· Fachbeitrag · Fahrverbot
Neue(re) Rechtsprechung zum Fahrverbot:Absehen vom Fahrverbot und Prozessuales
von RA Detlef Burhoff, RiOLG a. D., Leer/Augsburg
| Der Beitrag greift einzelne Fallfragen aus der aktuellen Rechtsprechung zum Absehen vom Fahrverbot und zu den Anforderungen an das tatrichterliche Urteil auf. |
1. Absehen vom Fahrverbot aus beruflichen Gründen
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Umstände des Einzelfalls | Absehen: ja oder nein? | Fundstelle |
Absehen vom Fahrverbot aus beruflichen Gründen. | Nein, wenn gravierende berufliche Nachteile anderweitig, insbesondere durch Urlaubnahme unter Nutzung einer Abgabefrist nach § 25 Abs. 2a StVG, durch die Wahl eines ‒ auch mit deutlichem finanziellem und zeitlichem Mehraufwand verbundenen ‒ anderen Transportmittels oder eine Kombination solcher Maßnahmen vermieden werden können. Liegt zudem ein erhebliches Einkommen vor, und dient die Nutzung des Kraftfahrzeugs seiner Erwirtschaftung, kann von dem Betroffenen verlangt werden, dieses zur Überbrückung der Zeit des Fahrverbotes einzusetzen; hierdurch wird er nicht übermäßig belastet. | OLG Koblenz 24.7.18, |
Das AG sieht nicht vom Fahrverbot ab, weil der Betroffene bei der gegebenen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungslage „unproblematisch eine vergleichbare Tätigkeit finden“ werde. | Ggf., da eine pauschale Prognose zur Arbeitsmarktlage unzulässig ist. | OLG Bamberg VA 18, 192 |
Das AG sieht vom Fahrverbot ab, weil der Betroffene existenziell auf den Führerschein angewiesen ist, da er zum einen zum Erreichen seines 57 km entfernt liegenden Arbeitsortes auf die ständige Nutzung seines Pkw als Selbstfahrer angewiesen ist. Zudem ist er regelmäßig beruflich deutschlandweit tätig und auch hierbei auf seinen Pkw angewiesen. | Nein, wenn nicht geprüft worden ist, ob der Betroffene die Dauer des einmonatigen Regelfahrverbots durch die Inanspruchnahme von Urlaub oder Fahrern aus dem Kreis der Verwandten, Bekannten, Studenten bzw. Arbeitslosen zu überbrücken vermag oder ihm dies durch eine Kombination dieser beiden Varianten, gegebenenfalls unter Inanspruchnahme eines Ratenkredits möglich ist. Zudem ist auch in den Blick zu nehmen, dass ihm die Regelung des § 25 Abs. 2a StVG hierfür einen zeitlichen Rahmen von vier Monaten einräumt. | OLG Brandenburg 11.6.19, (2 B) 53 Ss-OWi 244/19 (89/19) |
Der Betroffene muss als selbstständiger Unternehmensberater Kunden im gesamten Bundesgebiet mit dem Pkw aufsuchen. Er kann nicht mehr als zwei Wochen Urlaub „am Stück“ nehmen. | Nein, wegen verkehrstechnisch guter Lage seines Wohnorts mit guter Erreichbarkeit von öffentlichen Verkehrsmitteln; unmittelbarerAnschluss an einen Flughafen. | OLG Düsseldorf 5.9.19, |
Die Betroffene macht geltend, als freigestellte Betriebsrätin dringend auf die Benutzung von Kraftfahrzeugen angewiesen zu sein. | Nein, die Funktion im Betriebsrat ist von der beruflichen Beschäftigung zu unterscheiden. Merke | Es komme allein darauf an, ob der eigentliche Arbeitsplatz durch das Fahrverbot gefährdet ist. | OLG Zweibrücken 21.1.19, 1 OWi 2 Ss Bs 64/18 |
Freiberuflicher Zahnarzt, der außerhalb der Sprechzeiten seiner Praxis auch Hausbesuche durchführt. | Nein. Es ist hier nicht ersichtlichen, dass die Anordnung des Fahrverbots eine solche ganz außergewöhnliche Härte darstellt. | KG 13.5.19, |
Selbstständiger Taxifahrer, sechsköpfige Familie, hohe Verbindlichkeiten. | Kein Absehen, da bereits ein früheres Fahrverbot nicht zum Verlust seiner Existenz geführt hat. Die Familie ist durch sozialhilferechtliche Ansprüche ausreichend gesichert. Zudem lagen drei gewichtige Verkehrsverstöße innerhalb von wenig mehr als einem halben Jahr vor. | OLG Karlsruhe |
Der Arbeitgeber droht eine Kündigung an. | Nein, denn die Androhung einer offensichtlich rechtswidrigen Kündigung durch den Arbeitgeber rechtfertigt kein Absehen vom Fahrverbot. | KG VA 19, 179; ähnlich OLG Zweibrücken 1.4.20 1 OWi 2 Ss Bs 114/19 |
Berufliche Schwierigkeiten durch ein Fahrverbot im Rahmen eines Nebenjobs, durch den ein stellvertretender Filialleiter eines Getränkemarkts monatlich 300 bis 400 EUR verdient. | Nein, Gründe nicht ausreichend. | AG Dortmund VA 19, 104 |
Hoteldirektor. | Nein, einem Hoteldirektor ist es für die Dauer eines anstehenden Fahrverbots zumutbar, sich selbst ein Zimmer in dem von ihm geführten Hotel zu nehmen. | AG Dortmund NZV 19, 107 |
Absehen vom Fahrverbot bei einem (katholischen) Priester. | Nein, die mit der Ausübung des Amtes eines katholischen Priesters oder derjenigen eines jeden (hauptamtlichen) Geistlichen einer anderen Konfession oder Glaubensrichtung typischerweise verbundenen wesentlichen Aufgaben, darunter die ggf. kirchenrechtlich exklusive Legitimation zur (Einzel-) Sakramentsspendung, rechtfertigen regelmäßig für sich allein nicht das Absehen von einem verwirkten Regelfahrverbot oder die Anerkennung einer sonstigen Fahrverbotsprivilegierung. | BayObLG 27.4.20, |
MERKE | Ein Betroffener kann sich grundsätzlich nicht darauf berufen, dass er beruflich auf seine Fahrerlaubnis angewiesen ist, wenn er das verwirkte Regelfahrverbot durch mangelnde Verkehrsdisziplin leichtfertig riskiert hat (KG VA 19, 48; zu den Begründungsanforderungen beim Absehen vom Fahrverbot wegen beruflicher Gründe s. auch noch OLG Koblenz 24.7.18, 1 OWi 6 SsBs 67/18).
Hat die Verhängung eines Fahrverbots zur Folge, dass der Betroffene zeitweise seiner beruflichen Tätigkeit nicht nachgehen kann, rechtfertigt der damit verbundene Wegfall des Einkommens für sich genommen nicht die Annahme einer wirtschaftlichen Existenzgefährdung (OLG Karlsruhe 26.11.19, 2 Rb 35 Ss 795/19). |
2. Absehen vom Fahrverbot aus sonstigen Gründen
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Umstände des Einzelfalls | Absehen: ja oder nein? | Fundstelle |
Der Betroffene lässt sich gegenüber dem Vorwurf einer Geschwindigkeitsüberschreitung dahin ein, eine dringende Notdurft und Magenkrämpfe verspürt zu haben. Daher habe er möglichst schnell die Toilette seiner Freundin erreichen wollen. | Ggf. ja, es sind aber Feststellungen dazu erforderlich, wann und wo der Betroffene die Fahrt angetreten hat und wie lange er bereits unterwegs gewesen ist. Damit soll geklärt werden, ob es ihm bereits vor Fahrtantritt oder während der Fahrt zu einem früheren Zeitpunkt möglich war, seine Notdurft zu verrichten, oder er hierzu einen näher gelegenen Ort (gastronomische Einrichtungen, Tankstellen oder Freunde oder Bekannte) mit angemessener Geschwindigkeit hätte anfahren können. | OLG Brandenburg 25.2.19, (1 B) 53 Ss-OWi 41/19 (45/19) |
Vom Fahrverbot wird abgesehen, weil der Betroffene als selbstständig tätiger Beratungsstellenleiter eines Lohnsteuerhilfevereins mit vorwiegend ländlichem Einzugsbereich berufsbedingt stärker dem Risiko wiederholter straßenverkehrsrechtlicher Auffälligkeit ausgesetzt ist. | Nein, das rechtfertigt grundsätzlich kein Abweichen von einem Regelfahrverbot.
Merke | Das gilt auch bei einer geständigen Einlassung oder einem sonst günstigen, ggf. in einer Einspruchsbeschränkung auf den Rechtsfolgenausspruch zum Ausdruck gebrachten Eindruck oder einer aus sonstigen Gründen positiven Prognose hinsichtlich des zukünftigen Verkehrsverhaltens. | BayObLG 1.10.19, |
Das AG stellt darauf ab, dass der Betroffene als sog. Vielfahrer berufsbedingt verstärkt am Straßenverkehr teilnimmt und eine hohe Fahrleistung aufweist. | Nein. | BayObLG 17.9.19, |
Absehen vom Regelfahrverbot, weil der Betroffene keinen Eintrag im Fahreignungsregister aufweist. | Nein, da die BKatV von einem nicht vorbelasteten Betroffenen ausgeht. | BayObLG 17.9.19, |
Absehen vom Fahrverbot wegen ehrenamtlicher Tätigkeit als Vorsitzender des Vorstands einer gemeinnützigen Stiftung. | Nein, vor allem dann nicht, wenn der Betroffene als Pensionär im öffentlichen Dienst gut abgesichert ist und ihm zudem die Schonfrist nach § 25 Abs. 2a StVG gewährt wird. | AG Dortmund 15.11.19, 729 OWi-267 Js 1718/19-287/19 |
MERKE | Die Voraussetzungen eines Ausnahmefalls, in dem entgegen der Regel von der Verhängung eines Fahrverbots abgesehen werden könnte, liegen nur vor, wenn nach den festgestellten objektiven Gegebenheiten die Gefährlichkeit des konkreten Verstoßes des Betroffenen von der typischen Gefahrensituation abweicht, die geahndet werden soll (OLG Düsseldorf 5.9.19, IV-4 RBs 96/19, Abruf-Nr. 213251). |
3. Anforderungen an das tatrichterliche Urteil/Prozessuales
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Umstände des Einzelfalls | Entscheidung | Fundstelle |
Der Amtsrichter sieht vom Fahrverbot ab. | Der Bußgeldrichter muss seine Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht ‒ ggf. sehr ausführlich ‒ begründen. | KG VRS 136, 302 |
Das Fahrverbot wird in einem im sog. Beschlussverfahren (§ 72 OWiG) erlassenen Beschluss festgesetzt. | Für die Begründung einer im Beschlussverfahren erlassenen Entscheidung gelten gemäß § 72 Abs. 4 und Abs. 5 OWiG ebenso die an ein Bußgeldurteil zu stellenden Anforderungen auch mit Blick auf die Erwägungen für ein Fahrverbot.
Beachten Sie | Daher müssen auch in den Beschlussgründen die noch verwertbaren Vorahndungen des Betroffenen mit Angaben zum jeweiligen Rechtskrafteintritt sowie zu den Tatzeiten und den erkannten Rechtsfolgen dargestellt werden (BayObLG, a. a. O.). | BayObLG 25.9.19, KG 16.1.19, OLG Bamberg 27.11.18; OLG Hamm 9.5.19, |
Verschlechterungsverbot nach Einspruch gegen Bußgeldbescheid. | Das Verschlechterungsverbot gilt im erstinstanzlichen gerichtlichen Bußgeldverfahren nur bei einer Entscheidung durch Beschluss im schriftlichen Verfahren (§ 72 Abs. 3 S. 2 OWiG), nicht bei einer Entscheidung durch Urteil nach Durchführung einer Hauptverhandlung. Daher entfällt in dem Urteil die viermonatige Schonfrist (§ 25 Abs. 2a StVG), wenn nach Erlass des Bußgeldbescheids, in dem diese Vergünstigung noch gewährt wurde, ein Fahrverbot in anderer Sache als Vorbelastung hinzugetreten ist. | OLG Düsseldorf 4.10.18, |
Der Amtsrichter sieht allein wegen der damit für den Betroffenen verbundenen wirtschaftlichen Folgen von der Verhängung eines Fahrverbots ab. | Der Tatrichter muss, um das Ausmaß der prognostizierten Folgen und damit das Gewicht dieses Umstands zu bestimmen, auch die Möglichkeiten in den Blick nehmen, die dem Betroffenen zur Abmilderung dieser Folgen zur Verfügung stehen. | OLG Zweibrücken zfs 19, 653 |
Der Amtsrichter stützt seine Überzeugung vom Vorliegen eines das Absehen vom Fahrverbot rechtfertigenden Härtefalls auf eine schriftliche Bestätigung des Arbeitgebers. | Der Inhalt der Bestätigung ist zumindest sinngemäß im Urteil derart wiederzugeben, dass dem OLG eine hinreichende Überprüfung ermöglicht ist. Darüber hinaus besteht in aller Regel Anlass, deren Stichhaltigkeit kritisch zu überprüfen und das Ergebnis im Urteil darzustellen.
Beachten Sie | Um das Vorliegen einer bloßen Gefälligkeitserklärung auszuschließen, ist nach Auffassung des BayObLG regelmäßig die Vernehmung des Arbeitgebers, seines Personalverantwortlichen oder des sonstigen Ausstellers veranlasst. | BayObLG 31.7.19, |
Weiterführender Hinweis
- Mehr zum Fahrverbot: Allgemeine Fragen, beharrlicher Verstoß, Augenblicksversagen etc. werden in der Übersicht in VA 20, 147 behandelt.