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  • · Fachbeitrag · Strafrecht

    Manipulation der Zuteilungsreihenfolge bei Spenderorganen ist versuchte Tötung

    von Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht Sascha Lübbersmann, Kanzlei Ammermann Knoche Boesing, Münster, www.kanzlei-akb.de 

    | Vorsicht vor solchen „Gefälligkeiten“: Mit Beschluss vom 20. März 2013 hat das Oberlandesgericht (OLG) Braunschweig bestätigt, dass Manipulationen der Zuteilungsreihenfolge von Spenderorganen zum Vorteil eigener Patienten als versuchte Tötung der dadurch übergangenen anderen Patienten zu bewerten ist. Der Beschluss des OLG wurde im Rahmen einer Haftbeschwerde getroffen; er bestätigt die Auffassung der verfolgenden Staatsanwaltschaft (Az. Ws 49/13, Abruf-Nr. 132703 ). |

    Mediziner meldete Patienten manipulativ bei Eurotransplant

    Der Mediziner, der sich derzeit in Untersuchungshaft befindet, soll als verantwortlicher Arzt eines universitären Transplantationszentrums seine Patienten systematisch und manipulativ bevorzugt haben. Ihm wird vorgeworfen, seine Patienten - sie warteten auf eine Leberspende - der Vermittlungsstelle Eurotransplant wahrheitswidrig als Dialysepatienten gemeldet zu haben. Zudem habe er manche Patienten vor Ablauf der vorgeschriebenen sechsmonatigen Alkoholkarenz auf die Warteliste setzen lassen.

     

    PRAXISHINWEISE |  § 12 Abs. 3 Transplantationsgesetz (TPG) bestimmt, dass die Vermittlungsstelle die Organe nach Regeln, die dem Stand der Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft entsprechen, insbesondere nach Erfolgsaussicht und Dringlichkeit an geeignete Patienten vermitteln muss. Näheres wird durch Richtlinien der Bundesärztekammer geregelt.

     

    Für Lebertransplantationen bemisst sich der für die Zuteilung der Spenderorgane maßgebliche Rangplatz der Patienten nach dem sogenannten „MELD-Score“ (= Model for Endstage Liver). In diesen gehen die Laborwerte Kreatinin, Bilirubin und der Blutgerinnungswert INR der Patienten ein - sie lassen eine Aussage über die Schwere und das Stadium der Erkrankung und damit auch über die verbleibende Lebenserwartung zu.

     

    OLG: Tötungsversuch gegenüber anderen Erkrankten

    Das OLG geht davon aus, dass die Manipulation die Behandlung anderer lebensbedrohlich erkrankter und auf eine Leberspende wartender Patienten verzögert hat. Die vorsätzlichen Falschangaben gegenüber Eurotransplant seien daher strafbare Tötungsversuche zum Nachteil der übergangenen Patienten. Dem Transplantationsmediziner sei klar gewesen, dass es durch seine Angaben in einem engen zeitlichen Zusammenhang unmittelbar zur Zuteilung eines Spenderorgans komme. Hierdurch sei die Transplantationsbehandlung anderer Patienten lebensbedrohlich verzögert worden.

     

    Der beschuldigte Arzt habe ein Versterben anderer Patienten für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen, was für einen bedingten Tötungsvorsatz ausreiche. Dem stünden auch nicht altruistische Motive des Arztes entgegen. Medizinische und juristische Bedenken gegenüber dem derzeitigen Organverteilungsverfahren würden die Manipulationen weder rechtfertigen noch entschuldigen. Wegen angenommener Fluchtgefahr bestätigte das Gericht die Fortdauer der Untersuchungshaft.

    Kritische Bewertung des OLG-Urteils

    Nach Ansicht des Verfassers ist die strafrechtliche Bewertung der Manipulation der Organzuteilung als versuchter Totschlag mehr als zweifelhaft. Sie scheint weniger der Beachtung verfassungs- und strafrechtlicher Fundamentalmaximen geschuldet als vielmehr der Erwartung der Öffentlichkeit nach Bestrafung des Arztes.

     

    Der Annahme eines versuchten Kapitaldelikts durch Beeinflussung des derzeitigen Verteilungsverfahrens stehen in rechtlicher Hinsicht insbesondere die folgenden Punkte entgegen:

     

    • die strafrechtlich nicht gerechtfertigte Gleichsetzung von Lebensgefährdungs- mit bedingtem Tötungsvorsatz,
    • das bestehende Spannungsverhältnis zwischen den maßgeblichen Vergabekriterien „Erfolgsaussicht“ und „Dringlichkeit“ einer Transplantation,
    • die Unbestimmtheit des Gesetzeswortlauts von § 12 Abs. 3 TPG in Anbetracht des strafrechtlichen Bestimmtheitsgebots,
    • das Fehlen einer Legitimation für die Bestimmung des derzeitigen Bewertungs- und Verteilungsverfahrens sowie
    • das Fehlen der Legitimation im Hinblick auf die Besetzung der „Ständigen Kommission Organtransplantation“ der Bundesärztekammer und der Rolle von Eurotransplant - einer Stiftung nach niederländischem Recht.

     

    In zunehmendem Maße erfolgen Zuteilungen zudem jenseits der eigentlichen Punkte-Kriterien nach dem sogenannten beschleunigten Verfahren, wenn also nach Einschätzung des zuständigen Arztes eine möglichst orts- und zeitnahe Transplantation geboten ist - im Jahr 2012 bereits bei über 40 Prozent aller Fälle. Es besteht daher aus Verfassersicht kein subjektives Recht der „gelisteten“ Patienten auf Einhaltung einer Transplantationsreihenfolge oder gar auf Zuteilung eines verfügbaren Spenderorgans.

     

    FAZIT |  Transplantationsmediziner sollten angesichts der straf- und berufsrechtlich drohenden Konsequenzen das derzeitige Verteilungsverfahren korrekt einhalten - aller berechtigten Kritik zum Trotz. Beachten Sie: Auch eine „großzügige“ Annahme der Kriterien für eine Zuteilung im „freien Verfahren“ zugunsten individueller Patienten kann ebenfalls eine strenge strafrechtliche Bewertung hervorrufen. Schließlich hat der Gesetzgeber - von den Ereignissen und der öffentlichen Empörung getrieben - reagiert und mit den §§ 10 Abs. 3, 19 Abs. 2a TPG (neue Fassung) einen neuen Straftatbestand mit einer Höchstfreiheitsstrafe von zwei Jahren für vorsätzliche Falschangaben gegenüber der Organvermittlungsstelle geschaffen.

    Quelle: Ausgabe 09 / 2013 | Seite 8 | ID 42263056