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· Fachbeitrag · Marktentwicklung

Der GKV-Markt 2019 im Rückblick: Stellt 2020 alles auf den Kopf?

von Apotheker und Unternehmensberater Dr. Reinhard Herzog, Tübingen

| Relativ zeitnah stellt die GKV-Arzneimittel-Schnellinformation ( gkv-gamsi.de ) die Abrechnungsdaten zum Arznei- und Hilfsmittelmarkt auf Bundes- wie auf Landesebene bereit. AH berichtet, wie das letzte Jahr abgeschnitten hat und wie es jetzt unter historisch einmaligen Krisenbedingungen weitergeht. |

Der Verordnungsmarkt im Überblick

Den gesamten Verordnungsmarkt des vergangenen Jahres zeigt die Tabelle 1.

 

  • Tabelle 1: GKV-Gesamtmarkt der Arznei- und Hilfsmittel, nach GAmSi Bundesbericht für 2019
Umsatz in Mio. Euro
+/- in %
Verordnungen in Mio.
+/-

Gesamtmarkt brutto (ggf. netto)

47.756 (39.200)

+ 4,5

762,7

+ 0,3 %

  • davon Fertigarzneimittel

40.119 (32.800)

+ 3,8

658,2/Rx 604,2

+ 0,3 %/+ 0,7 %

  • davon Parenteralia

4.440

+ 12,7

3,6*

+/- 0,0 Mio.

  • davon klassische Rezepturen

340

+ 13,0

6,1*

- 0,3 Mio.

  • davon Blutzuckerteststreifen

609

- 7,4

7,0*

- 0,5 Mio.

  • davon Verbandmittel

1.264

+ 7,4

14,6*

+ 0,1 Mio.

Mitglieder

18.116

+ 3,5

n. a.

n. a.

Mitversicherte

3.687

- 0,9

n. a.

n. a.

Rentner

24.920

+ 6,8

n. a.

n. a.

Sonstige, nicht zuordenbar

1.034

- 7,3

n. a.

n. a.

 

* Verordnungsblattzeilen; n. a. = nicht angegeben

 

Wie die Jahre zuvor sind die Wachstumsraten nach Stückzahlen gering, nach Umsätzen jedoch beträchtlich. Letzteres liegt an deutlich steigenden Packungspreisen. Immerhin rund zwei Mrd. Euro brutto betrug der Zuwachs. Mit 41.930 Mio. Tagesdosen (+ 2,0 Prozent) stiegen diese stärker als die Packungszahlen, was auf weiter zunehmende Packungsgrößen schließen lässt. Beachtlich sind die Umsatzanstiege bei den Parenteralia-Spezialrezepturen, die immer teurer werden (Siegeszug der Antikörper, diese machten allein 3.294 Mio. Euro brutto aus). Der signifikante Umsatzanstieg der klassischen Magistralrezepturen bei gleichzeitigem Rückgang ihrer Zahl erklärt sich aus den Honoraranpassungen. Beachtliche 16 Prozent des GKV-Marktes entfallen inzwischen auf Nicht-Fertigarzneimittel ‒ von der Rezeptur bis zu Verbandmitteln.

 

Generika und Orphan Drugs

Generika dominieren mit 82,3 Prozent den Markt nach Tagesdosen völlig, wohingegen ihr Umsatzanteil nur bei 34,3 Prozent liegt. Orphan Drugs machen mit etwa zehn Mio. Tagesdosen nur einen minimalen Mengenanteil aus, bedeuten aber einen Bruttoumsatz von beachtlichen 2.240 Mio. Euro. Das macht sagenhafte 217 Euro je Tagesdosis. Auf ein Jahr hochgerechnet (die meisten dieser Präparate müssen dauerhaft gegeben werden) sind das rund 79.000 Euro für einen solchen Patienten.

 

Umsatz nach Altersgruppen

Rentner machten 2019 einen Anteil von 24,2 Prozent (Vorjahr 24,3 Prozent) an den GKV-Versicherten aus und stehen für 52,2 Prozent (Vorjahr 51,0 Prozent) der Arznei- und Hilfsmittelumsätze. Die Kostendynamik war hier besonders ausgeprägt. Während Kinder bis 15 Jahre gerade einmal 151 Euro Bruttoumsatz pro Kopf bedeuten, ist die teuerste Altersklasse jene von 80 bis 85 Jahren mit 1.588 Euro pro Kopf. Immer wieder interessant: Die Klasse der ab 90-Jährigen, die immerhin mit 794.000 Versicherten in der GKV-Statistik vertreten ist, liegt mit 1.345 Euro wieder erheblich darunter und etwa auf dem Level der 75- bis 80-Jährigen.

 

Topindikationen im Fertigarzneimittel-Segment

Die Topindikationen im Fertigarzneimittel-Segment 2019 waren Immunsuppressiva (mit Topsellern wie Humira® oder Revlimid®), die mit 6.018 Mio. Euro Bruttoumsatz unangefochten an der Spitze standen und angesichts von 38,40 Euro Tagestherapiekosten ziemlich teuer waren. Es folgen Antidiabetika (2.711 Mio. Euro), antithrombotische Mittel (2.650 Mio. Euro) und die mit 88 Euro pro Tag sehr kostspieligen antineoplastischen Mittel für insgesamt 2.328 Mio. Euro. Wirkstoffe für das Renin-Angiotensin-System (ACE-Hemmer, Sartane) waren mit sagenhaften 9.588 Mio. Tagesdosen für mickrige 18 Cent je Tagesdosis mit weitem Abstand die Mengenkönige. Das sind im Schnitt 115 Tagesdosen je Einwohner vom Säugling bis zum Greis!

Cannabis-Boom hält an

Beachtliche 123 Mio. Euro zu Bruttowerten einschließlich Zuzahlungen werden mit Cannabis zulasten der GKV umgesetzt. Besonders stark ist das Wachstum bei unveränderten Blüten, während die Cannabinoide insbesondere als Bestandteil individueller Rezepturen wachsen. Wären der administrative Aufwand und der Prüfaufwand nicht so hoch, könnte das Thema Cannabis ein attraktives Geschäft sein. Den Krankenkassen waren indes die Preise zu hoch. Nunmehr wurde ab 01.03.2020 eine neue hochkomplexe, mengenabhängige Zuschlagskalkulation vereinbart.

 

  • Tabelle 2: GKV-Cannabismarkt 2019
Verordnungen in Tsd.
Umsatz brutto in Mio. Euro
Umsatz je Verordnung

GKV-Cannabismarkt insgesamt

267,3

123,0

460 Euro

  • davon Blüten zubereitet

44,0

18,4

419 Euro

  • davon Blüten unzubereitet

91,3

53,9

591 Euro

  • Cannabinoide in Zubereitungen

66,4

28,0

422 Euro

  • Cannabinoide unverändert

8,5

3,6

419 Euro

  • Fertigarzneimittel

57,2

19,1

334 Euro

 

Biosimilar-Welle rollt

Bei einigen Toppräparaten, deren Patentschutz teils erst kürzlich abgelaufen ist, haben sich diverse Biogenerika am Markt etabliert. Die in Tabelle 3 aufgeführten fünf Präparate stehen bereits für rund 2.450 Mio. Euro Bruttoumsatz des knapp 3.500 Mio. Euro schweren, biogenerikafähigen Marktes. Allein der Spitzenreiter Humira® samt Nachahmern steht für 1.061 Mio. Euro. Hier wie bei Enbrel® tobt ein erheblicher Wettbewerb, der immerhin zu Preisvorteilen im Bereich von 22 bis 38 Prozent führt. Im Vergleich zu klassischen Generika sind die Preissenkungen jedoch gering. Das ist der weitaus aufwendigeren Herstellung geschuldet. Bei etlichen Biologicals der „zweiten Reihe“ sind die Kostenvorteile oft erstaunlich gering. Aufgrund des engen Marktpotenzials hält man sich hier seitens der Biogenerika-Anbieter mit allzu aggressiver Preispolitik möglichst (noch) zurück.

 

  • Tabelle 3: Ausgewählte Original-Biologicals und ihre Biosimilars, abnehmend nach Umsatzbedeutung
Original
Umsatz je DDD/Anteil an DDD
Biosimilars
Umsatz je DDD/Anteil an DDD

Humira®

63,76 Euro/56 %

5 Präparate

Ø 39,74 Euro/44 %

Enbrel®

58,82 Euro/35 %

2 Präparate

Ø 46,02 Euro/65 %

Lantus®

1,99 Euro/53 %

2 Präparate

Ø 1,85 Euro/47 %

Clexane®

2,65 Euro/78 %

4 Präparate

Ø 2,03 Euro/22 %

Remicade®

26,50 Euro/31 %

4 Präparate

Ø 22,29 Euro/69 %

 

DDD: Daily Defined Doses (definierte Tagesdosen)

 

Für die Apotheken bedeutet diese Vielfalt einen höheren Beschaffungsaufwand und mehr Achtsamkeit am HV-Tisch angesichts der hohen Packungspreise.

Beachtliche Unterschiede in den Bundesländern

Die erheblichen Unterschiede der Verordnungszahlen je nach Bundesland zeigt Tabelle 4. Erfasst sind nur Fertigarzneimittel. Traditionell gibt es verordnungsstarke und „sparsamed“ Länder. Umsatzkönige sind neben den neuen Bundesländern vor allem die Stadtstaaten Hamburg und Bremen. Mit einem Nettoumsatz von 674 Euro pro Kopf und einem durchschnittlichen Verordnungswert von gut 81 Euro netto überbietet Hamburg alle anderen Bundesländer weit. Der Pro-Kopf-Umsatz liegt so stolze 49 Prozent über Bundesschnitt!

 

Nach Verordnungsmenge liegt Mecklenburg-Vorpommern mit 11,2 Fertigarzneimitteln je Versichertem ganz vorn. Ganz unten steht Schleswig-Holstein ‒ hier winken pro GKV-Versichertem nur 391 Euro Fertigarzneimittelumsatz (86 Prozent vom Bundesschnitt). Relativ „arm“ ist seit Jahren auch der Süden: Hessen, Rheinland-Pfalz sowie Baden-Württemberg und Bayern. Bei Standortentscheidungen und -bewertungen sind diese regionalen Aspekte, die noch kleinräumiger betrachtet werden können, von hoher Bedeutung. Ursächlich ist vielfach die Demografie. Im Falle der Stadtstaaten haben wir eine sehr dicht besiedelte Region mit maximaler Versorgung und hoher Ärztedichte, was die Kosten treibt.

 

  • Tabelle 4: GKV-Umsätze, auf Apothekenebene netto, und Verordnungen nach Bundesländern, sortiert nach Nettoumsatz; nur Fertigarzneimittel
Bundesland
Verordnungen
Nettoumsatz in Euro
Umsatz relativ (Bund = 100 %)

Hamburg

8,28

674

148,8 %

Mecklenburg-Vorpommern

11,21

620

136,9 %

Bremen

8,94

589

130,0 %

Sachsen-Anhalt

10,86

560

123,6 %

Saarland

10,84

552

121,9 %

Sachsen

9,77

538

118,8 %

Thüringen

10,18

535

118,1 %

Brandenburg

9,42

526

116,1 %

Berlin

8,10

517

114,1 %

Bund

9,10

453

100,0 %

Nordrhein

9,41

452

99,8 %

Niedersachsen

9,24

439

96,9 %

Baden-Württemberg

8,46

432

95,4 %

Bayern

8,36

422

93,2 %

Westfalen-Lippe

9,80

414

91,4 %

Rheinland-Pfalz

9,29

410

90,5 %

Hessen

8,33

400

88,3 %

Schleswig-Holstein

8,91

391

86,3 %

 

Ausblick für Apotheken: Viele rutschen in die roten Zahlen

In AH 01/2020, Seite 2 erfolgte der große Wirtschafts- und Apotheken-Jahresausblick 2020. Taucht der „schwarze Schwan“ auf, also ein Großereignis, das niemand auf dem Schirm hat, sind alle Prognosen Makulatur. So auch dieses Mal, einem kleinen Viruspartikel namens SARS-CoV-2 geschuldet.

 

Erst Ansturm, dann Ebbe in Offizin und Kasse

Die Apotheken stehen vor jetzt erst heraufziehenden Problemen ‒ nach dem anfänglichen, kaum zu bewältigenden Ansturm, der oft durch Lieferprobleme geplagt war. Kurz danach war vielerorts schon Ebbe in Offizin und Kasse. Es ist nicht allein der „Shutdown“ mit geschlossenen Läden und Lokalitäten. Auch Standorte mit ansonsten hochfrequentierten Lebensmittlern ‒ die ja geöffnet haben ‒ leiden. Zwar kaufen die Menschen nicht weniger, im Gegenteil (Hamsterkäufe), aber sie gehen seltener los und konzentrieren ihre Besorgungen auf weniger Termine. Zudem kommen statt „Opa und Oma“ als gute Apothekenkunden jetzt öfter die Kinder oder Enkel. Die Angst vor dem inzwischen bekannten, erhöhten Krankheitsrisiko Älterer spielt hier sicherlich eine Rolle.

 

Ärzte mit weniger Sprechstunden

Weiterhin fahren viele Ärzte ihre Sprechstunden herunter und minimieren für sich das Risiko, indem sie nicht dringend nötige Termine und Untersuchungen verschieben. Das trifft die Apotheken nochmals und beschert teilweise enorme Umsatzeinbußen im mehr oder weniger hohen zweistelligen Prozentbereich. Viele Apotheken rutschen damit in echte rote Zahlen, sprich in einen negativen Cashflow. Zwar wird nach Lockerung der Restriktionen ein gewisser Nachholbedarf einsetzen, dennoch wird viel Umsatz schlicht unter den Tisch fallen. Alles in allem dürfte 2020 aus heutiger Sicht für die Mehrzahl der Apotheken ‒ ganz besonders in Frequenz-, Lauf- und Centerlagen ‒ mit tiefroten, negativen Vorzeichen enden.

Prognose: Corona, Gesundheitssystem und Wirtschaft

Jede Woche unseres „Shutdown“ kostet auf dem gegenwärtigen, restriktiven Niveau etwa 1 Prozent der Wirtschaftsleistung: pro Tag sind das an die 5 Mrd. Euro. Jeder Tag fördert jedoch auch neue Erkenntnisse zutage und die gehen im Moment dahin, dass die Coronarisiken hinsichtlich Todesraten und Hospitalisierung deutlich überschätzt wurden. Statt Prozenten werden wir wohl von Promille reden, vor allem wegen der weit höheren Zahl an Infizierten (= die relevante statistische Grundgesamtheit) gegenüber den tatsächlich positiv Getesteten. Das ist insoweit eine gute Nachricht, die jetzt aber durch weitere Testungen auf breiter Basis abgesichert werden muss.

 

  • Infektionsrisiko

Die Zahl der positiv Getesteten Coronainfizierten (abzüglich der wachsenden Zahl an Genesenen) spiegelt nur einen kleinen Bruchteil der Realität wider. Hierzulande ist (Stand Anfang April) bereits eher von gut einem Prozent Durchseuchung auszugehen (in anderen Ländern wie Italien oder Spanien wurden da bereits zehn Prozent und mehr angenommen). Das bedeutet, dass Sie statistisch jeden Tag mit einigen Infizierten in Kontakt kommen, wobei es erhebliche regionale Differenzen gibt. Und nach etwa 14 Tagen wechseln die allermeisten Infizierten in das Lager der „Gutenn“, d. h., sie sind erst einmal immun und auch für die Umwelt insoweit keine Gefahr mehr. Die aktiven Fälle sind die für die Praxis relevante Größe, nicht die aufsummierten Gesamtfälle.

 

Ähnlich wie in der Finanzkrise 2008 hat man zuerst in einen Abgrund geschaut; dessen (geringere) Tiefe erschließt sich nun immer mehr. Corona wird das Gesundheitssystem einem massiven Stresstest aussetzen, es aber nicht sprengen. Meine Prognose: Es wird dort auf vielleicht 10 Prozent Zusatzkosten (immerhin ein Betrag von 25 bis 30 Mrd. Euro) hinauslaufen, die sowohl ambulant als auch ‒ mehrheitlich ‒ in den Kliniken anfallen. Die Fallkosten eines Coronakrankenhauspatienten bewegen sich im Bereich von etwa 15.000 bis 20.000 Euro. Sollte es tatsächlich eine Mio. zusätzliche Krankenhausfälle geben (von über 19 Mio. jährlich), wäre das schon sehr viel. Sie dürfen sich nur nicht lawinenartig auf wenige Wochen konzentrieren. Das ist alles zu schultern.

 

Weit gefährlicher sind die wirtschaftlichen Schäden, die ein Vielfaches ausmachen. Es besteht die Gefahr des „Selbstmords aus Angst vor dem Tode“. Dass es sich hier um eine sich international drehende Spirale handelt, gestaltet die Lage aufgrund der vielen Verflechtungen nochmals ungleich komplexer.

Quelle: Seite 2 | ID 46493794