nach Ansicht des EuGH ist es ohne Bedeutung, dass die Richtlinie selbst grundsätzlich keine unmittelbare Wirkung gegenüber Bürgern hat und auch nicht in nationales (hier: italienisches) Recht umgesetzt war: Denn der italienische Staat habe die Richtlinien 73/173/EWG nicht fristgerecht umgesetzt und diese gewähre dem Bürger die unbedingte und hinreichend bestimmte Vergünstigung geringerer Kennzeichnungsanforderungen. Italien durfte sich daher nach Ablauf der Umsetzungsfrist für die Richtlinie nicht zulasten des Bürgers auf sein eigenes Fehlverhalten, nämlich der nicht fristgerechten Umsetzung der Richtlinien in das italienische Recht, berufen. Italienische Gerichte können also nicht mehr die strengere (gegen das Richtlinie-Recht verstoßende) italienische Norm anwenden. Herr Ratti war somit freizusprechen.

 

Übersicht / 

Eine europäische Richtlinie wirkt nach Krimphove (Europarecht Basiswissen) dann unmittelbar zugunsten des europäischen Bürgers, wenn

  • ☑ die (nicht umgesetzte) Richtlinie
  • ☑ ein dem Einzelnen zustehendes Recht im Sinne einer den Bürger individuell begünstigten Rechtsposition enthält und
  • ☑ die Richtlinien-Vorschrift diese hinreichend klar und bestimmt zum Ausdruck bringt („ self executing norm“).
 

Der EuGH verfolgt mit seiner Rechtsprechung folgenden Gedanken: Es wäre ein Missbrauch des Rechts, wenn sich der Staat auf sein eigenes pflichtwidriges Verhalten (nämlich die nicht fristgerechte Umsetzung der europäischen Richtlinie) berufen könnte, um die Wirkung der europäischen Richtlinien dem Bürger (dem diese bei pflichtgemäßem Verhalten zugutegekommen wäre) zu versagen.

 

PRAXISTIPP | Mit dieser Rechtsprechung soll verhindert werden, dass der Staat aus der Nichtbeachtung des Gemeinschaftsrechts Nutzen ziehen kann.

 

Schon 1982 erkannte der EuGH unter den o. a. Voraussetzungen auch die unmittelbare Wirkung bestimmter Regelungen der 6. EG-RL (EuGH 19.1.82, C-8/81, Ursula Becker, EuGHE 1982 S. 53):

 

  • Sachverhalt des Besprechungsurteils (EuGH-Urteil „Becker“)

Die Klägerin führte im Jahre 1979 Umsätze aus, für die der deutsche Gesetzgeber noch nicht die nach der 6. EG-RL vorgeschriebene Steuerfreiheit in das UStG übernommen hatte. Sie erreichte vor Gericht durch die Vorabentscheidung des EuGH die unmittelbare Anwendung dieser Steuerbefreiungsvorschrift vor der im damaligen UStG noch vorgeschriebenen Steuerpflicht.

 

Die sicherlich populärsten deutschen Fälle der unmittelbaren Drittwirkung der damaligen 6. EG-RL zugunsten des Steuerpflichtigen betrafen den Vorsteuerabzug aus Reisekosten und Repräsentationsaufwendungen.

 

Keine belastende Wirkung im Verhältnis von Bürgern untereinander

Ebenso wie eine unmittelbare Wirkung einer nicht umgesetzten Richtlinie dem Bürger im Verhältnis zum Staat nicht belasten darf, kann die unmittelbare Wirkung einer staatlicherseits pflichtwidrig nicht umgesetzten Richtlinie auch nicht die Bürger in ihrem Verhältnis untereinander nachteilig treffen. Denn auch in dieser Konstellation trifft den Bürger keine Verantwortung für die Nichtumsetzung der Richtlinie. Dieses stellte der EuGH im Urteil vom 14.7.1994 klar (EuGH 14.7.94, C-91/92, Paola Faccini Dori, Slg. 1994 S. 3225):

 

  • Sachverhalt des Besprechungsurteils (EuGH-Urteil „Dori“)

Vor dem Hauptbahnhof von Milano spricht ein Straßenhändler Frau Dori an. Diese bestellt darauf kurzerhand bei ihm einen Sprachkurs. Als sie sich zu Hause besinnt, möchte sie das Geschäft rückgängig machen. Die Richtlinie 88/557/EWG sieht einen solchen Widerruf bei „Haustür- und Straßengeschäften“ vor, ist jedoch vom italienischen Gesetzgeber pflichtwidrig nicht in nationales Recht umgesetzt worden.

 

Würde die nicht umgesetzte Richtlinie eine unmittelbare Wirkung entfalten, wären der Straßenhändler und/oder das den Sprachkurs vertreibende Unternehmen durch die Möglichkeit des Widerrufs des Geschäfts benachteiligt. Das darf nicht sein, da beiden Beteiligten nicht der Vorwurf der nur verspäteten oder nicht erfolgten Umsetzung der Richtlinie gemacht werden kann. Der EuGH verneint daher eine unmittelbare Wirkung pflichtwidrig nicht umgesetzter europäischer Richtlinien auch im Verhältnis des Bürgers zu einem anderen Bürger (horizontales Verhältnis). Frau Dori kann daher keine Rechte aus den nicht umgesetzten Richtlinien herleiten. Sie durfte somit den Kauf des Sprachkurses nicht widerrufen und musste ihn auch vollständig bezahlen.

 

PRAXISTIPP | Es gibt keine belastende Wirkung einer pflichtwidrig nicht umgesetzten europäischen Richtlinie zum Nachteil des Bürgers. Weder der Staat („vertikales Verhältnis“) noch ein anderer Bürger („horizontales Verhältnis“) können sich zulasten eines Bürgers auf eine vermeintliche unmittelbare Wirkung einer nicht umgesetzten europäischen Richtlinie berufen.

 

Der „europäische Schadenersatzanspruch“

Grundsätzliche Überlegung zum Schadenersatz wegen richtlinienwidrigen Verhaltens

Das Ergebnis im Fall Dori erscheint zunächst unbefriedigend; denn nun trüge doch wieder ein Bürger einen Schaden aus dem Versäumnis eines Mitgliedstaates. Der EuGH korrigiert dieses Ergebnis und gibt dem Bürger, der nun durch die Nichtumsetzung der Richtlinie geschädigt ist, einen eigenen Schadenersatzanspruch gegenüber dem pflichtwidrig nicht umsetzenden Staat.

 

Übersicht / 

Dieser Schadenersatzanspruch hat nach Krimphove (Europarecht Basiswissen) folgende Voraussetzungen:

 

  • ☑ Ein Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft hat
  • ☑ eine europäische Richtlinie
  • ☑ pflichtwidrig (auf ein Verschulden kommt es nicht an, vgl. EuGH 5.3.1996, C-46/93, brasserie du pêcheur, Slg. I 1996 S. 1029, Rn. 78 ff.)
  • ☑ in der hierfür vorgeschriebenen Zeit (i. d. R. zwei bis drei Jahre)
  • ☑ nicht in sein nationales Recht umgesetzt.
  • ☑ Die europäische Richtlinien erhält eine inhaltlich hinreichend bestimmte Norm,
  • ☑ die dem Bürger einen eigenen unmittelbaren Anspruch im Sinne einer eigenen Rechtsposition gewährt.
  • ☑ Dieser Anspruch ist nicht vom Eintritt weiterer Bedingungen abhängig (= self executing norm).
  • ☑ Es muss dem Bürger ein Schaden entstanden sein.
  • ☑ Die Nichtumsetzung der Richtlinie ist für den Eintritt des Schadens und seiner Höhe ursächlich.
 

Im Fall Dori hat der EuGH Frau Dori einen Schadenersatzanspruch in Höhe des Kaufpreises für den Sprachkurs gegenüber dem italienischen Staat zugesprochen. Denn Italien hat die Richtlinie, die Frau Dori bei deren pflichtgemäßer Umsetzung einen eigenen, unbedingt und auch hinreichend bestimmten Anspruch auf Widerruf dieses „Haustürgeschäftes“ gäbe, nicht ‒ wie es seine Pflicht gewesen wäre ‒ in der hierfür vorgeschriebenen Umsetzungsfrist in nationales Recht umgesetzt. Den Schaden, den Frau Dori bei der ganzen Sache hatte, ist der Kaufpreis, den sie ‒ wegen der Nichtumsetzung der Richtlinie ‒ nun an den Händler oder den Hersteller zahlen muss. Dieser Schaden ist auch durch die Nichtumsetzung der Richtlinie verursacht.

 

PRAXISTIPP | Bei der Überprüfung von Sachverhalten nicht umgesetzter Richtlinien geht der EuGH in zwei Schritten vor:

 

  • 1. Zunächst verneint er eine unmittelbar den Bürger (im horizontalen Verhältnis) belastende unmittelbare Wirkung der Richtlinie.

 

  • 2. Dann spricht er demjenigen Bürger, zu dessen Gunsten die europäische Richtlinie (Schutz-)Rechte beinhaltet, einen Schadenersatzanspruch zu.

 

Bei dieser Vorgehensweise ändert sich die Qualität des Bürgeranspruchs von einem ‒ in der Richtlinie ausgedrückten ‒ Leistungs- oder Unterlassensanspruch wandelt er sich in einen Schadenersatzanspruch.

 

Schadenersatz dem Grunde nach

Die vorstehenden Gedanken der Schadenersatzrechtsprechung überträgt der EuGH auf die Mehrwertsteuer. Im EuGHMR-Urteil vom 16.4.2002 EuGHMR (Nr. 36677/97, S.A. Dangeville ./. Frankreich) wurde der Klägerin ein Entschädigungsanspruch wegen rechtskräftig verweigerter Erstattung richtlinienwidrig erhobener Mehrwertsteuer zuerkannt.

 

  • Sachverhalt des Besprechungsurteils (EuGHMR, Fall „Dangeville“)

Die Klägerin (S. A. Dangeville) führte im Jahre 1978 in Frankreich Umsätze aus, für die der französische Gesetzgeber noch nicht die nach der 6. EG-RL vorgeschriebene Steuerfreiheit übernommen hatte.

 

Eine Klage auf Rückzahlung der zunächst entrichteten Mehrwertsteuer hatte in letzter Instanz beim französischen Staatsgerichtshof (Conseil d´État) keinen Erfolg. Dieser vertrat in seiner Entscheidung vom 19.3.1986 die Auffassung, dass es dem Bürger nicht möglich sei, sich unmittelbar auf eine EG-Richtlinie zu berufen, wenn eine Vorschrift nationalem Recht entgegenstehe.

 

Durch eine Verwaltungsanordnung hatte Frankreich im Urteilszeitpunkt bereits darauf verzichtet, Mehrwertsteuer auf Umsätze zu erheben, die denen der Klägerin entsprachen und im Streitjahr ausgeführt worden waren. Auf eine zweite Klage der Klägerin hin verurteilte der französische Verwaltungsgerichtshof (cour administrative d´appel) den französischen Staat daher zur Erstattung der auf die Umsätze entfallenden Mehrwertsteuer. Dieses Urteil hob der Staatsgerichtshof wegen „gegenentgegenstehender Rechtskraft“ in seinem Urteil vom 30.10.1996 wieder auf.

 

Die Klägerin machte daraufhin vor dem EuGHMR eine Verletzung ihres durch Art. 1 Zusatzprotokoll EMRK geschützten Eigentumsrechts geltend.

 

Der EuGHMR gab der Klage statt. Die Forderung der Klägerin gegenüber dem Staat über die zu Unrecht abgeführte Mehrwertsteuer sei ein Vermögenswert und somit dem Wesen nach Eigentum. Dieses Eigentum sei sowohl durch das Unterlassen des französischen Gesetzgebers als auch durch die letztlich erfolglosen Vorverfahren und das Fehlen innerstaatlicher Rechtsmittel, die einen ausreichenden Schutz des Rechts auf Achtung ihres Eigentums ermöglichen, unverhältnismäßig und damit rechtswidrig beeinträchtigt worden. Aufgrund dieser Erwägungen wurden der Klägerin gem. Art. 41 EMRK sowohl Schadenersatz als auch Kosten- und Auslagenersatz zugesprochen.

 

Schadenersatz der Höhe nach

Zur Höhe eines möglichen Schadenersatzanspruchs gibt das ‒ allerdings nicht zur Umsatzsteuer ergangene ‒ Urteil des EuGH vom 8.3.2001 (C-397/98, C-410/98, Metallgesellschaft u. a., EuGHE 2001I-727) folgende Eckdaten vor:

 

Übersicht / 

Der Anspruch umfasst

  • ☑ die richtlinienwidrig erhobene Steuer;
  • ☑ den Ausgleich anderer finanzieller Nachteile (insbes.: Verzinsung von Erstattungsforderungen);
  • ☑ die Kosten und Auslagen der Rechtsverfolgung;
  • ☑ die Steuerberatungskosten nebst Zinsen für ein erfolgreich abgeschlossenes (unnötiges) Einspruchsverfahren.
 

Verfahrensfragen

Das Gemeinschaftsrecht lässt als Verfahren mit dem Ziel der Erstattung richtlinienwidrig entrichteter Mehrwertsteuerbeträge sowohl die Anfechtung der Steuerfestsetzung (Erstattungsklage) als auch die Haftungsinanspruchnahme des Staates (Schadenersatzklage) zu; die Entscheidung über das richtige Rechtsmittel obliegt den Klägern (EuGH 8.3.01, C-397/98, C-410/98, Metallgesellschaft u. a., EuGHE 2001I-727).

 

Da Gemeinschaftsregelungen über die Erstattung rechtsgrundlos erhobener nationaler Abgaben fehlen, ist es Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahrensmodalitäten der Klage zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenen Rechte gewährleisten sollen. Dabei ist zu beachten, dass die Verfahrensmodalitäten nicht weniger günstig ausgestaltet sind als die entsprechender innerstaatlicher Klagen (Äquivalenzgrundsatz) und die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich gemacht oder übermäßig erschwert wird (Effektivitätsgrundsatz, EuGH 11.7.02, C-62/00, Marks Spencer, Rz. 34, EuGHE 2002, I-6325 = UR 2002, 436).

 

Die Verweisung auf das nationale Recht führte bei einem durch Amtspflichtverletzung begründeten Schadenersatzanspruch in Deutschland wohl zu Art. 34 GG i. V. m. § 839 BGB und damit zu den Zivilgerichten. Nicht nur wegen des auch als Subsidiaritätsklausel zu verstehenden §§ 839 Abs. 3 BGB, sondern auch wegen der Fachkompetenz der Steuergerichte empfiehlt es sich, vorab die Möglichkeiten des steuerrechtlichen Verfahrensrechts auszuschöpfen. Dazu gehören nicht nur das Steuerfestsetzung- und Rechtsbehelfsverfahren, sondern auch die Billigkeitsmaßnahmen nach §§ 163, 227 AO. Soweit Steuerfestsetzung nicht mehr im Festsetzung- oder Rechtsbehelfsverfahren änderbar sind, eignen sich diese Billigkeitsmaßnahmen häufig besser zur Wiedergutmachung, insbesondere zur Erstattung richtlinienwidrig erhobener Steuern, als eine Schadenersatzklage. Dabei ist zu beachten, dass sich für eine gemeinschaftsrechtlich gebotene Erstattung das im Rahmen von Billigkeitsmaßnahmen regelmäßig auszuübende Ermessen auf null reduziert. Die deutschen Ausschlussfristen für die Rechtsverfolgung widersprechen dem Effektivitätsgrundsatz nicht; Letzterer ist vielmehr im Rahmen des § 110 AO als besonderer, gemeinschaftsrechtlich erforderlicher Wiedereinsetzungsgrund zu berücksichtigen.

Quelle: Seite 566 | ID 45969570