· Fachbeitrag · Liquiditätssicherung
Krisenursachen, Krisenarten und Warnsignale: Wenn Wahrscheinlichkeiten zu Ereignissen werden
von Simone Prüfer, MBA, Unternehmensberaterin und Referentin, Berlin
| Die Welt ist aus den Fugen geraten, suggeriert die Nachrichtenlage beinahe täglich. Doch stimmt das? Oder führt die stete Wiederholung von Schlagworten wie Globalisierung und Digitalisierung lediglich zu subjektiven Gemütslagen, die das wirtschaftliche und gesellschaftliche Umfeld zunehmend unbeherrschbarer erscheinen lassen? Im Kontext dieser Fragen beschäftigt sich der folgende Text mit dem Konzept von Risiko und Krise. Mit Krisenursachen, Krisenarten, Warnsignalen, Krisenabläufen. Und natürlich mit Liquidität als zentralem Element von Diagnose und Prävention. |
1. Risiko und Krise
Nehmen wir an, das wirtschaftliche Umfeld sei tatsächlich unsicherer geworden und dass größere Unsicherheit zu höheren Risiken führt. Dieser These folgend, müsste die Krisenanfälligkeit von Organismen, Unternehmen und Gesellschaften steigen. Doch was genau ist mit Risiko und Krise gemeint?
Risiko bezeichnet die Wahrscheinlichkeit eines Schadens, eines Verlustes oder eines sonstigen negativen Ereignisses, das durch externe oder interne Gegebenheiten hervorgerufen wird, das jedoch durch vorbeugende Maßnahmen verhindert oder neutralisiert werden könnte.
Eine Krise hingegen ist ein Ereignis oder eine Situation, die zu instabilen und gefährlichen Verhältnissen führen kann, welche den Fortbestand eines Individuums, einer Gemeinschaft, eines Unternehmens oder der gesamten Gesellschaft beeinträchtigen können, insbesondere, wenn sie abrupt, ohne oder nur mit geringer Vorwarnung auftreten.
Klar ist: Höhere Unsicherheit erschwert die Ermittlung von Wahrscheinlichkeiten, ergo das Erkennen von Risiken und deren Neutralisierung, was vermehrt zu Krisen führen kann.
Folglich stellen sich zwei Fragen:
- Welche Risiken können als Krisenursachen definiert werden?
- Um welche Krisenarten geht es im unternehmerischen Alltag?
2. Krisenursachen ‒ die makroökonomische Perspektive
Aus aktueller volkswirtschaftlicher Sicht soll an dieser Stelle zwischen politischen, ökonomischen, soziologischen und technologischen Risiken unterschieden werden, die zu einer erhöhten Krisenanfälligkeit auf Unternehmens-ebene führen können:
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Politische Risiken | Ökonomische Risiken |
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Soziologische Risiken | Technologische Risiken |
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Anzumerken ist, dass diese generische Betrachtung anhand von exogenen volkswirtschaftlichen Risiken auf ein spezifisches unternehmerisches Umfeld angepasst und konkretisiert werden muss. Der Wegfall traditioneller Wertschöpfungsketten betrifft aktuell beispielsweise Unternehmen der Automobilindustrie oder den stationären Einzelhandel. Andere wiederum profitieren von diesen Entwicklungen. Des Weiteren ist die Differenzierung zwischen politischen, ökonomischen, sozialen und technologischen Faktoren zuweilen fließend. Handelsbarrieren und Sanktionen etwa sind sowohl ein politisches als auch ein ökonomisches Problem. Insgesamt scheint ein Großteil der volkswirtschaftlichen Risiken das Ergebnis einer zunehmenden Ochlokratisierung zu sein
3. Krisenursachen ‒ die mikroökonomische Perspektive
Mikroökonomische Krisenursachen sind Risiken, die aus dem erweiterten Wettbewerbsumfeld resultieren, mithin aus der Marktmacht von Lieferanten, Kunden, neuen Marktteilnehmern und Substituten. Diese Krisenursachen entstehen aus dem originären Kerngeschäft des Unternehmens, seiner Kultur, seiner Kernkompetenz und seiner Strategie. Im Folgenden sollte unterschieden werden in endogene und exogene Risiken.
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Endogene Risiken | Exogene Risiken |
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Das parallele Auftreten von makro- und mikroökonomischen Risiken kann die Krisenanfälligkeit im unternehmerischen Bereich verstärken. Eine präventive Haltung ließe sich mit den Worten Gottfried Benns formulieren: „Erkenne die Lage! Rechne mit deinen Defekten! Gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen!“ Womit beinahe alles gesagt wäre. Da jedoch die Verdrängung der Wirklichkeit ein permanentes gesellschaftliches Symptom geworden ist, gilt es nun, sich dem Ernstfall und seinen Erscheinungsformen zu widmen.
4. Krisenarten
- Die Liquiditätskrise entsteht bei drohender oder bereits bestehender Zahlungsunfähigkeit. Letztere ist gegeben, wenn Unternehmen ihren Zahlungsverpflichtungen nicht mehr nachkommen (§ 17 InsO). Von drohender Zahlungsunfähigkeit wird gesprochen, wenn der Schuldner weiß, dass er bestehenden Zahlungsverpflichtungen bei deren Fälligkeit nicht nachkommen kann (§ 18 InsO). Bestehende oder drohende Zahlungsunfähigkeit bedeutet Insolvenz. Stellt die Unternehmensführung den Insolvenzfall fest, muss innerhalb von drei Wochen nach Bekanntwerden ein Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens beim Amtsgericht eingereicht werden, andernfalls macht sich die Unternehmensführung u. U. der Insolvenzverschleppung strafbar. Die vom Gesetzgeber eingeräumte Drei-Wochen-Frist soll dem Unternehmen die Möglichkeit geben, eine bestehende oder drohende Zahlungsunfähigkeit durch entsprechende Maßnahmen abzuwenden.
- Die Umsatz- und Ertragskrise entsteht infolge nachhaltig sinkender Umsätze und/oder steigender Kosten mit periodenübergreifenden Verlusten, die nicht durch Gesellschafter ausgeglichen werden und zu einer Erosion des Eigenkapitals führen, bis hin zur Überschuldung als einem weiteren Auslöser des Insolvenzfalls. Das ist der Fall, wenn ‒ vereinfacht formuliert ‒ die Schulden des Unternehmens sein Vermögen übersteigen, wobei hier zwischen Fortführungswerten und Liquidationswerten zu unterscheiden wäre.
- Die Strategiekrise ist durch eine anhaltende Verschlechterung der eigenen Wettbewerbsfähigkeit gekennzeichnet, deren Brisanz darin besteht, dass sie häufig schleichend auftritt und als solche zunächst nicht wahrgenommen wird, und ‒ anders als die Liquiditätskrise ‒ kurzfristig nicht zwingend letal wirkt.
In der Theorie können diese drei wesentlichen Krisenarten relativ präzise definiert und voneinander abgegrenzt werden. In der Praxis ist das häufig nicht der Fall. Zum einen, weil Krisenarten ineinander übergehen können, wobei nicht klar ist, welche Krisenart zuerst auftritt und zu einer anderen führt oder führen muss. Im schlimmsten Fall brechen alle drei Krisenarten mehr oder weniger zeitgleich aus. Wie bei einer Krankheit manifestieren sie sich in Phasen.
5. Krisenabläufe: Inkubationsphase
In dieser Phase wird, um im sprachlichen Bild zu bleiben, die spätere Misere ausgebrütet. Warnsignale, die auch von außen erkennbar sind, gibt es durchaus. Zu nennen wären:
- Nachhaltig steigende operative Liquiditätsbindung (Working Capital) in Relation zum Umsatz durch wachsende Lager- und Forderungslaufzeiten sowie sinkende Kreditorenlaufzeiten
- Nachhaltig negative operative Cashflows
- Nachhaltig erodierende Profitabilität
- Überproportional wachsende Kreditverbindlichkeiten
- Häufige Rückrufaktionen
- Unter Buchwert liegende Börsenkurse
Für die jeweilige Selbstwahrnehmung gelten gleiche sowie weitere Kriterien, die der Fremdwahrnehmung meist verborgen bleiben:
- Sinkende Verkaufsmengen
- Verschlechterung der verhandelbaren Zahlungsziele
- Ausweitung tatsächlicher Zahlungsziele durch Kunden
- Verlängerung der Mahnlisten und fehlende Zuständigkeiten
- Rückgang regulärer Zahlungseingänge pro Woche oder pro Monat
- Verstöße gegen das Gesetz
- Ungeordnete Strukturen und Abläufe
Spätestens an diesem Punkt stellt sich die Frage, ob Krisen voraussehbar sind. Nicht mit Sicherheit, ließe sich argumentieren, da die Zukunft zu keinem Zeitpunkt vorhersehbar war und ist. Allerdings wird die retrospektive Betrachtung gern mit der aktuellen verwechselt. Will heißen: Im Nachhinein haben wir es immer vorher gewusst!
Ein weiteres Problem stellt die Lücke zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung dar. Letztere ermöglicht eine rationalere Analyse, die jedoch von einem Informationsdefizit beeinträchtigt ist. In der Selbstwahrnehmung hingegen neigt der Betrachter trotz höheren „Insiderwissens“ zu einem asymmetrischen Positivdenken. The show must go on.
Doch selbst die Kombination von externer Rationalität mit internem Wissen führt nicht zwangsweise zu richtigen Entscheidungen. Denn selbst wenn 90 % aller potenziellen makroökonomischen und mikroökonomischen Risiken auf ein Unternehmen zutreffen, heißt das nicht zwangsläufig, dass dieses Unternehmen in eine existenzbedrohende Krise geraten wird. Für den Ausbruch einer akuten Krise bedarf es fast immer eines Auslösers. Dieser kann eine makro- oder mikroökonomische Kettenreaktion sein, die sich auf Basis mehrerer Ursache-Wirkung-Konstellationen zu einem Schneeball- oder Multiplikator-effekt potenziert. Auch der berühmte „schwarze Schwan“spielt hier eine Rolle.
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Das Phänomen des „schwarzen Schwans“ bezeichnet den Eintritt eines von allen Beteiligten als höchst unwahrscheinlich und somit nicht vorhersehbar eingeschätzten Ereignisses. Bevor Australien entdeckt wurde, waren die Menschen in der Alten Welt überzeugt, alle Schwäne seien weiß. Diese Überzeugung war unanfechtbar, da sie durch die empirische Evidenz anscheinend völlig bestätigt wurde. Als der erste schwarze Schwan gesichtet wurde, wurde das bisherige Gedankengebäude schwer erschüttert. Dieses Auftauchen völlig unerwarteter Ereignisse lässt sich übertragen auf Vorkommnisse in der Wirtschaft. Jüngste Beispiele des Phänomens „schwarzer Schwan“ sind der Fall der Berliner Mauer oder die Lehman-Pleite. |
6. Krisenabläufe: Die akute Krise
Sie bezeichnet den eigentlichen Ausbruch der „Krankheit“. Bei der Liquiditätskrise, die aufgrund ihrer Brisanz nun im Fokus stehen soll, handelt es sich um die Feststellung, dass das Unternehmen seine fälligen wie auch die in der nahen Zukunft bestehenden Zahlungsverpflichtungen nicht erfüllen kann. Wie erwähnt, räumt der Gesetzgeber eine Frist von drei Wochen ein, um das Problem zu lösen. Was ist zu tun:
- 1. Information der Aufsichtsgremien
- 2. Schließen der Liquiditätslücke durch Zurückstellen von Investitionen
- 3. Mandatierung eines Insolvenzberaters (optional, aber wichtig zur Vermeidung von Insolvenzverschleppung)
- 4. Schließen der Liquiditätslücke durch Streckung von Zahlungszielen und Tilgungsvereinbarungen mit Lieferanten
- 5. Verkauf nicht betriebsnotwendiger Vermögensgegenstände
- 6. Akquisition von Gesellschaftermitteln (Darlehen oder Kapitalerhöhung)
- 7. Akquisition von Überbrückungskrediten von (idealerweise bereits kreditgebenden) Banken
Lässt sich die Liquiditätslücke mit einer oder mehreren Maßnahmen schließen, ist die Insolvenzgefahr zunächst beseitigt. Damit sich das Problem nicht wiederholt, muss seine Ursache beseitigt werden. Weiterhin ist anzumerken, dass die o. g. Liste nicht streng chronologisch abgearbeitet werden muss, sondern zeitgleich. Überbrückungskredite von Banken sind oder sollten tatsächlich das letzte Hilfsmittel sein. Warum? Bevor diese ins Risiko gehen, werden sie ohnehin fordern, dass zumindest die Punkte 2 und 4 abgearbeitet werden. Darüber hinaus wird der Kreditnehmer fast immer formal zum Sanierungsfall herabgestuft. Mit weitreichenden Folgen:
- Zunächst beginnt die übliche Suche nach dem Schuldigen. Im Ergebnis wird die Entlassung von mindestens einem Geschäftsführer/Vorstand erzwungen, sofern dies nicht bereits von den Aufsichtsgremien veranlasst wurde. Bankseitig erfolgt häufig ein Übergang der aktiven Betreuung weg vom Firmenkundenbetreuer hin zum Sanierungsspezialisten, bei dem es sich durchaus um einen harten Knochen handeln kann, der nur ein Ziel verfolgt: die Minimierung des Risikos der Bank. Dazu gehört im ersten Schritt, dass verschiedene Kreditgeber (sofern vorhanden) eine Stillhaltevereinbarung abschließen, denn jeder Gläubiger weiß: Wenn einer seine Forderungen fällig stellt, könnte der Rest (mit) in den Abgrund fallen.
- Erfordert die Liquiditätslücke einen Überbrückungskredit, so darf dieser nur dann vergeben werden, wenn durch ein formelles Gutachten die Sanierungsfähigkeit des Kreditnehmers festgestellt wird, will heißen, sein Fortbestand, sofern die Liquiditätskrise und deren Ursache beseitigt sind. Daher erfolgt der Abschluss von Stillhaltevereinbarungen in Kombination mit Überbrückungskrediten immer mit der Auflage, dass sich das Unternehmen einem Sanierungs- und Restrukturierungsprogramm unterzieht.
- Da mit der Liquiditätskrise in der Regel auch eine Vertrauenskrise entstanden ist, steigen die Reportinganforderungen: Das Unternehmen muss ausführlicher und häufiger über seine wirtschaftliche Entwicklung berichten. Dass die meist unzähligen Restrukturierungsprojekte Wirkung zeigen, ist nun Sache von Beratern, mit denen Management und Mitarbeiter in diversen Ausschüssen mit oder ohne Banken- und Gesellschafterbeteiligung tagen. Zuweilen tritt die groteske Situation ein, dass Berater von wiederum anderen Beratern beraten und kontrolliert werden. An einem Krisenherd köcheln bekanntlich viele Köche ihr Süppchen. Bezahlen muss der kranke Patient. Ob Letzterer von seinem Leiden erlöst wird, hängt u. a. davon ab, ob
- eine effektive Restrukturierung von Krediten und Sicherheiten erreicht wird,
- Maßnahmen wie Gläubigerverzicht und Kapitalschnitt durchsetzbar sind,
- die Risiken aus den endogenen Defekten minimiert werden können,
- Strategiewechsel und Neuausrichtung zu einer Verbesserung der Wettbewerbsposition führen,
- sich die Risiken des volkswirtschaftlichen Umfelds verringern,
- das enge finanzielle Korsett einen mit Investitionen verbundenen Strategiewechsel zulässt.
Egal wie die Sache ausgeht ‒ dem Unternehmen bleibt meist auch die dritte Krisenphase nicht erspart.
7. Krisenabläufe: Die Post-Krise
Diese Phase ist durch folgende Symptome kennzeichnet:
- Vertrauensverlust: Über Jahre hinaus wird das Unternehmen kaum kreditfähig sein, insbesondere wenn Kreditgeber auf Forderungen verzichten mussten
- Reputationsverlust: Kunden suchen lieber neue, gesunde Lieferanten
- Bonitätsverlust: Lieferanten bestehen auf engeren Zahlungszielen bis hin zur Vorkasse
- Physische und psychische Erschöpfung der Mitarbeiter
- Erhöhte Krankheitsrate und Fluktuation
- Allgemein geschwächte Widerstandskraft des Unternehmens
Die Liquiditätsspielräume bleiben eingeschränkt. Bordmittel für Recovery und Neuausrichtung sind oft nicht vorhanden. Das Rückfallrisiko ist hoch und mit ihm die Gefahr, dass das Unternehmen in seine letzte, die Identitätskrise schlittert.
8. Prävention
Und damit zurück zu Gottfried Benn, der übrigens kein Wirtschaftswissenschaftler war, und dem bereits zitierten Satz „Erkenne die Lage! Rechne mit deinen Defekten! Gehe von deinen Beständen aus, nicht von deinen Parolen!“. Diesen Satz schrieb Benn übrigens in einem gänzlich anderen Zusammenhang auf. Dennoch sollte er das Motto jeder Unternehmensführung zu jedem Zeitpunkt sein, egal ob die Welt unsicherer oder wir einfach nur neurotischer geworden sind. In seinem Sinne hieße das:
- Formulieren und leben einer fokussierten Unternehmensstrategie: Wer oder was wollen wir sein und wie erreichen wir das?
- Etablieren von effizienten und effektiven Strukturen und Abläufen
- Generierung eines möglichst hohen operativen Cashflows (Innenfinanzierungskraft) durch
- möglichst geringe operative Mittelbindungen (Working Capital)
- nachhaltig stabile liquiditätswirksame Gewinne
- Solide Investitionen in Sachanlagen und Mitarbeiter
- Maßvolle Verschuldung im Verhältnis zu EBITDA und Eigenkapital
- Maßvolle Dividendenausschüttungen
- Keine Verschwendung von Liquidität und Vermögen
- Regelmäßige Überprüfung der endogenen und exogenen Risiken nebst Ableitung entsprechender Handlungsoptionen
FAZIT | Im Zweifel geht Liquidität vor Rentabilität. Oder noch kürzer: Cash is King. |