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· Fachbeitrag · Kindeswohlgefährdung

Misshandelte Kinder in der Zahnarztpraxis: Bitte schauen Sie nicht weg!

von Anja Meyer, Kinderschutzfachkraft und Mitarbeiterin des Deutschen Kinderschutzbundes Landesverband NRW e. V., www.dksb-nrw.de

| Wenn Kinder und Jugendliche geschlagen, vernachlässigt oder sexuell missbraucht werden, fragen sich viele: Warum hat denn niemand etwas gemerkt und dem Mädchen oder dem Jungen geholfen? Gewalt gegen Kinder und Jugendliche ist ein Thema, das alle angeht. Wer aufmerksam ist, bemerkt vielleicht mögliche Warnsignale. Auch die Mitarbeiterinnen in Zahnarztpraxen sind wichtige Partner im Kinderschutz - wenn sie wissen, worauf sie achten müssen. |

Wenn ein Kind oder Jugendlicher Hilfe braucht …

Das Team einer Zahnarztpraxis hat jeden Tag Kontakt zu Eltern und ihren Kindern - sowohl bei der Terminvereinbarung als auch bei der Untersuchung oder der Prophylaxe. Das sind vielfältige Gelegenheiten, um sich einen Eindruck von der Familie zu machen. In der Regel geschieht das nebenbei und fast unbewusst. Wer etwas Ungewöhnliches bei einem jungen Patienten oder seinen Eltern bemerkt, sollte genauer hinschauen und hinhören. Es gibt vielfältige Anzeichen dafür, dass ein Junge oder ein Mädchen Hilfe braucht, weil eine Gefährdung des Kindeswohls vorliegen könnte.

 

Kindeswohlgefährdung: Was ist das?

Fachleute sprechen von Kindeswohlgefährdung, wenn ein Minderjähriger durch das Verhalten der Eltern oder anderer Erwachsener erheblichen körperlichen oder seelischen Schaden nehmen könnte. Es gibt dabei unterschiedliche Formen:

  • körperliche oder seelische Vernachlässigung,
  • körperliche oder seelische Misshandlung,
  • sexualisierte Gewalt und
  • das Beobachten elterlicher Partnerschaftsgewalt.

 

Diese Formen treten selten klar getrennt voneinander auf. Häufig haben es Kinder mit mehreren Gefährdungsmomenten zu tun.

 

Welche Warnsignale senden Kinder und Jugendliche?

Ob tatsächlich das Kindeswohl gefährdet ist, lässt sich nicht leicht einschätzen. Aber es ist wichtig, dass Praxismitarbeiterinnen diese Möglichkeit überhaupt in Betracht ziehen - z. B. wenn sich das Gebiss in einem sehr schlechten Zustand befindet oder die Mundhygiene unzureichend ist. In einer Zahnarztpraxis werden aber auch die Auswirkungen von Misshandlungen sichtbar: Bei Zahnfrakturen, Einblutungen in die Mundschleimhaut sowie Verletzungen des Lippenbändchens muss es sich nicht um Unfallfolgen handeln. So etwas könnte auch auf körperliche Gewalt hindeuten - ebenso wie Wunden oder blaue Flecken im Gesicht, an Armen oder Beinen.

 

Neben körperlichen Auffälligkeiten kann auch das Verhalten des Jungen oder Mädchens sowie der Eltern Anhaltspunkte für eine Misshandlung liefern. Dazu gehören etwa ein ungewöhnlich aggressiver Kontakt zwischen Kindern und Eltern sowie ein extrem ängstliches, distanzloses oder sexualisiertes Verhalten des Kindes oder Jugendlichen. Vielleicht erregt auch eine Mutter die Aufmerksamkeit des Praxisteams. Es könnte sein, dass sie Opfer häuslicher Gewalt ist und ihr Kind das als Zeuge mitbekommt.

 

PRAXISHINWEIS | Sind Sie als Mitarbeiterin einer Zahnarztpraxis um das Wohl eines Minderjährigen in Sorge, haben Sie das Recht, sich durch eine Kinderschutzfachkraft beraten zu lassen. So sieht es das Bundeskinderschutzgesetz vor. Die Kinderschutzfachkraft - im Gesetzestext wird sie „insoweit erfahrene Fachkraft“ genannt - berät Sie bei Ihrer Entscheidung, was weiter zu tun ist.

 

Bedenken Sie: Im Sinne des Kinderschutzes ist es gut und sinnvoll, Zivilcourage zu zeigen und zu handeln, wenn Sie eine Gefährdung vermuten!

 

Forensischer Befundbogen

Stellt der Zahnarzt offenkundige untypische Verletzungen fest, sollte er dies dokumentieren - das ist wichtig für eine spätere rechtsmedizinische Einordnung bzw. juristische Bewertung der Befunde. Als Hilfe eignet sich hierfür z. B. der forensische Befundbogen, den die Zahnärztekammern und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen Nordrhein und Westfalen-Lippe entwickelt haben. Dabei wurden sie vom Landesverband Nordrhein-Westfalen des Deutschen Kinderschutzbundes unterstützt. Darin wird der Untersucher dafür sensibilisiert, auf welche Details zu achten ist.

 

PRAXISHINWEIS | Schauen Sie sich den Befundbogen an und sprechen Sie mit Ihren Kolleginnen und dem Zahnarzt darüber. Speichern Sie ihn so ab, dass er von jedem in der Praxis gut zu finden ist. So haben Sie ihn schnell zur Hand, wenn er benötigt wird. Der Befundbogen steht auf der Website zum Download bereit unter www.iww.de/sl1838.

 

Kinderschutzfachkraft: Was ist das?

Seit dem 1. Januar 2012 gilt in Deutschland das Bundeskinderschutzgesetz. Es betont, dass Kinderschutz eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist. Der Gesetzgeber richtet darin besonderes Augenmerk auf Menschen, die in ihrem Berufsalltag Kontakt zu Kindern und Jugendlichen haben.

 

Für die Teams von Zahnarztpraxen heißt das konkret: Sie können eine Kinderschutzfachkraft hinzuziehen, wenn Sie sich Sorgen um ein Kind oder einen Jugendlichen machen. Die Kinderschutzfachkräfte haben eine pädagogische oder psychologische Ausbildung und jahrelange Erfahrungen gesammelt, wie sie Kindeswohlgefährdungen erkennen und am besten darüber sprechen können. Zudem kennen sie die Hilfsangebote der jeweiligen Region. Sie sind also im Falle eines Verdachts eine gute Hilfe.

 

PRAXISHINWEIS | Welche Kinderschutzfachkraft für Sie zuständig ist, wissen die Mitarbeiter des Jugendamts vor Ort. Sie vermitteln den Kontakt.

 

Was tun im Falle eines Verdachts?

Nach Vereinbarung eines Termins findet ein Treffen mit der Kinderschutzfachkraft statt. Sie braucht möglichst genaue Informationen über die Beobachtungen des Praxisteams beim Kind oder seinen Eltern. Wichtig: Keine Namen nennen! Die Kinderschutzfachkraft darf aus Datenschutzgründen keine Rückschlüsse auf die Identität der Familie ziehen können.

 

Nachdem das Team ihre Beobachtungen geschildert hat, wird dies besprochen. Die Kinderschutzfachkraft übernimmt zwar nicht die Verantwortung für den Fall; sie gibt aber Empfehlungen, welche weiteren Schritte sie sinnvoll findet und ob möglicherweise das Jugendamt informiert werden soll.

 

PRAXISHINWEIS | Lernen Sie Ihre zuständige Kinderschutzfachkraft einfach mal unverbindlich kennen - auch ohne dass Sie einen konkreten Verdacht haben. Dann wissen Sie genau, an wen Sie sich im Notfall wenden können.

 

Noch Fragen?

Die alltägliche Praxis zeigt: Die interdisziplinäre Zusammenarbeit funktioniert regional sehr unterschiedlich. Hin und wieder gestaltet sie sich etwas holprig - weil die Systeme so unterschiedlich sind. Für den Zahnarzt bzw. die Zahnärztin und seine Mitarbeiterinnen wirken die Verfahrenswege der Kinder- und Jugendhilfe vollkommen fremd - und umgekehrt genauso. Dennoch sollte das kein Grund sein, möglicherweise irritierende Beobachtungen für sich zu behalten.

 

PRAXISHINWEIS | Selbst wenn Sie das Gefühl haben sollten, sich nicht in die Angelegenheiten einer Familie einmischen zu dürfen - Sie dürfen! Kinderschutz ist keine „Privatsache“. Er geht alle an.

 

 

Weiterführende Hinweise

  • Möchten Sie sich zum Thema Kinderschutz weiterbilden? Die Bildungsakademie BiS des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen des Deutschen Kinderschutzbundes bietet vielfältige Seminare zum Thema an. Dabei ist es auch möglich, das Seminar in Ihrer Praxis zu veranstalten: www.bis-akademie.de.
  • Für Kinder gibt es eine Broschüre mit dem Titel „Henry kann helfen - Wenn deine Eltern dir wehtun“. Sie kann unter info@dksb-nrw.de bestellt werden oder direkt unter folgendem Link heruntergeladen werden: www.iww.de/sl1839.
  • Den im Beitrag angesprochenen forensischen Befundbogen für den Zahnarzt finden Sie im Internet auf der Seite www.iww.de/sl1838.
Quelle: Ausgabe 04 / 2016 | Seite 2 | ID 43934323