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· Fachbeitrag · Hinzuschätzung in der Gastronomie

Verstoß gegen Einzelaufzeichnungspflicht und fehlende Kassenprogrammierungsunterlagen

von Rechtsassessor Dr. Matthias H. Gehm, Limburgerhof und Speyer

| Das FG Hamburg (13.8.18, 2 V 216/17, Abruf-Nr. 205452 ) hat in einem AdV-Verfahren ausführlich zu Fragen der Schätzung gem. § 162 AO im gastronomischen Bereich mit fast ausschließlichen Barumsätzen Stellung bezogen. Die Entscheidung gibt wichtige Hinweise zum Problemfeld Schätzung. |

1. Ausgangsfall

Die Antragstellerin betrieb in den Streitjahren 2011 bis 2015 einen Döner-Imbiss nebst Kiosk an zwei Standorten, wobei diese an allen Wochentagen geöffnet waren. Im Imbiss wurden vornehmlich Dönerprodukte und Getränke angeboten, im Kioskbereich wurden Backwaren, Kaffee und andere Getränke sowie Zigaretten und Tageszeitungen veräußert. Ihren Gewinn ermittelte die Antragstellerin durch Betriebsvermögensvergleich.

 

Zulieferer für Dönerspieße (Kalb- und Geflügelfleisch), Wurstwaren, Verpackungen und Getränke war die A-GmbH. Bei dieser wurde von der Steuerfahndung festgestellt, dass sie der Antragstellerin zumindest für den Zeitraum 2011 bis 2013 Doppelverkürzungen (verkürzte Erfassung der Betriebseinnahmen als auch der Betriebsausgaben) ermöglichte. Insofern wurden von der A-GmbH auf der Kundennummer der Antragstellerin gebuchte Bestellungen später auf das Konto Lager- bzw. Barverkauf umgebucht.

 

Für den untersuchten Zeitraum September 2010 bis Oktober 2013, wobei teilweise Protokolldateien des Warenwirtschaftssystems der A-GmbH nur fragmentarisch vorlagen, ergab sich, dass die Umbuchungen 34 % des tatsächlichen Wareneinkaufs betragen haben. Zudem konnte anhand sichergestellter Unterlagen wie Bestelllisten, Lieferscheine etc. festgestellt werden, dass weitere Lieferungen an die Antragstellerin auf Lagerverkauf gebucht wurden. Die Bezahlung erfolgte nach den bei der A-GmbH sichergestellten Aufzeichnungen durch die Antragstellerin bar. Auch wurden, obgleich entsprechende Lieferscheine vorlagen, im Kundenkonto der A-GmbH für die Antragstellerin ab August 2012 keine Wareneinkäufe für das Wochenende erfasst, wobei die Lieferscheine belegen, dass gewöhnlich 450 kg Dönerfleisch am Wochenende geliefert wurden.

 

Des Weiteren wurde Videomaterial für Oktober 2013 sichergestellt, aus dem sich ergibt, dass vom Personal der Antragstellerin viele Verkaufsvorgänge in deren PC-Kassensystem nicht eingegeben wurde. Das Kassensystem wurde mindestens ab September 2012 genutzt und ermöglichte die Aufzeichnung von Einzelumsätzen. Einzelaufzeichnungen konnten allerdings nur für März bis Oktober 2013 sowie ab September 2014 für eine Filiale der Antragstellerin sichergestellt werden. Eine Inventur wurde lediglich auf den 31.12.12 von der Antragstellerin durchgeführt.

 

Für die Streitjahre wurden Außenprüfungen sowie eine Umsatzsteuer-Sonderprüfung für den Zeitraum 2014 bis April 2016 durchgeführt. Dabei nahm das FA folgende Zuschätzung aufgrund einer auf den Wareneinsatz beruhenden Ausbeutekalkulation vor.

 

1.1 Zuschätzungen

Hinsichtlich der Dönerprodukte ging das FA vom erklärten Wareneinkauf aus, den es um die bei der A-GmbH festgestellten Umbuchungsvorgänge erhöhte. Dabei kam es zu weiteren Erhöhungen, da die Unterlagen der A-GmbH nur fragmentarisch waren. Für 2013 wurden noch für 42 Wochenenden Lieferungen von je 420 kg zusätzlich berücksichtigt. Auch wurde für 2013 der Wareneinkauf aufgrund von Vergleichswerten anderer Jahre erhöht, Gleiches galt für 2014. Nur für 2015 wurde der erklärte Wareneinsatz angesetzt. Die so bestimmte Menge eingekauften Dönerfleischs wurde um 38 % für Garverlust, Schwund und Eigenverbrauch reduziert. Sodann wurde von einer Portionsgröße von 180 g ausgegangen, die mit einem durchschnittlichen gewichteten Verkaufspreis für die unterschiedlichen Dönerprodukte multipliziert wurde, der auf einer Auswertung der Kasseneinzeldaten beruht.

 

Hinsichtlich einer für 2014 durchgeführten Ausbeutekalkulation für die Hähnchen wurde der Schwund mit 15 % angesetzt. Hinsichtlich der sonstigen Speisen (Salat, Falafel, Pommes, Lahmacun) wurde aufgrund von Einzelnachweisen für zwei Tage aus dem Jahr 2013 ein durchschnittlicher Erlös ermittelt, auf das Jahr hochgerechnet und um Schwarzeinkäufe bei der A-GmbH erhöht. Für die Jahre 2013 bis 2015 wurde zudem von einer jährlichen Umsatzsteigerung von 10 % ausgegangen.

 

Bei den Backwaren wurde eine Erhöhung um die von der A-GmbH umgebuchten Einkäufe vorgenommen und anhand der Einkaufs- und Verkaufspreise ein Rohgewinnaufschlagsatz ermittelt. Des Weiteren wurde von einem Verkauf von 95 % der eingesetzten Ware ausgegangen.

 

Bei dem Wareneinsatz an Kaffee und sonstigen Getränken wurde eine Erhöhung um die Umbuchungsvorgänge der A-GmbH und weiteren nicht erklärten Warenbezug bei der Firma E vorgenommen. Anhand der selbst erklärten Wareneinkäufe schätzte das FA zudem nach Ermittlung der Rohgewinnaufschlagsätze Erlöse aus dem Verkauf von Tabak und Presseartikeln.

 

Den so kalkulierten nichterklärten Wareneinkauf setzte das FA mit seinem Bruttowert als Einlage in das Betriebsvermögen der Antragstellerin an.

 

1.2 Einspruch und Antrag auf AdV

Gegen die auf den Zuschätzungen des FA ergangenen geänderten Bescheide über Einkommen-, Umsatz- und Gewerbesteuer wendete sich die Antragstellerin mit Einspruch und sodann Antrag auf AdV.

2. Schätzungsbefugnis

Das FG Hamburg leitet die Schätzungsbefugnis des FA gem. § 162 Abs. 2 AO zum einen daraus ab, dass die Antragstellerin, welche einen Betrieb mit nahezu ausschließlich baren Ausgangsumsätzen in den Streitjahren unterhielt, die Organisationsunterlagen nach § 147 Abs. 1 Nr. 1 AO zur Kassenprogrammierung nicht (vollständig) vorgelegt hat.

 

2.1 Fehlende Organisationsunterlagen zur PC-Kasse

Zu der Einrichtung ihrer PC-Kasse liegen keine Einrichtungsprotokolle vor. Dabei genügt es nicht, aktuelle Protokolle vorzulegen, sondern es müssen Protokolle von der ersten Einrichtung und entsprechenden Fortschreibungen der Programmierung vorliegen. Letzteres rührt daher, dass allein Anpassungen der Kasse an geänderte Preise und Produktsortimente fortlaufende Programmierungen erfordern, über die Protokolle zu fertigen sind.

 

2.2 Verstoß gegen Grundsatz der Einzelaufzeichnung

Zum anderen ergibt sich auch eine Schätzungsbefugnis des FA daraus, dass gegen den Grundsatz der Einzelaufzeichnungspflicht verstoßen worden ist.

 

Zwar erfährt dieser Grundsatz dort eine Ausnahme, wo es dem Steuerpflichtigen aus technischen, betriebswirtschaftlichen und praktischen Gründen unmöglich ist, jeden einzelnen Barumsatz zu erfassen. Entscheidet sich der Steuerpflichtige jedoch für ein modernes PC-Kassensystem, das zum einen sämtliche Kassenvorgänge einzeln und detailliert aufzeichnet und zum anderen auch eine langfristige Speicherung der getätigten Einzelaufzeichnungen ermöglicht, ist diese Unzumutbarkeit nicht gegeben (BFH 16.12.14, X R 29/13, BFH/NV 15, 790). Dabei verwendete die Antragstellerin ein Kassensystem, das jeden Einzelumsatz erfasste und zunächst in einem internen Speicher (RAM) ablegte. Zudem besaß das System weitere Schnittstellen, durch die Verbindungen mit weiteren EDV-Systemen möglich waren. Auch konnte eine Datensicherung mittels SD-Karte bzw. CF-Karte vorgenommen werden, sodass die Möglichkeit einer dauerhaften Speicherung gegeben war. Unerheblich ist, ob das Kassensystem GDPdU-konform war.

 

2.3 Bewiesene Fehlbedienung der Kasse durch Mitarbeiter

Auch ergab sich die Schätzungsbefugnis aus dem sichergestellten Videomaterial, das belegt, dass Mitarbeiter der Antragstellerin des Öfteren die einmal geöffnete Kassenlade nutzten, um Geldbeträge in die Kasse einzulegen und Wechselgeld zu entnehmen, ohne den entsprechenden Verkaufsvorgang ins Kassensystem einzugeben.

 

2.4 Ermöglichung von Doppelverkürzungen durch Zulieferer

Des Weiteren ergab sich die Schätzungsbefugnis aus den von der Steuerfahndung ermittelten Ansatzpunkten für Doppelverkürzungen bei der Antragstellerin in den Jahren 2011 bis 2013. Dabei hebt das FG Hamburg hervor, dass die bei der A-GmbH vorgenommenen Umbuchungen in Höhe von 34 % des gesamten Wareneinkaufs der Antragstellerin dafür sprechen, dass es sich nicht um ein Versehen handelt, sondern aufgrund einer Absprache zwischen der Antragstellerin und der A-GmbH gerade solche Doppelverkürzungen ermöglicht werden sollten, zumal die A-GmbH selbst keinen eigenen steuerlichen Vorteil aus dem Vorgehen hatte und die Antragstellerin diese Warenlieferungen bar bezahlte. Auch ergab sich aus den Lieferscheinen und den Videoaufnahmen, dass entgegen der Angaben der Antragstellerin sie auch an Samstagen und Sonntagen von der A-GmbH beliefert wurde.

 

2.5 Fehlende Inventuren

Das FG Hamburg ließ es in Anbetracht der solchermaßen bereits mehrfach gegebenen Schätzungsbefugnis dahingestellt, ob auch die nicht durchgeführten Inventuren für sich betrachtet bei einem Betrieb mit übersichtlichem Anlagevermögen und geringen Schwankungen im Umlaufvermögen die Schätzungsbefugnis begründet hätte.

3. Schätzungsmethoden

Die Wahl der Schätzungsmethode liegt sowohl für das FA nach § 162 AO wie für das FG gem. § 96 Abs. 1 S. 1 FGO im pflichtgemäßen Ermessen.

 

3.1 Auswahl unter mehreren Schätzungsmethoden

Unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls ist die Schätzmethode zu wählen, die die größte Gewähr dafür bietet, mit einem zumutbaren Aufwand das wahrscheinlichste Ergebnis zu liefern (FG Bremen 17.1.07, 2 K 229/04 [5], EFG 08, S. 8).

 

Schätzungsziel muss es sein, der Wirklichkeit möglichst nahe zu kommen, wobei das Schätzungsergebnis wirtschaftlich vernünftig und möglich sein muss (BFH 18.12.84, VIII R 195/82, BStBl II 86, 226). Es liegt aber in der Natur der Sache, dass die Schätzung von den tatsächlichen Verhältnissen abweichen kann, wobei der durch die Umstände des Falles gezogene Schätzungsrahmen jedoch nicht verlassen werden darf (BFH 1.10.92, IV R 34/90, BStBl II 93, 259).

 

3.2 Rechtmäßigkeit der einzelnen Schätzungen

Das FG Hamburg geht bei summarischer Prüfung davon aus, dass die Nachkalkulation unter Berücksichtigung der Werte aus Umbuchungen im Warenwirtschaftssystem der A-GmbH nicht zu beanstanden ist. Des Weiteren durfte der Wareneinkauf auch unter Berücksichtigung der Durchschnittswerte aus anderen Jahren nochmals erhöht werden, da die gute wirtschaftliche Situation des Betriebs der Antragstellerin gegen einen Rückgang in diesem Bereich spricht. Zudem ist, wenn wie im Fall die materielle Unrichtigkeit der Buchführung nachgewiesen ist und im Einzelfall sich keine andere Schätzungsmethode aufdrängt, auch ein Zeitreihenvergleich zulässig (BFH 25.3.15, X R 20/13, BStBl II 15, 743).

 

Der vom FA angesetzte Abschlag für Garverluste, Schwund und Eigenverbrauch ist durch ein Gutachten des Chemischen und Veterinäruntersuchungsamts Stuttgart belegt (LG Stuttgart 22.7.09, 13 KLs 142 Js 104750/05, BeckRS 2011, 13059).

 

3.2.1 Nachkalkulation Dönerfleisch

Weiterhin beanstandet das FG Hamburg den vom FA ermittelten gewichteten durchschnittlichen Verkaufspreis pro Dönerprodukt nicht, da aufgrund der Kasseneinzeldaten unterschiedlichste Produkte wie Döner-Teller, Döner-Brot, Reis-Döner, Pommes-Döner groß und klein Berücksichtigung fanden. Auch der Ansatz von 180 g pro Fleischportion erachtet das FG Hamburg als äußerst maßvoll.

 

3.2.2 Nachkalkulation Hähnchen

Den Ansatz von 15 % Schwund sieht das FG Hamburg hier als sachgerecht an.

 

3.2.3 Nachkalkulation sonstiger Speisen (Salat, Falafel, Pommes, Lahmacun)

Die Ermittlung des durchschnittlichen gewichteten Verkaufspreises aufgrund Kasseneinzeldaten zweier Tage sowie die unterstellte jährliche Preiserhöhung orientiert an der Preisentwicklung bei den Dönerprodukten wurden vom FG Hamburg gebilligt.

 

3.2.4 Nachkalkulation Kaffee, übrige Getränke, Tabak und Presseartikel

Das FG Hamburg sieht es als zulässig an, bei der Ausbeutekalkulation von Portionsgrößen je Kaffee von 10 bzw. 7 g auszugehen. Auch den angesetzten Rohgewinnaufschlagsatz von 100 % für die weiteren Getränke wie auch bei in Flaschen abgegebenen Getränken von einem Schwund von nur 2 % billigte das FG Hamburg ebenfalls. Bei Getränken, die nicht in Flaschen abgegeben werden (Ayran), erscheint dem FG Hamburg eine Schwundquote von 30 % für angemessen.

 

Die Presseartikel und der Tabak wurden anhand des erklärten Wareneinsatzes zulässigerweise ermittelten Rohgewinnaufschlagsatzes unbeanstandet vom FG Hamburg geschätzt.

 

3.2.5 Nachkalkulation Backwaren

Das FG Hamburg folgt dem Schwund von 5 %, wobei sich aus den eigenen Aufzeichnungen der Antragstellerin nämlich für das Jahr 2016 ein solcher von nur 3,3 % ergibt.

 

FAZIT | Die Entscheidung ist interessant, da sie, obgleich nur im summarischen AdV-Verfahren ergangen, so doch sehr detailliert zu Ausbeutekalkulationen im gastronomischen Bereich Stellung bezieht. Gerade bei Branchen mit hohen Barumsätzen, bei denen die formelle wie auch materielle Richtigkeit des Kassensystems von elementarer Bedeutung bei steuerlichen Außenprüfungen sind, geben bei festgestellten Mängeln Anlass zu entsprechenden Zuschätzungen.

 

Hervorzuheben ist, dass derjenige, der entsprechend ausgerüstete Kassensysteme besitzt, diese auch zur Einzelaufzeichnung nutzen muss, will er nicht Gefahr laufen, dass die Finanzverwaltung bei ihm Zuschätzungen vornimmt. Die aktuelle Entscheidung wird daher vermutlich zu vermehrten Schätzungen führen.

 
Quelle: Seite 33 | ID 45676297