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  • 08.01.2013 · IWW-Abrufnummer 133548

    Finanzgericht München: Urteil vom 14.06.2012 – 5 K 1058/10

    Die Frage, ob die Festsetzungsfrist wegen Steuerhinterziehung verlängert ist, bemisst sich bei der Verletzung einer Mitteilungspflicht u. a. danach, ob der Pflichtige bei einer Parallelwertung in der Laiensphäre eindeutig eine Mitteilungspflicht erkennen konnte.


    IM NAMEN DES VOLKES
    Urteil
    In der Streitsache
    hat der 5. Senat des Finanzgerichts München durch … sowie die ehrenamtlichen Richter … auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 14. Juni 2012
    für Recht erkannt:
    1. Der Änderungsbescheid über die Aufhebung der Festsetzung von Kindergeld für das Kind F und die Rückforderung des Kindergelds vom 31. August 2010 wird für den Zeitraum Januar 2000 bis Dezember 2004 aufgehoben.
    2. Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
    3. Das Urteil ist im Kostenpunkt für die Klägerin vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten der Klägerin die Vollstreckung abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
    Gründe
    I.
    Streitig ist, ob die Beklagte (die Familienkasse) das für das Kind F für den Zeitraum Januar 2000 bis Dezember 2004 festgesetzte Kindergeld zu Recht aufgehoben und zurückgefordert hat.
    Die Klägerin ist türkischer Herkunft, jedoch deutsche Staatsangehörige, und Mutter der Kinder D, geborene B am … Oktober 1976, I und S, beide geboren am … Februar 1979, und F, geboren am … Juli 1987, der ebenfalls deutscher Staatsangehöriger ist.
    Mit Bescheid vom 2. Mai 1995 setzte das Arbeitsamt Deggendorf – Kindergeldkasse – gegenüber der Klägerin ab Januar 1995 Kindergeld nach dem Bundeskindergeldgesetz für die Kinder I, S und F fest. Im zugrundeliegenden Antrag auf Kindergeld vom 5. Januar 1995 hatte die Klägerin bestätigt, das Merkblatt über Kindergeld (Merkblatt) erhalten und davon Kenntnis genommen zu haben. In Ziffer 34 dieses Merkblattes wird darauf hingewiesen, dass der Kindergeldberechtigte verpflichtet ist, der Kindergeldkasse unverzüglich alle Änderungen in seinen Verhältnissen und den Verhältnissen seiner Kinder mitzuteilen, die für den Anspruch von Bedeutung sein können. Ziffer 35 des Merkblattes ist zu entnehmen, dass der Kindergeldberechtigte die Kindergeldkasse insbesondere davon benachrichtigen muss, wenn er, sein Ehegatte oder eines seiner Kinder unter Aufgabe seines Wohnsitzes ins Ausland verzieht, oder wenn er als ausländischer Staatsangehöriger im Bundesgebiet wohnt und sich eines seiner Kinder ins Ausland begibt, z. B. zur Schul- oder Berufsausbildung.
    Nach dem 1. Januar 1996 erhielt die Klägerin für F Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz – EStG – (vgl. z. B. Kindergeldwiederbewilligungsverfügung und Kassenanordnung vom 15. Oktober 1996, Kindergeldänderungsverfügung und Kassenanordnung vom 17. November 1997).
    Ab Anfang des Jahres 1999 wurde der Kindergeldanspruch für das Kind I überprüft. Mit bestandskräftigem Änderungsbescheid vom 17. November 1999 wurde die Festsetzung des Kindergelds für das Kind I ab Juli 1998 aufgehoben, und das für die Monate Juli bis November 1998 für dieses Kind überzahlte Kindergeld zurückgefordert.
    Ab September 1999 wurde der Kindergeldanspruch für das Kind S überprüft. Nach Vorlage entsprechender Unterlagen, wurde die Kindergeldzahlung für S ausweislich der Kindergeldänderungsverfügung und Kassenanordnung vom 5. April 2000 ab April 2000 wieder aufgenommen und für S für den Zeitraum September 1999 bis März 2000 Kindergeld in Höhe von insgesamt 1.810 DM nachgezahlt. Nach der Kindergeldänderungsverfügung und Kassenanordnung vom 5. April 2000 wurde Kindergeld auch für das Kind F gezahlt. Mit Schreiben der Familienkasse vom 5. April 2000 wurden Unterlagen für die Überprüfung des Kindergeldanspruchs für S ab Mai 2000 angefordert, und sodann die Kindergeldfestsetzung für S mit bestandskräftigem Bescheid vom 1. September 2000 ab Mai 2000 aufgehoben.
    Nachdem am 6. August 2003 von der Klägerin das für den Monat Juli 2003 für F gezahlte Kindergeld in Höhe von 154 EUR mit der Begründung zurück überwiesen worden war, dass F seit Juli 2003 bei der Firma Derya's Dorfschenke arbeite, wurde die Kindergeldzahlung für F am 14. August 2003 vorläufig eingestellt, mit Kindergeldwiederbewilligungsverfügung und Kassenanordnung vom 15. September 2003 jedoch ab August 2003 wieder aufgenommen, und auch das Kindergeld für Juli 2003 unter Hinweis darauf nachgezahlt, dass bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres Kindergeld grundsätzlich unabhängig vom Bestehen eines Beschäftigungsverhältnisses gezahlt werde.
    Mit zentral versandtem Bescheid vom 19. Mai 2005 hob die Familienkasse die Festsetzung des Kindergelds für F wegen Vollendung des 18. Lebensjahrs im Juli 2005 ab August 2005 auf.
    F besuchte jedenfalls bis Mitte des Schuljahres 1997/1998 die Grundschule in München. Ab Herbst 1998 bis zum Jahr 2006 setzte er seine Schulausbildung (Grundschule und Gymnasium) in der Türkei in Ünye fort und wohnte während dieser Zeit bei seinem Onkel.
    Im Zuge der Ermittlungen zu einem am 27. März 2009 eingegangenen, von F gestellten Kindergeldantrag erhielt die Familienkasse davon Kenntnis, dass F ab dem Jahr 1998 in der Türkei die Schule besucht hatte.
    Im Anhörungsverfahren wegen Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für F und Rückforderung des Kindergelds gab das Kind mit Schreiben vom 2. August 2009 an, sich ab 1998 auch in der Türkei aufgehalten zu haben, aber weiter in München gemeldet gewesen zu sein. Von der Schule sei er im Jahr 1998 abgemeldet worden, wobei seine Eltern die Abmeldebescheinigung der Schule an die Familienkasse weitergeleitet hätten, um den Bezug des Kindergelds zu beenden. Kindergeld sei für ihn dann nicht mehr bezahlt worden. Monate später habe sich die Familienkasse bei der Familie gemeldet und mitgeteilt, dass Kindergeld weiter gezahlt würde, weil er die deutsche Staatsangehörigkeit besitze, weiter in Deutschland gemeldet sei, und sein Aufenthalt in der Türkei insoweit ohne Belang sei.
    Die Klägerin berief sich im Anhörungsverfahren darauf, dass F in der Zeit, in der er die Schule in der Türkei besucht habe, auch in Deutschland weiter einen Wohnsitz gehabt habe, da er sich mindestens fünf Monate im Jahr in Deutschland bei ihr aufgehalten habe. Nachweise über diese Aufenthalte könnten jedoch nicht mehr erbracht werden. Dies sei im Ergebnis aber unerheblich, da die Familienkasse die objektive Beweislast für die Voraussetzungen der Rückforderung des Kindergelds trage. Im Juli 2003 habe F ausweislich der Vergütungsabrechnung vom selben Monat in Deutschland gearbeitet.
    Mit Bescheid vom 3. Februar 2010 hob die Familienkasse die Festsetzung des Kindergelds für F ab Januar 1999 auf und forderte das für den Zeitraum Januar 1999 bis Juli 2005 in Höhe von 11.469,40 EUR gezahlte Kindergeld zurück, weil das Kind in diesem Zeitraum weder seinen Wohnsitz noch seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland, einem anderen Staat der Europäischen Union oder des Europäischen Wirtschaftsraums gehabt habe. Die Klägerin könne auch kein Kindergeld nach dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Türkei über Soziale Sicherheit vom 30. April 1964 (Bundesgesetzblatt – BGBl – II 1965, 1169), in der Fassung des Zwischenabkommens vom 25. Oktober 1974 (BGBl II 1975, 373) und des Zusatzabkommens vom 2. November 1984 (BGBl II 1986, 1038), – SozSichAbk Türkei – für den streitigen Zeitraum erhalten, weil sie weder beitragspflichtig beschäftigt gewesen sei, noch Lohnersatzleistungen bezogen habe. Dem Bescheid 3. Februar 2010 war ein als „Anlage zum Rückforderungsbescheid vom 03.02.2010” bezeichnetes Schreiben vom selben Tag beigefügt, in dem Hinweise zur Vermeidung der Einleitung eines Bußgeld- bzw. Steuerstrafverfahrens erteilt wurden.
    Den gegen den „Rückforderungsbescheid gem. Schreiben vom 03.02.2010” eingelegten Einspruch begründete die Klägerin damit, dass sie die Familienkasse im Jahr 1998 darüber informiert habe, dass F nach dem Ende des Schuljahres 1997/1998 in der Türkei zur Schule gehen werde. Die Familienkasse habe daraufhin die Kindergeldzahlung eingestellt. Einige Monate später habe die Familienkasse bei ihr angerufen und ihrer Tochter D erläutert, dass Anspruch auf Kindergeld weiter bestehe, weil F deutscher Staatsbürger sei. Wo F lebe, sei unerheblich. Kurze Zeit später sei ihr durch ein ihr nicht mehr vorliegendes Schreiben der Familienkasse mitgeteilt worden, dass weiter Kindergeld gezahlt werde. Für die zurückliegenden Monate sei das Kindergeld sodann nachgezahlt und dann regelmäßig weitergezahlt worden. Sie habe daher darauf vertrauen dürfen, dass sie das Kindergeld behalten dürfe. Der Einspruch blieb in der Einspruchsentscheidung vom 23. Februar 2010, die sich nicht nur mit der Frage der Rechtmäßigkeit der Rückforderung des Kindergelds, sondern auch der Rechtmäßigkeit der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung auseinandersetzte, ohne Erfolg.
    Zur Begründung ihrer hiergegen erhobenen Klage trägt die Klägerin vor, F habe seinen Wohnsitz in Deutschland auch beibehalten, nachdem er seine Schulausbildung ab der 4. Klasse in der Türkei fortgesetzt habe, da er in der schulfreien Zeit, also insbesondere in den Schulferien im Sommer (Mitte Juni bis Mitte September), anlässlich des muslimischen Fests Bayram (zweimal jährlich jeweils fast zwei Wochen) und nationaler Feiertage (zu Ehren des Staatsgründers eine Woche) immer in Deutschland gewesen sei. Sie habe die Familienkasse über den Schulwechsel im Herbst 1998 über ihre Tochter sowohl mündlich als auch schriftlich informiert, die die Kindergeldzahlung daraufhin zunächst auch eingestellt habe. Einige Monate später habe ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin der Familienkasse ein Telefonat mit ihrer Tochter geführt und erklärt, dass für F wegen dessen deutscher Staatsangehörigkeit und unabhängig davon, wo er lebe, weiter Anspruch auf Kindergeld bestehe. Kurze Zeit später habe sie ein – ihr nicht mehr vorliegendes – Schreiben der Familienkasse erhalten, dass für F rückwirkend und weiter wieder Kindergeld gezahlt werde. Mit Schriftsatz vom 1. Juni 2010 trägt die Klägerin vor, die Familienkasse habe aufgrund ihrer Mitteilung über den Schulbesuch in der Türkei die Kindergeldzahlungen zunächst für ca. zwei Jahre eingestellt und dann rückwirkend nachgezahlt. Die müsse anhand der Akten der Familienkasse festzustellen sein. Die Angaben in der schriftlichen Zeugenaussage ihrer Tochter vom 26. Mai 2010 mache sie sich zu eigen. Kontoauszüge für die Jahre 1998 und 1999 könnten nicht mehr beigebracht werden, da die Bank die Daten bereits gelöscht habe. Aus den vorgelegten Kontoauszügen sei jedoch zu ersehen, dass sie für F in den Jahren 2000 und 2001 kein Kindergeld bezogen habe. Mangels Angaben zu Herkunft und Grund zu einzelnen Überweisungen seien Kindergeldzahlungen auch in Fällen betraglicher Übereinstimmung nicht zwingend.
    Eine Aufhebung der Kindergeldfestsetzung nach § 70 Abs. 2 EStG sei mangels Änderung der Verhältnisse nicht möglich; es habe nur eine falsche Rechtsanwendung vorgelegen. Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) scheitere, weil der Familienkasse der Schulbesuch Fs in der Türkei bekannt gewesen sei, und sie nach Überprüfung dieses Sachverhalts die Kindergeldzahlung wieder aufgenommen habe. Wenigstens stehe ihr aber Abkommenskindergeld zu, weil sie im Streitzeitraum eine Erwerbsunfähigkeitsrente bezogen habe und damit dem Personenkreis gemäß Art. 33 Abs. 2 des SozSichAbk Türkei gleichzustellen sei.
    Mit Änderungsbescheid vom 31. August 2010 hat die Familienkasse die Aufhebung und Rückforderung des Kindergelds für das Jahr 1999 aufgehoben. Mit Schriftsatz vom 25. April 2012 hat die Klägerin ihre Klage betreffend den Zeitraum Januar bis Juli 2005 zurückgenommen.
    Die Klägerin beantragt,
    den geänderten Bescheid über die Aufhebung der Festsetzung und Rückforderung des Kindergelds für F vom 31. August 2010 für den Zeitraum Januar 2000 bis Dezember 2004 aufzuheben.
    Die Familienkasse beantragt,
    die Klage abzuweisen.
    Zur Begründung verweist sie darauf, dass F seit 1998 bis mindestens Juni 2006 in der Türkei die Schule besucht habe. Beim Umzug in die Türkei sei das Kind erst zehn oder elf Jahre alt gewesen. Bei einem Aufenthalt von mindestens acht Jahren in der Türkei reichten Aufenthalte in den Schulferien, die nicht nachgewiesen seien, nicht für eine Beibehaltung des Wohnsitzes in Deutschland aus. Der gewöhnliche Aufenthalt Fs habe in den Streitjahren gleichfalls nicht in Deutschland gelegen.
    Festsetzungsverjährung sei nicht eingetreten, da eine Steuerhinterziehung vorliege. Nach Aktenlage ergäben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin der Familienkasse den Schulwechsel in die Türkei im Jahr 1998 mitgeteilt habe. Die Kindergeldakte beinhalte weder einen Aktenvermerk über eine entsprechende telefonische Mitteilung, noch ein diesbezügliches Schreiben der Klägerin oder ihrer Tochter, noch ein Schreiben über die Weitergewährung des Kindergelds trotz Auslandsaufenthalts. Das Kindergeld sei für F durchgehend bis zu der durch die Klägerin veranlassten Rückzahlung im Juli 2003 gezahlt worden und dann weiter bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Eine Einstellung der Zahlungen über einen Zeitraum von zwei Jahren und eine anschließende Nachzahlung für zwei Jahre ohne vorherige Prüfung des Anspruchs durch die Familienkasse unter Anforderung von Unterlagen bei der Klägerin sei lebensfremd. Die Klägerin habe für F auch in den Jahren 2000 und 2001 Kindergeld erhalten. Für I sei jedenfalls ab August 1999 und für S ab Mai 2000 kein Kindergeld mehr gezahlt worden. Die für Januar bis April 2000 vorgelegten Kontoauszüge belegten Kindergeldzahlungen für F und S entsprechend den in der Kindergeldakte enthaltenen Bescheiden und Kassenanordnungen, den Kontoauszügen für das Jahr 2001 seien die monatlichen Kindergeldzahlungen für F zu entnehmen. Im Merkblatt sei die Klägerin ausdrücklich darauf hingewiesen worden, dass die Familienkasse sofort hätte benachrichtigt werden müssen, wenn das Kind unter Aufgabe des Wohnsitzes bzw. des gewöhnlichen Aufenthalts ins Ausland verziehe. Das Fehlen des Wohnsitzes bzw. gewöhnlichen Aufenthalts in Deutschland habe der Klägerin aufgrund der Dauer des Auslandsaufenthalts klar sein müssen. Dies erkläre auch, weshalb die Klägerin nach Ergehen des Aufhebungsbescheids vom 19. Mai 2005 keine Weiterzahlung des Kindergelds beantragt habe, obwohl sich F bis zum Ende des Schuljahres 2005/2006 in der Türkei in Ausbildung befunden habe. Die Klägerin habe damit zumindest bedingt vorsätzlich gehandelt.
    Einschlägige Korrekturnorm sei § 70 Abs. 2 EStG und nicht § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO.
    Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 14. Juni 2012, den Inhalt der Akten sowie die von den Beteiligten eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
    II.
    Die Klage ist begründet, weil die Familienkasse die Festsetzung des Kindergelds nach § 70 Abs. 2 EStG für den Zeitraum Januar 2000 bis Dezember 2004 wegen Festsetzungsverjährung nicht aufheben und das für diesen Zeitraum gezahlte Kindergeld nicht mehr zurückfordern durfte.
    1. Die Klage ist entgegen der Auffassung der Familienkasse nicht schon deshalb unbegründet, weil der später geänderte Bescheid über die Aufhebung der Festsetzung des Kindergelds vom 3. Februar 2010 mangels Einspruchseinlegung bestandskräftig geworden wäre. Der von der Klägerin mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 18. Februar 2010 eingelegte Einspruch richtete sich nicht nur gegen den mit dem Aufhebungsbescheid verbundenen Rückforderungsbescheid, sondern auch gegen den Aufhebungsbescheid. Dies ergibt sich bereits daraus, dass der Aufhebungsbescheid vom 3. Februar 2010 als Rechtsgrundlage für die Änderung § 173 AO benennt, und sich der Einspruch u. a. darauf stützt, dass die Klägerin die Familienkasse von dem Schulbesuch in der Türkei in Kenntnis gesetzt habe. Im Ergebnis wird das Vorliegen einer neuen Tatsache in Abrede gestellt und damit die Rechtmäßigkeit der Aufhebungsentscheidung. Dem steht nicht entgegen, dass der Einspruch ausdrücklich gegen den Rückforderungsbescheid gemäß Schreiben vom 3. Februar 2010 erhoben wurde. Dem Bescheid vom 3. Februar 2010, der inhaltlich zwar eine Aufhebungs- und Rückforderungsregelung aber keine Bescheidsbezeichnung, sondern lediglich eine Bezugszeile [”Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (EStG)”] enthielt, war ein als Anlage zum „Rückforderungsbescheid vom 03.02.2010” bezeichnetes Schreiben beigefügt. Aus Sicht des Senats kann die Bezugnahme auf den „Rückforderungsbescheid vom 03.02.2010” auch als Bezugnahme auf den in einem Bescheid zusammengefassten Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid verstanden werden. Dies muss dann in gleicher Weise für die Einspruchsbezeichnung im Schreiben vom 18. Februar 2010 gelten.
    2. Nach § 70 Abs. 2 EStG ist die Festsetzung des Kindergelds mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse an aufzuheben oder zu ändern, wenn in den Verhältnissen, die für den Anspruch auf Kindergeld erheblich sind, Änderungen eintreten. Die Regelung betrifft den Fall, dass eine ursprünglich rechtmäßige Festsetzung durch Änderung der für den Bestand des Kindergeldanspruchs maßgeblichen Verhältnisse des Anspruchsberechtigten oder des Kindes nachträglich unrichtig wird (Bundesfinanzhof – BFH – Urteil vom 20. November 2008 III R 53/05, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des BFH – BFH/NV – 2009, 564).
    Für den Streitzeitraum Januar 2000 bis Dezember 2004 kann im Ergebnis aber dahingestellt bleiben, ob sich die für den Bestand des Kindergeldanspruchs maßgeblichen Verhältnisse, nämlich ob F in diesem Zeitraum noch seinen Wohnsitz bzw. seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatte, geändert haben, weil der Aufhebung der Kindergeldfestsetzung Festsetzungsverjährung entgegenstand.
    a) Nach § 169 Abs. 1 Satz 1 AO darf die Festsetzung einer Steuervergütung – als solche gilt auch das Kindergeld, vgl. § 31 Satz 3 EStG – nach Ablauf der Festsetzungsfrist nicht mehr aufgehoben werden. Die Festsetzungsfrist für Steuervergütungen beträgt vier Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO), bei Steuerhinterziehung (§ 370 AO) zehn Jahre und bei leichtfertiger Steuerverkürzung (§ 378 AO) fünf Jahre (§ 169 Abs. 2 Satz 2 AO).
    Im Streitfall ist die Festsetzungsfrist für das noch streitgegenständliche Kindergeld, die grundsätzlich vier Jahre (§ 169 Abs. 2 Nr. 2 AO) beträgt, spätestens zum 31. Dezember 2008 abgelaufen. Sie begann mit Ablauf des Jahres, in dem die Steuer(-vergütung) entstanden ist (§ 170 Abs. 1 AO), hier also für den durch die Aufhebung der streitigen Kindergeldfestsetzung zuletzt betroffenen Monat des Jahres 2004 (Dezember 2004) mit Ablauf des Jahres 2004 und endete für die Kindergeldfestsetzung bis Dezember 2004 spätestens mit Ablauf des Jahres 2008.
    Da der ursprünglich streitgegenständliche Aufhebungsbescheid erst am 3. Februar 2010 ergangen ist, ist die Aufhebung des Kindergelds für den Zeitraum Januar 2000 bis Dezember 2004 nur dann rechtmäßig, wenn der Klägerin für diesen Streitzeitraum eine Steuerhinterziehung zur Last zu legen ist.
    b) Nach Auffassung des Senats hat die Klägerin keine Steuerhinterziehung begangen, da keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür bestehen, dass die Klägerin die Familienkasse im Jahr 1998 und in der Folgezeit in dem Bewusstsein, dass sie der Familienkasse eine entsprechende Mitteilung hätte machen müssen, und damit vorsätzlich nicht davon in Kenntnis gesetzt hat, dass F seit Herbst 1998 seinen Schulbesuch in der Türkei fortgesetzt hat.
    Dem der Klägerin mit der Bewilligung des Kindergelds im Jahr 1995 übersandten Merkblatt war ein eindeutiger Hinweis auf eine entsprechende Miteilungspflicht nicht zu entnehmen. Aus Ziffer 34 des Merkblatts folgt lediglich eine allgemeine Mitteilungspflicht. Es werden abstrakte rechtliche Termini – die Änderung der für den Anspruch bedeutsamen Verhältnisse -verwendet, die für einen rechtlichen Laien unklar und missverständlich sein können. Auch aus Ziffer 35 des Merkblatts war keine eindeutige Mitteilungspflicht herzuleiten. Eine Benachrichtigung der Kindergeldkasse war danach u. a. vorzunehmen, wenn die Kindergeldberechtigte, ihr Ehegatte oder eines der Kinder unter Aufgabe des Wohnsitzes ins Ausland verzieht. Da die Klägerin zum einen der Auffassung ist, dass F seinen Wohnsitz in Deutschland mit Beginn des Schulbesuchs in der Türkei nicht aufgegeben hat, zum anderen die Beantwortung der Frage, ob der Wohnsitz aufgegeben wurde, eine rechtliche Wertung voraussetzt, zu der die Klägerin insbesondere in Anbetracht ihres Bildungsstandes (es bestehen nach Aktenlage insbesondere Zweifel, in welchem Umfang sie überhaupt des Schreibens mächtig ist) auch im Rahmen einer Parallelwertung in der Laiensphäre ggf. gar nicht in der Lage war, ergab sich aus diesem Hinweis für die Klägerin keine eindeutige Benachrichtigungspflicht. Gleiches gilt für das Beispiel im Merkblatt, dass eine Benachrichtigung zu erfolgen hat, wenn die Kindergeldberechtigte als ausländische Staatsangehörige im Bundesgebiet wohnt und sich eines der Kinder ins Ausland begibt (z.B. zur Schul- oder Berufsausbildung). Da die Klägerin deutsche Staatsangehörige ist, musste sie auch hieraus nicht zwingend auf eine entsprechende Mitteilungspflicht schließen.
    Auch aus dem Umstand, dass die Klägerin der Familienkasse erstmals in Anhörungsverfahren durch den Sohn F mit Schreiben vom 2. August 2009 bzw. später im Rahmen des Einspruchs gegen den Aufhebungsbescheid vom 3. Februar 2010 mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 18. Februar 2010 hat mitteilen lassen, sie habe der Familienkasse im Jahr 1998 Mitteilung vom Schulbesuch des Sohnes in der Türkei gemacht, ist nicht darauf zu schließen, dass der Klägerin ihre Mitteilungspflicht im Jahr 1998 bzw. in folgender noch festsetzungsoffener Zeit bewusst war. Es ist vielmehr nicht auszuschließen, dass es sich hierbei in Anbetracht der Vermögensverhältnisse der Klägerin einerseits und der Höhe des zurückgeforderten Kindergeldbetrags andererseits um eine Schutzbehauptung handelt.
    Entgegen der Auffassung der Familienkasse kann auch aus dem Umstand, dass die Klägerin nach Ergehen des Aufhebungsbescheids vom 19. Mai 2005 anlässlich der Vollendung des 18. Lebensjahres von F nicht erneut Kindergeld beantragt hat, nicht zwingend geschlossen werden, dass der Klägerin bewusst war, dass F aufgrund des Schulbesuchs im Ausland in Deutschland keinen Wohnsitz mehr innehatte. Das Unterlassen der Antragstellung kann auch andere Ursachen gehabt haben. Die Rückzahlung des Kindergelds durch die Klägerin im August 2003 mit der Begründung, dass F im Juli 2003 Einkünfte aus einer nichtselbständigen Tätigkeit erzielt habe, macht z. B. deutlich, dass der Klägerin die Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch im Einzelnen nicht hinreichend klar waren.
    Da bereits erhebliche Zweifel bestehen, ob der Klägerin eine Mitteilungspflicht bewusst war, kann die Frage, ob die Klägerin die Familienkasse im Jahr 1998 vom Schulbesuch Fs in Kenntnis gesetzt hat oder nicht, dahingestellt bleiben.
    3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) und der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten und über den Vollstreckungsschutz auf § 151 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.

    VorschriftenAO § 169 Abs. 1 S. 1, EStG § 70 Abs. 2

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