· Fachbeitrag · Sozialversicherung
Sozialversicherungspflicht des Vorstands: LSG Nordrhein-Westfalen liefert neue Erkenntnisse
| Wann sind Vorstandsmitglieder sozialversicherungspflichtig? Mit dieser Frage hat sich das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen auseinandergesetzt. Die Entscheidung ist deshalb von Bedeutung, weil das LSG die bisherige Rechtsprechung weiterentwickelt hat. |
Der Fall: Vorstand erhielt feste Vergütung und Tagegelder
Der Fall betraf einen Berufsverband für Fahrlehrer. Das betroffene geschäftsführende Vorstandsmitglied ‒ der erste Vorsitzende ‒ war selbstständiger Fahrlehrer. Er erhielt für seine Tätigkeit für den Verband eine feste monatliche Vergütung und zusätzliche Tagegelder. Für Fahrten zur Geschäftsstelle zahlte der Verband ein Kilometergeld von 0,41 Euro pro Kilometer.
Der Verein beantragte ein Statusfeststellungsverfahren. Dabei stellte die Deutsche Rentenversicherung Bund (DRV) fest, dass die Tätigkeit als geschäftsführender Vorstand im Rahmen eines abhängigen Beschäftigungsverhältnisses ausgeübt wird. Als Hinweise dafür nannte die DRV, dass
- der Vorstand eine monatliche Vergütung erhielt,
- seine Tätigkeit an die Satzung gebunden war,
- er die Tätigkeit in den Räumlichkeiten des Verbands ausübte und
- er die Leistung persönlich erbringen musste.
Für eine selbstständige Tätigkeit sprach dagegen nur, dass der Vorsitzende keine Vorgaben bezüglich der Arbeitszeit hatte.
Die Entscheidung des LSG Nordrhein-Westfalen
Das LSG folgte letztlich der Auffassung der DRV und wies die Klage des Verbands in zweiter Instanz zurück. Folgende Erwägungen veranlassten das LSG, von einer abhängigen Beschäftigung auszugehen (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 13.02.2019, Az. L 8 BA 52/18, Abruf-Nr. 217010):
- Der erste Vorsitzende hatte über die Ausübung organschaftlicher Funktionen hinaus Aufgaben der Geschäftsführung wahrgenommen.
- Er war weisungsgebunden und in die Arbeitsorganisation eingegliedert.
- Gewichtige Anhaltspunkte für eine selbstständige Tätigkeit fehlten.
- Er hatte mit der Tätigkeit keine ideellen Zwecke verfolgt und sie nicht unentgeltlich ausgeübt.
Die Einbettung in die Rechtsprechung des BSG
Das LSG hat seine Entscheidung im Lichte der jüngsten BSG-Rechtsprechung für den Bereich ehrenamtlicher Tätigkeiten gefällt. Dort ging es um den Vorsitzenden (Kreishandwerksmeister) einer Kreishandwerkerschaft.
Das BSG entschied damals: Aufgaben und Tätigkeiten, die sich aus der organschaftlichen Stellung ergeben, ehrenamtlich ausgeübt werden und nicht für jedermann frei zugänglich sind, führen regelmäßig nicht zu der für ein Arbeitsverhältnis typischen persönlichen Abhängigkeit. Etwas anderes gilt, wenn das Vorstandsmitglied den Bereich des Ehrenamts verlässt und eine darüber hinaus gehende Beschäftigung für den Verein ausübt; z. B, indem er die Aufgaben des Geschäftsführers mit übernimmt. Die Ausübung satzungsmäßiger Repräsentations- und organschaftlicher Verwaltungsaufgaben ‒ so das BSG ‒ bedeutet dagegen nicht eine Weisungsgebundenheit oder Eingliederung in die Organisation (BSG, Urteil vom 16.08.2017, Az. B 12 KR 14/16 R, Abruf-Nr. 195924).
Finanzielle Zuwendungen sind dabei unschädlich, wenn sie in Form von Aufwendungsersatz konkrete oder pauschal berechnete Aufwände abdecken, dazu gehört auch ein Ausfall für Zeitversäumnis oder Verdienstausfall. Die gewährte Aufwandsentschädigung darf aber keine verdeckte Entlohnung einer Erwerbsarbeit sein. Auch wenn die Aufwandsentschädigung bzw. der Aufwendungsersatz pauschal erfolgen, muss erkennbar sein, dass letztlich tatsächlich entstandener Aufwand bzw. tatsächlich entgangener Verdienst ersetzt wird.
Wichtig | Das LSG hat das alles gewürdigt. Es hat festgestellt, dass es in seinem Fahrlehrer-Fall an einer klaren Abgrenzung zwischen Aufwandsentschädigung und versicherungspflichtiger Vergütung gefehlt hatte. Es versteht sein Urteil ausdrücklich als Weiterentwicklung der Rechtsprechung.
So wird ein Vorstandsamt sv-rechtlich bewertet
Bei der sozialversicherungsrechtlichen Einstufung einer vergüteten Vorstandstätigkeit treten neben die allgemeinen sozialversicherungsrechtlichen Bewertungskriterien vereins- und tätigkeitsspezifische Maßstäbe.
Allgemeine sozialversicherungsrechtliche Bewertungskriterien
Zunächst hat das LSG festgestellt, dass die Grundsätze der sozialversicherungsrechtlichen Bewertung auch für die Organe juristischer Personen des Privatrechts gelten ‒ für Geschäftsführer einer GmbH, aber auch für Vorstandsmitglieder von Vereinen. Dazu gehören insbesondere
- die örtliche und zeitliche Weisungsbindung,
- die Einbindung in die betriebliche Organisation,
- das unternehmerische Risiko (mindestens Vergütungsausfall) und
- der Einsatz eigener Betriebsmittel (z. B. Nutzung des eigenen Büros).
Dabei kommt es immer darauf an, welche Umstände das Gesamtbild der Arbeitsleistung prägen und welche Merkmale überwiegen.
Besonderheiten bei Vorstandsämtern
Daneben nennt das LSG besondere Kriterien, die für (Vereins-)Organe gelten:
- Handelt es sich um „Aufwandsersatz“ oder um eine erwerbsbezogene Vergütung? Liegt eine ehrenamtliche Tätigkeit vor und keine Erwerbstätigkeit?
- Übt der Vorstand über die bloße Organfunktion hinaus auch Aufgaben der Geschäftsführung aus?
- Ist er an Weisungen der Mitgliederversammlung gebunden?
Vergütungen und die Abgrenzung zum Ehrenamt
Grundsätzlich können Zahlungen an den Vorstand den Charakter eines Aufwandsersatzes haben. Sozialversicherungsrechtlich zieht das BSG die Grenzen hier sehr viel weiter, als das etwa lohnsteuerlich gilt (BSG, Urteil vom 16.08.2017, Az. B 12 KR 14/16 R, Abruf-Nr. 195924).
Aufgaben und Tätigkeiten, die Ausfluss der organschaftlichen Stellung der das Ehrenamt ausübenden Person und nicht auch für jedermann frei zugänglich sind, führen nach Auffassung des BSG regelmäßig nicht zu der für ein Arbeitsverhältnis typischen persönlichen Abhängigkeit. Etwas anderes gilt, wenn das Vorstandsmitglied den Bereich des Ehrenamts verlässt und eine darüber hinaus gehende Beschäftigung für den Verein ausübt, z. B. wenn er die Aufgaben des Geschäftsführers mit übernimmt. Die Ausübung satzungsmäßiger Repräsentations- und organschaftlicher Verwaltungsaufgaben ‒ so das BSG ‒ ist nicht Ausdruck von Weisungsgebundenheit oder Eingliederung.
Wichtig | Finanzielle Zuwendungen sind unschädlich, wenn sie in Form von Aufwendungsersatz konkrete oder pauschal berechnete Aufwände abdecken, was auch in pauschaler Form geschehen kann. Die Aufwandsentschädigung darf keine verdeckte Entlohnung einer Erwerbsarbeit sein. Auch wenn die Aufwandsentschädigung bzw. der Aufwendungsersatz pauschal erfolgen, muss erkennbar sein, dass letztlich tatsächlich entstandener Aufwand bzw. tatsächlich entgangener Verdienst ersetzt wird.
Es gibt keine Vergütungsobergrenze
Wie schon bisher das BSG verzichtet auch das LSG NRW bewusst darauf, Obergrenzen für ehrenamtsunschädliche Zuwendungen festzulegen. Das LSG nennt Betragsgrenzen aus verschiedenen gesetzlichen Regelungen, an denen sich Haupt- und Ehrenamt abgrenzen lassen. So etwa
- den Ehrenamtsfreibetrag (720 Euro pro Jahr),
- die gleichhohe Grenze für die Haftungsprivilegierung des Vorstands nach § 31a Abs. 1 S. 1 BGB oder
- die Grenze für die Umsatzsteuerbefreiung ehrenamtlicher Tätigkeiten nach § 4 Nr. 26b UStG. Die Finanzverwaltung erachtet hier bis 50 Euro pro Stunde und 17.500 Euro pro Jahr als unschädlich.
Das LSG führt außerdem Vorsitzende des Vorstands bzw. Verwaltungsrats eines Sozialversicherungsträgers an, die das Zwei- bis Vierfache des einfachen Satzes von 70 Euro pro Sitzungstag erhalten können; also maximal 280 Euro.
PRAXISTIPP | Die Höhe der Zahlungen kann sich also in einer großen Spannweite bewegen, ohne dass sie sozialversicherungspflichtig werden. Das liegt insbesondere daran, dass auch Zahlungen für Vergütungsausfälle als „Aufwandsentschädigung“ behandelt werden können. |
Wofür sprechen organschaftliche Funktionen und Geschäftsführung?
Das LSG folgt der Auffassung des BSG, dass kein Arbeitsverhältnis im sozialversicherungsrechtlichen Sinn vorliegt, wenn der Vorstand nur reine Repräsentationsfunktionen hat.
Anders sieht es aus, wenn er Aufgaben ausübt, die auch von angestellten Geschäftsführern übernommen werden können. Dazu gehören ‒ neben der Umsetzung von Beschlüssen der Mitgliederversammlung auf der Geschäftsführungsebene ‒ z. B. Serviceleistungen gegenüber den Mitgliedern. Soweit der Vorstand den Verein „im Tagesgeschäft“ führt, übernimmt er typische operative Aufgaben eines Geschäftsführers.
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Im LSG-Fall gehörte es zu den Aufgabe des Vorstandsmitglieds,
Dieser Katalog ‒ so das LSG ‒ geht deutlich über reine Repräsentationsfunktionen hinaus. Er spricht für eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. |
Wichtig | Vor allem für kleinere Vereine, die kein weiteres Leitungs- und Verwaltungspersonal haben, wird das für die Vorstandstätigkeit in den meisten Fällen ebenfalls zutreffen.
Weisungen durch die Mitgliederversammlung
Das LSG geht davon aus, dass der Vorstand regelmäßig an Weisungen der Mitgliederversammlung gebunden ist. Das stehe für das Vereinsrecht außer Frage, weil es sich bereits unmittelbar aus dem Gesetz ergibt (§ 27 Abs. 3 S. 1 in Verbindung mit § 665 BGB). Solche Weisungen können allgemein wie auch für den Einzelfall erteilt werden, z. B. die Aufstellung des Haushaltsplans.
Wichtig | Hier weicht das LSG ausdrücklich von der BSG-Rechtsprechung ab. Das LSG hält die Mitgliederversammlung einer Kreishandwerkerschaft für einen Sonderfall, der nicht auf die Mitgliederversammlung eines Vereins übertragen werden kann. Die Mitgliederversammlung eines Vereins kann Weisungen sowohl allgemein als auch für den Einzelfall erteilen. Die Weisungsbindung ist also konkret ‒ ähnlich dem Direktionsrecht des Arbeitgebers. Es handelt sich deswegen (anders als im Fall der Kreishandwerkerschaft) um eine Weisungsbindung im Sinn des Sozialversicherungsrechts.
Auftrag (Ehrenamt) und Arbeitsverhältnis ‒ so das LSG ‒ unterscheiden sich durch die Unentgeltlichkeit der Auftragserfüllung und die Möglichkeit jederzeitiger Beendigung, nicht aber hinsichtlich der jeweiligen Weisungsdichte.
Auch dass der Vorstand nach § 27 Abs. 2 S. 1 BGB jederzeit abberufen werden kann, spricht für eine Weisungsbefugnis. Selbst wenn bei entsprechender Satzungsgestaltung die Mitgliederversammlung dem Vorstand keine Weisungen erteilen kann, besteht so eine grundsätzliche Abhängigkeit.
Das LSG NRW folgt damit der früheren Rechtsprechung des BSG, dass bei einer vergüteten Vorstandstätigkeit regelmäßig eine abhängige Beschäftigung vorliegt (BSG, Urteil vom 19.07.2001, Az. B 12 KR 44/00 R, Abruf-Nr. 093526).
Vorstandstätigkeit als „höherer Dienst“
Das Fehlen konkreter Weisungen spricht ohnehin noch nicht für eine selbstständige Tätigkeit. In leitenden Positionen („höhere Dienste“) wie im Vorstandsamt ist das Weisungsrecht typischerweise eingeschränkt. Deswegen sind auch Mitglieder von Vorständen juristischer Personen, die von Weisungen im täglichen Geschäft weitgehend frei sind, abhängig Beschäftigte.
Das Fehlen einer Weisungsgebundenheit hinsichtlich Arbeitszeit und -ort spricht dabei nicht gegen die Annahme einer Weisungsgebundenheit i. S. v. § 7 Abs. 1 S. 2 SGB IV. Für leitende Funktionen ist das typisch und spricht für sich genommen nicht für eine selbstständige Tätigkeit.
Bei leitenden Funktionen wie im Vorstandsamt ‒ so das LSG ‒ kann die Weisungsgebundenheit verfeinert sein zu einer „funktionsgerecht dienenden Teilhabe am Arbeitsprozess“, ohne dass sich daraus eine Selbstständigkeit ableiten ließe.
Persönliche Ausübung der Vorstandstätigkeit
In der Regel muss der Vorstand die ihm obliegenden Aufgaben höchstpersönlich wahrnehmen. Das spricht für eine abhängige Tätigkeit. Anders sieht es aus, wenn die Satzung eine Übertragung der Aufgaben auf einen Geschäftsführer vorsieht oder das zumindest in der Praxis der Fall ist.
Für eine Weisungsgebundenheit sprach dabei nach Auffassung des LSG im vorliegenden Fall, dass der Vorstand nach den satzungsmäßigen Regelungen grundsätzlich persönlich dafür verantwortlich war, die Aufgaben zu erfüllen. Die anderen Vorsitzenden waren nur zuständig, wenn er verhindert war.
Wichtig | Dass der Beauftragte die Leistung persönlich schuldet, ist aber nur ein Kriterium bei der sozialversicherungsrechtlichen Bewertung. Bei vielen Tätigkeitsverhältnissen, die selbstständig ausgeübt werden können (z. B. Lehrtätigkeiten), ist das ebenfalls so. Wichtig ist aber, dass der Vorstand seine Vertretung bei Bedarf selbst bestellt.
Wann kann ein Vorstandsmitglied selbstständig tätig sein?
Folgt man dem Urteil des LSG NRW und der gleichlautenden früheren Rechtsprechung des BSG (insbesondere dem Urteil vom 19.07.2001, Az. B 12 KR 44/00 R, Abruf-Nr. 093526), müssen für eine selbstständige Tätigkeit des Vorstands:
- sowohl die üblichen sozialversicherungsrechtlichen Voraussetzungen als auch
- besondere vereinsrechtliche Regelungen gegeben sein.
Sozialversicherungsrechtliche Voraussetzungen für eine sv-freie Tätigkeit
Sozialversicherungsrechtlich bedeutet das: Da eine zeitliche und örtliche Weisungsbindung für die eigentliche Vorstandstätigkeit in der Regel nicht besteht, darf der Vorstand insbesondere keine Betriebsmittel (Räume, Büroausstattung, EDV etc.) des Vereins nutzen. Die Tätigkeit muss außerdem ein „unternehmerisches Risiko“ bergen. Das muss mindestens darin bestehen, dass nur tatsächlich geleistete Stunden vergütet werden und keine Fortzahlung der Vergütung im Krankheits- und Urlaubsfall erfolgt.
Übernimmt der Vorstand Geschäftsführungs- und Verwaltungstätigkeiten des Vereins, liegt wegen des Koordinierungsaufwands und Abstimmungsbedarfs meist eine Einbindung in die Organisation vor, die gegen eine Selbstständigkeit spricht.
Vereinsrechtliche Voraussetzungen für eine sv-freie Tätigkeit
Vereinsrechtlich muss die Satzung den Vorstand ‒ entgegen dem BGB ‒ von Weisungen der Mitgliederversammlung weitgehend entbinden und seine Abberufung auf wichtige Gründe beschränken.
Wichtig | In aller Regel ist eine solche Eigenständigkeit des Vorstands nicht gewünscht und birgt Risiken für den Verein. Schon wegen der gewünschten Kontrolle durch die Mitgliederversammlung kommt eine so große Unabhängigkeit des Vorstands meist nicht in Frage.
FAZIT | Im Ergebnis schließt das Urteil des LSG NRW eine selbstständige Tätigkeit von Vorstandsmitgliedern in den meisten Fällen aus. Das hängt nicht nur von der konkreten vertraglichen und tatsächlichen Ausgestaltung des Dienstverhältnisses ab, sondern ergibt sich aus der grundsätzlichen Weisungsbindung gegenüber der Mitgliederversammlung. Für den Ausnahmefall einer selbstständigen Tätigkeit muss also neben der Arbeitstätigkeit des Vorstands auch noch die Satzung entsprechend gestaltet sein und eine weitgehende Weisungsunabhängig keit des Vorstands vorsehen.
Denkbar ist eine selbstständige Tätigkeit des Vorstands vor allem in größeren Vereinen und Verbänden, wo der Vorstand eine vorwiegend repräsentative Funktion hat und nicht gleichzeitig Geschäftsführungs- und Verwaltungsaufgaben übernimmt.
Das LSG NRW hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung ausdrücklich zugelassen. Insbesondere die Kritik in der Literatur an der Entscheidung des BSG zur Kreishandwerkerschaft ‒ so die Begründung ‒ zeige unveränderten Klärungsbedarf. Das Urteil ist allerdings rechtskräftig geworden, sodass das BSG keine Gelegenheit mehr erhält, zu dem Fall Stellung zu beziehen. |