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· Fachbeitrag · Unternehmenssicherung

Frühwarnkennzahlen: So sichern sie das Überleben von Unternehmen auch bei kurzfristigen Störungen

von Dipl.-Betriebswirt Jörgen Erichsen, Leverkusen

| Vor allem die Coronakrise hat gezeigt, wie überlebenswichtig es für Unternehmen ist, vorzubeugen und Gefährdungen so früh wie möglich zu erkennen. Frühwarnkennzahlen können bei der Risikoprävention helfen. Sie müssen aber in Teilen neu interpretiert bzw. anders genutzt werden als bisher oft üblich. So ist es z. B. notwendig, dass ausgewählte Frühwarnindikatoren ständig einen Mindestwert bzw. eine Mindestausprägung aufweisen, um auch eine kurzfristig auftretende kritische Entwicklung wirtschaftlich überleben zu können. BBP berichtet, was außerdem zu beachten ist. |

1. Frühwarnkennzahlen und ihre Anwendung

Klassisch werden Frühwarnkennzahlen oder -indikatoren genutzt, um sich anbahnende Risiken so rechtzeitig erkennen zu können, dass man vor ihrem Eintreten noch präventiv tätig werden kann, um negative Auswirkungen auf den Betrieb zu vermeiden oder zumindest zu minimieren. Sinkende Auftragsbestände sind z. B. oft auf ein Nachlassen der Qualität oder besser werdende Wettbewerber zurückzuführen. Entsprechend muss versucht werden, die Qualität wieder anzuheben oder zu prüfen, wie man wieder besser werden kann als die Konkurrenz.

 

1.1 Beobachtung und anschließende Reaktion genügt vielfach nicht mehr

Spätestens seit Beginn der Coronakrise muss jedem Unternehmer jedoch klar sein, dass es nur in wenigen Fällen genügt, die Entwicklung der Kennzahlenausprägung lediglich zu beobachten und anschließend zu reagieren, um den Betrieb wirksam vor einer kritischen Entwicklung zu schützen. Denn trotz der frühen Hinweise bleibt nicht immer die Zeit, um für Verbesserungen zu sorgen. Und je kurzfristiger erhebliche Einschränkungen oder Gefährdungen entstehen, desto weniger können auch Frühwarnindikatoren ihre eigentliche Aufgabe erfüllen. So ist z. B. bei einem plötzlichen Lockdown wie im Frühjahr 2020 u. U. die Existenz des Betriebs gefährdet. Mindestens aber sinken die Gewinne drastisch und es kann zu Liquiditätsengpässen kommen, die sich schnell ausweiten.

 

1.2 Unbedingt mit vorab definierten Zielwerten arbeiten

Daher ist zumindest eine teilweise andere Nutzung von Frühwarnkennzahlen erforderlich. Unternehmen müssen sich vorab grundlegende Gedanken darüber machen, welche Ausprägungen bzw. Zielwerte die von ihnen gewählten Frühwarnkennzahlen aus betrieblicher Sicht zu jedem Zeitpunkt mindestens haben müssen, um auch bei einer plötzlichen und extrem einschneidenden Entwicklung wenigstens über zwei bis drei Monate ohne externe Hilfe handlungsfähig zu bleiben. Denn der Staat wird künftig nicht mehr die finanziellen Möglichkeiten haben, mehreren hunderttausend Unternehmen und Selbstständigen zu helfen.

 

  • Beispiel: Angebotserfolgsquote

Die Frühwarnkennzahl „Angebotserfolgsquote“ wird meist eher als klassische Kennziffer genutzt, ohne dass es konkrete Zielwerte oder Vorgaben für Mindestausprägungen gibt. Sie sagt aus, wie viele Aufträge aus der Summe abgegebener Angebote in einem bestimmten Zeitraum entstehen. Sinkt die Ausprägung über einen längeren Zeitraum, z. B. sechs Monate, ist das in jedem Fall ein Alarmsignal und die Ursachen müssen betrachtet werden, um gegensteuern zu können. Entwickeln sich die Dinge eher kontinuierlich oder langsam, ist diese Vorgehensweise i. d. R. ausreichend. Kommt es aber kurzfristig zu massiven negativen Veränderungen, hilft sie nur bedingt weiter.

 

Besser ist es, vorab einen Ziel- oder Mindestwert festzulegen, den die Angebotserfolgsquote erreichen muss, damit das Unternehmen eine plötzliche kritische Entwicklung unbeschadet überstehen kann. Der Zielwert kann z. B. der Durchschnittswert der letzten drei Jahre sein. Betrugen die Werte in dieser Zeit z. B. 15, 18 und 12 %, ergibt das einen Mittel- und damit Zielwert von 15 %. Um einen größeren Puffer zu haben, kann überlegt werden, mit einem höheren Wert als dem Durchschnittswert zu arbeiten oder sogar den bisher besten Wert (18 %) zu wählen.

 

Sinkt die Ausprägung der Kennzahl unter den Mindestwert, muss ein Unternehmen nach den Ursachen suchen und bei strukturellen Problemen aktiv werden. Das gilt unabhängig davon, ob die Auslastung aktuell noch gut ist und damit scheinbar kein akuter Handlungsbedarf gegeben ist. So lassen sich Frühwarnkennzahlen effektiv nutzen, um kritischen Entwicklungen vorzubeugen, bevor es zu ernsthaften Engpässen im Betrieb kommt.

 

Ein weiterer zentraler Vorteil bei der Arbeit mit Zielwerten für Frühwarnkennzahlen ist, dass man sich im Betrieb ständig Gedanken darüber machen muss, wie man diese Vorgaben erreichen und halten kann. Dazu ist es notwendig, kontinuierlich alle Abteilungen, Bereiche und Prozesse im Betrieb zu beobachten, die die gewählten Kennzahlen negativ beeinflussen können. Dadurch werden alle Beteiligten im Betrieb „gezwungen“, laufend über grundlegende Verbesserungen nachzudenken. Das führt am Ende dazu, dass sich mittelfristig die Positionierung des Unternehmens am Markt verbessern lässt und so auch die Gewinne und die Liquidität erhöht werden können.

2. Beispiele für wichtige Frühwarnkennzahlen

Im Folgenden werden beispielhaft 15 Kennzahlen dargestellt, die Unternehmen als Frühwarnindikatoren nutzen können. Nicht jede Kennziffer ist für alle Unternehmen relevant und es können Kennzahlen hinzukommen, die hier nicht genannt werden. Wichtig ist, dass sich jedes Unternehmen genau überlegt, welche Frühwarnindikatoren sinnvoll sind, und dann ca. 10 bis 15 Kennziffern auswählt, um potenzielle Risiken erst gar nicht entstehen zu lassen bzw. in den Auswirkungen so gut wie möglich zu begrenzen.

 

PRAXISTIPP | Zum Beitrag gehört eine Excel-Arbeitshilfe, Abruf-Nr. 47015029. In dem Tabellenblatt sind 15 Kennzahlen- und Formelvorschläge sowie Orientierungswerte für grundsätzlich gute Ausprägungen enthalten. Zudem ist Platz vorhanden, um bis zu fünf weitere Kennzahlen einzugeben.

 
  • Überblick Excel-Arbeitshilfe

 

 

  • Auswahl möglicher Frühwarnindikatoren
Kennzahl
Mögliche Ursachen für Verschlechterungen
Bemerkungen

Auftragseingang

Auftragsbestand

Kundenindex

Qualitätsprobleme, Vernachlässigung Produktentwicklung, veraltetes Sortiment, Sortimentsfehler, Vertriebsprobleme (z. B. zu wenig Konditionenverhandlungen, „fauler“ Vertrieb, wenig Wissen über Kundenwünsche), bessere Wettbewerber, Vernachlässigung Kundenpflege/-akquise, Termin-/Lieferprobleme

Forderungsbestand

Mängel im Forderungsmanagement (u. a. keine Bonitätsprüfungen, schlechte Konditionenverhandlungen und schlechtes Mahnwesen, keine Vorgaben für maximale Nachlässe), veraltetes Sortiment/Sortimentsfehler (Kunden kaufen z. B. nur noch gegen lange Forderungsziele)

Vorrätebestand

Verkaufswaren: analog Auftragseingang etc.

Material: z. B. Produktionsprobleme, hohe Ausschussanteile, schlechte Warenwirtschaft, fehlende Einkaufsrichtlinien/-organisation, schlechte Verhandlungen mit Lieferanten, keine Prüfung auf Alternativbeschaffungen

Reklamationsquote

Analog Auftragseingang etc.

Stornoquote

Analog Auftragseingang etc.; zusätzlich: Bei Umsatzprovisionen ohne „Anrechnung“ von Stornos ist der Vertrieb u. U. weniger interessiert, Kunden das zu verkaufen, was sie wollen, da er das eigene Einkommen in den Vordergrund stellt.

Debitorenziel

Analog Forderungsbestand

Kreditorenziel

Analog Vorrätebestand

Nachlassquote

Analog Kundenindex, Forderungsbestand

Forderungsausfallquote

Analog Forderungsbestand mit Schwerpunkt auf fehlenden Bonitätsprüfungen und Absicherung bzw. Vermeidung von Forderungen sowie Mahnwesen

Liquiditätsgrad II

Im Kern wie Forderungsbestand und Debitorenziel bei Forderungen und Vorrätebestand bei kurzfristigen Verbindlichkeiten

Working-Capital-Ratio

Im Kern Absenkung der Forderungen und Vorräte sowie Ausweitung der Kreditoren bzw. bei Skonto konsequentes Ziehen, auch kleine Beträge

Erweiterter Liquiditätsgrad

Wie Working-Capital-Ratio; zusätzlich: Umsetzung Kostensenkungsmaßnahmen

% Personalkosten (aus BWA)

Zu schnell steigende Personalkosten, Umsatz- und Verkaufszahlen gehen zurück (mögliche Gründe siehe erste drei Kennzahlen)

 

Als weitere Frühwarnkennzahlen können je nach Unternehmen und Branche u. a. in Betracht kommen:

 

  • Angebotserfolgsquote
  • Kunden- oder Produktabhängigkeit
  • Liefertermintreue
  • Umschlaghäufigkeiten bei Fertigprodukten
  • Eigenkapitalanteil

 

Gerade ein hoher Eigenkapitalanteil (Faustregel: > 25 %) bietet einen guten Schutz, wenn es zu kurzfristigen Umsatzausfällen kommt, weil man so zunächst längere Zeit auf vorhandene Mittel zurückgreifen kann und nicht auf fremde Hilfe angewiesen ist. Die Eigenkapitalquote im deutschen Mittelstand liegt in den meisten Fällen deutlich unter dem genannten Orientierungswert.

 

MERKE | Die Ausprägung von Frühwarnindikatoren kann sich auch aus Gründen verschlechtern, die eigentlich gut für ein Unternehmen sind. Wird z. B. in neue Märkte expandiert oder werden neue Kundengruppen erschlossen, müssen ggf. vorübergehend höhere Bestände aufgebaut und Kunden bessere Konditionen eingeräumt werden, um die Lieferfähigkeit zu gewährleisten und sich die Gunst von Neukunden zu sichern. Auch einmalige Sonderaktionen bei einer Expansion können einen ähnlichen Effekt haben. Gerade im Bereich Forderungen oder Debitorenziele verschlechtern sich die Werte dann oft deutlich. Solange sich die Ausprägungen nach einer bestimmten Anlaufzeit ‒ etwa einem Jahr ‒ wieder verbessern, ist das meist unkritisch.

 

3. Grundsätzliche Verbesserungsmöglichkeiten

Was getan werden muss, um Verbesserungen bei den Ausprägungen zu erreichen, hängt von den gefundenen Ursachen und den Gegebenheiten in einem Unternehmen ab. Häufig lassen sich Kennzahlen auch nicht oder nur teilweise aus eigener Kraft verbessern. Bei Konditionenverhandlungen mit Kunden oder Lieferanten kommt es z. B. auch auf die Marktmacht des eigenen Betriebs bzw. die richtige strategische Positionierung an. An dieser Stelle sollen stellvertretend nur zwei Maßnahmenbeispiele genannt werden, die für viele Betriebe von zentraler Bedeutung sind und die diese ohne Einwirkung von Dritten selbst verbessern können:

 

  • 1. Um Kunden zu akquirieren und sie langfristig an das eigene Unternehmen zu binden, benötigt jedes Unternehmen ein Differenzierungsmerkmal. Es beschreibt gut wahrnehmbar für die Kunden, was man selbst besser macht als der Wettbewerb. Dabei ist zu berücksichtigen, dass eine gute Qualität und günstige Preise nur die Basis darstellen. Es müssen weitere Punkte genannt werden können. Um dies zu erreichen, muss man seine Kunden und deren Wünsche gut kennen:
  •  
    • Was ist den Kunden besonders wichtig?
    • Was schätzen sie am eigenen Betrieb?
    • Was mögen sie weniger gerne?
  •  
  • Nicht nur die Krise zeigt, dass Kunden, die ein Unternehmen besonders schätzen, auch in schwierigen Zeiten treue Käufer bleiben. Die Fragen, die sich betroffene Unternehmen stellen müssen, lauten:
  •  
    • Warum soll ein Kunde zum eigenen Betrieb gehen und nicht beim Wettbewerb kaufen?
    • Was fehlt den Kunden, wenn es den eigenen Betrieb nicht mehr gibt?
  •  
  • Ohne ein echtes Differenzierungsmerkmal ‒ einen echten Mehrwert für den Kunden ‒ findet die „Differenzierung“ über den Preis statt. Das bedeutet, dass Kunden vor allem nach möglichst hohen Rabatten fragen. Dies hat zur Folge, dass die Umsätze, Deckungsbeiträge und Gewinne sinken und auch die Liquidität überproportional belastet wird. Ein Aufbau einer Zahlungsreserve ist so i. d. R. kaum möglich.

 

  • MERKE | Jede Krise lehrt immer wieder, wie wichtig es ist, nicht nur über eine ausgewogene Liquidität (Einzahlungen sind möglichst etwas höher als Auszahlungen), sondern auch über eine „ausreichende“ Liquiditätsreserve zu verfügen. Um dieses Ziel zu erreichen, sollten Unternehmer möglichst von jedem verkauften Artikel, jedem Auftrag oder jedem Projekt einen bestimmten prozentualen Mindestwert zum Aufbau der Reserve nutzen. Unternehmer, die über ein gutes Alleinstellungsmerkmal verfügen, können meist höhere Preise am Markt verlangen und schaffen es i. d. R., dieses Ziel zu erreichen.

     
  • 2. Auch eine Verbesserung der Abläufe kann jedes Unternehmen selbst umsetzen ‒ weitgehend ohne sich gegenüber Kunden oder anderen Geschäftspartnern durchsetzen zu müssen. Prozessverbesserungen führen dazu, dass man schneller und mehr verkaufen und/oder die Kosten senken kann. Gelingt es z. B. die Produktionszeit um 2 bis  3 % zu verbessern, können die frei werdenden Kapazitäten genutzt werden, um zusätzlich Produkte herzustellen und diese zu verkaufen. Die Coronakrise hat zudem gezeigt, welche Potenziale freigesetzt werden können, vor allem wenn auch die kleinen Unternehmen stärker auf eine schnelle Umsetzung der Digitalisierung setzen.

 

FAZIT | Treten kurzfristig massive Beeinträchtigungen auf, wie es z. B. in der Coronakrise der Fall ist, können die für die Unternehmenssicherung wichtigen Frühwarnkennzahlen ihren Zweck nicht mehr vollständig erfüllen. Dann ist ein Umdenken gefragt. Eine Möglichkeit ist, je Kennzahl eine Zielgröße vorzugeben, die erreicht werden muss, wenn auch eine sich abrupt deutlich verschlechternde Lage abgefedert werden soll. Durch die Vergabe von Zielwerten je Kennziffer werden Unternehmer und Führungskräfte gezwungen, sich regelmäßig mit allen wesentlichen Sachverhalten zu befassen, die Einfluss auf die Ausprägungen der Kennzahlen haben. Dadurch wird ein Prozess angestoßen, der insgesamt zu Verbesserungen im Betrieb führt, weil man z. B. bestrebt ist, die Kundenpflege kontinuierlich zu verbessern und somit auch die Kennzahlenausprägungen. Mittelfristig steigt so die Chance, auch nachhaltig kritische Entwicklungen im Unternehmensumfeld ohne größere Blessuren zu überstehen.

 
Quelle: Seite 48 | ID 47009552