· Fachbeitrag · Vergütung
Die EuGH-Urteile zur Rufbereitschaft und ihre Konsequenzen für die betriebliche Praxis
von RA Dr. Christian Schlottfeldt, www.arbeitszeitkanzlei.de, Berlin
| Der EuGH hat am 09.03.2021 in zwei Urteilen grundsätzlich zur Rufbereitschaft Stellung genommen. Insbesondere ging es um die Frage, ob Zeiten einer Rufbereitschaft Arbeitszeit im Sinne der EU-Arbeitszeitrichtlinie (und damit auch Arbeitszeit im Sinne des Arbeitszeitgesetzes) sein können. LGP stellt Ihnen die Konsequenzen für die betriebliche Praxis vor. |
Rufbereitschaft ‒ Arbeitszeit oder Ruhezeit?
Den Urteilen lagen zwei Verfahren zugrunde, in denen die Kläger in unterschiedlicher Weise durch die Rahmenbedingungen der Rufbereitschaft in ihrer Freizeitgestaltung eingeschränkt waren:
- Ein (deutscher) Einsatzleiter einer Feuerwehr musste im Alarmierfall innerhalb von 20 Minuten in Arbeitskleidung mit dem im Alarmierungsfall zur Verfügung gestellten Fahrzeug an Einsatzorten im Stadtgebiet (Offenbach) sein (EuGH, Urteil vom 09.03.2021, Rs. C-580/19, Abruf-Nr. 221081).
- Ein (slowenischer) Techniker hatte zwar keine Vorgabe für die Reaktionszeit zwischen Alarmierung und Einsatz zu beachten. Er hatte jedoch aufgrund der örtlichen Gegebenheiten (Sendeanlage in einem abgelegenen Gebiet) nur begrenzte Möglichkeiten der Freizeitgestaltung und war auf die Nutzung einer vom Arbeitgeber zur Verfügung gestellten Unterkunft angewiesen (EuGH, Urteil vom 09.03.2021, Rs. C-344/19, Abruf-Nr. 221082).
Dem EuGH hatten die nationalen Gerichte jeweils die Frage vorgelegt, ob man die Rufbereitschaft aufgrund der Einschränkungen für die private Freizeitgestaltung als Arbeitszeit ansehen müsse oder ob sie als Ruhezeit gelte. Der EuGH hat sich die Fälle nicht „durchentschieden“; er hat die Bewertung letztlich den nationalen Gerichten überlassen. Er hat aber Kriterien festgelegt, anhand derer die Gerichte die Einordnung vorzunehmen haben.
EuGH nennt Kriterien für Rufbereitschaft als Arbeitszeit
Rufbereitschaft ist nach Ansicht des EuGH nur dann in vollem Umfang „Arbeitszeit“, wenn die Gesamtbeurteilung aller Umstände des Einzelfalls ergibt, dass die dem Arbeitnehmer während der Rufbereitschaft auferlegten Einschränkungen von solcher Art sind, dass sie dessen Möglichkeiten erheblich beeinträchtigen, die „passive“ Zeit frei zu gestalten und sich seinen eigenen Interessen zu widmen. Dabei seien insbesondere die Folgen einer Zeitvorgabe zur Aufnahme der Arbeit (Reaktionszeit) und die durchschnittliche Häufigkeit von Einsätzen während der Rufbereitschaft zu berücksichtigen. Die aufgrund der faktischen örtlichen Gegebenheiten eingeschränkte Möglichkeit der Freizeitbetätigung spiele jedoch keine Rolle.
Sieben Konsequenzen für die betriebliche Praxis
Die Urteile haben für die betriebliche Praxis folgende sieben Konsequenzen:
- 1. Rufbereitschaft ist weiterhin grundsätzlich als Ruhezeit im Sinne der EU-Arbeitszeitrichtlinie (und auch des Arbeitszeitgesetzes) anzusehen.
- 2. Rufbereitschaft kann auch im Anschluss an die reguläre tägliche Arbeitszeit geleistet werden. Allerdings dürfen durch die reguläre tägliche Arbeitszeit und Einsatzzeiten innerhalb der Rufbereitschaft die Grenzen der Höchstarbeitszeit nicht überschritten werden. Gemäß § 3 ArbZG sind das
- zehn Stunden täglich bzw. durchschnittlich acht Stunden pro Werktag bzw. 48 Stunden pro Woche
- innerhalb eines Ausgleichszeitraums von sechs Kalendermonaten oder 24 Wochen (für Nachtarbeitnehmer: ein Kalendermonat oder vier Wochen).
PRAXISTIPP | Die tägliche Arbeitszeit sollte so bemessen sein, dass für den Einsatzfall noch ausreichend „Luft“ bis zur Zehn-Stunden-Grenze besteht.
- 3. Eine Zeitvorgabe zur Arbeitsaufnahme (Reaktionszeit) innerhalb der Rufbereitschaft ist grundsätzlich zulässig. Konkrete Grenzwerte gibt der EuGH nicht vor. Die Reaktionszeit darf aber nicht so kurz sein, dass sie zu einer erheblichen Beeinträchtigung der Freizeitgestaltung führt. Die in der Rechtsprechung bisher noch für zulässig gehaltene Zeitspanne von 30 Minuten zwischen Abruf und Arbeitsaufnahme im Betrieb dürfte regelmäßig zumindest dann weiterhin vertretbar sein, wenn der Arbeitnehmer sich unter Wahrung der Reaktionszeit jedenfalls an seinem Wohnort (bzw. der vom Arbeitgeber gestellten Unterkunft, etwa bei Rufbereitschaft im Rahmen von Dienstreisen oder Montage-Einsätzen) aufhalten kann. Eine Zeitspanne von nur 20 Minuten wurde von der Rechtsprechung zumindest in früheren Entscheidungen für unzulässig gehalten. Für den speziellen Fall der Erlaubnis zur Nutzung von Sonderrechten im Straßenverkehr („Blaulicht“) könnten künftig auch weniger als 30 Minuten vertretbar sein.
- 4. Die durchschnittliche Häufigkeit der Inanspruchnahme der Rufbereitschaft muss bei der Einordnung der Rufbereitschaft als Arbeits- oder Ruhezeit ebenfalls berücksichtigt werden.
PRAXISTIPP | Arbeitgeber sollten Einsatzzeiten repräsentativ erheben und auswerten. In der Regel dürfte eine dreimonatige Erhebung ausreichend sein. Dabei sollte zwischen Einsätzen vom Aufenthaltsort aus („remote“-Einsatz unter Einsatz mobiler Arbeitsmittel, z. B. Störungsbeseitigung per Fernzugriff auf ein Rechnernetzwerk) und Einsätzen im Betrieb oder an einer Einsatzstelle außerhalb des Aufenthaltsorts unterschieden werden.
- 5. Auch für die maximal zulässigen Einsatzzeiten gibt der EuGH keine konkreten Grenzwerte vor. Auch in der arbeits- und verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung der deutschen Gerichte gibt es dazu bisher keine klare Linie.
- „Grenzwertig“ ist die Einstufung der Rufbereitschaft als Ruhezeit m. E. (spätestens) dann, wenn in mehr als der Hälfte der Rufbereitschaften Einsätze außerhalb des Aufenthaltsorts (z. B. im Betrieb) erforderlich werden, weil solche Einsätze die Freizeitgestaltung naturgemäß stark beeinträchtigen.
- Für „remote“-Einsätze lässt sich nach den Maßstäben des EuGH dagegen kaum eine Vorgabe für die Einsatzhäufigkeit machen. Denn die Beeinträchtigung der Freizeitgestaltung hängt stark von Art und Dauer der Einsätze ab (kurzes Telefonat oder Messenger-Nachricht „nebenbei“ versus längerer Arbeitseinsatz am Laptop).
- Unabhängig von der Einsatzart wäre es m. E. zumindest zweifelhaft, Rufbereitschaften mit einer durchschnittlichen „Aktivquote“ (durchschnittlicher Anteil der Einsatzzeit an der gesamten Rufbereitschaftszeit) von mehr als ca. 20 Prozent noch als Ruhezeit zu bewerten. Hier ist die weitere Entwicklung der Rechtsprechung abzuwarten.
- 6. Die tatsächlichen Möglichkeiten der Freizeitgestaltung spielen für die Frage der Abgrenzung von Arbeits- und Ruhezeit keine Rolle, wenn diese Einschränkungen nicht durch die Anordnung der Rufbereitschaft selbst bedingt sind, sondern durch die örtlichen Gegebenheiten, unter denen die Rufbereitschaft geleistet wird.
- 7. Ob auch evtl. erforderliche Wegezeiten zwischen Aufenthaltsort und Betrieb (oder sonstigem Einsatzort) als Arbeitszeit oder als Ruhezeit anzusehen sind, hat der EuGH aktuell nicht ausdrücklich entschieden. In früheren Entscheidungen haben EuGH und BAG solche Wegezeiten jedoch nicht als Arbeitszeit im arbeitszeitschutzrechtlichen Sinn angesehen. Allerdings sehen dies manche Arbeitsschutzbehörden bisher noch anders.
Wie muss Rufbereitschaft vergütet werden?
Im Übrigen ist die Frage der Vergütung einer Rufbereitschaft von der arbeitszeitschutzrechtlichen Bewertung als Arbeitszeit oder Ruhezeit strikt zu trennen. Auch Rufbereitschaften, die als Arbeitszeit anzusehen sind, müssen also nicht wie (Voll-)Arbeitszeit vergütet werden. Auch das Mindestlohngesetz findet auf reine Rufbereitschaftszeiten keine Anwendung; Einsatzzeiten müssen natürlich als mindestlohnpflichtige Arbeitszeit berücksichtigt werden.
Aufzeichnungspflichten
Und last but not least: Gemäß § 16 Abs. 2 ArbZG sind Arbeitszeiten von mehr als acht Stunden je Werktag sowie alle Arbeitszeiten an Sonn- und Feiertagen aufzuzeichnen. Somit muss für Einsatzzeiten in der Rufbereitschaft, denen von Montag bis Freitag ja häufig eine „normale“ Arbeitszeit vorausgeht, regelmäßig eine Zeiterfassung erfolgen.
Der EuGH hat die EU-Mitgliedstaaten ohnehin zur umfassenden Erfassung der Arbeitszeit verpflichtet (LGP 6/2019, Seite 108). Eine Erfassung ist nun auch geboten, um die Einhaltung der täglichen Ruhezeit zu überwachen.