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· Gesundheitsreport 2019

Kranke Arbeitswelt: 90 Millionen Fehltage wegen psychischer Probleme (Tendenz steigend!)

Bild: © terovesalainen - stock.adobe.com

von Jörg Thole, Chefredakteur, IWW Institut

| Alarmierender Höchststand bei Krankschreibungen: 18,5 AU-Tage durchschnittlich in 2018. Zwar war die Grippewelle 2018 rekordverdächtig. Doch wirklich erschreckend ist die stetig steigende Zahl der Fehltage aufgrund psychischer Erkrankungen (+129,4 Prozent in 10 Jahren). CE Chef easy wertet den BKK-Gesundheitsreport 2019 und weitere Expertisen aus ‒ Fazit: Führungs- und Fachkräfte sind selten krank; Hilfskräfte dagegen öfter. Beachtlich: Die Manager-Krankheit „Burn-out“ ist nicht das Problem! Ziehen Sie eigene Schlüsse. |

 

Ergänzend zur Erstveröffentlichung des Beitrags vom 09.12.2019 hat der Informationsdienst des Instituts der deutschen Wirtschaft nachfolgende umfangreiche Grafik für Sie bereitsgestellt:

 

Jeder sechste Fehltag hat eine psychische Ursache

2,9 AU-Tage werden im Jahr 2018 durchschnittlich pro Beschäftigten durch psychische Erkrankungen verursacht. Für 2015 errechnete die Bundespsychotherapeutenkammer 70 Millionen Fehltage auf Grundlage der Daten von 85 Prozent aller gesetzlich Krankenversicherten in Deutschland. Damals ging die Berufsstandskammer von Stagnation auf hohem Niveau aus und titelte „Zahl der psychisch bedingten Krankheitstage steigt nicht weiter an“. Das war offenkundig ein Irrtum! Anhand der Datenlage kann hochgerechnet werden, dass die Zahl der AU-Tage wegen psychischer Erkrankungen um weitere 20 Millionen bis heute angestiegen ist, soweit man die BKK-Entwicklung seit 2015 dafür zugrunde legt.

 

Die psychischen Störungen liegen hinter den Muskel-Skelett-Erkrankungen (23,8 Prozent) sowie den Atemwegserkrankungen (16,4 Prozent) als AU-Ursache auf dem dritten Platz. Tendenz steigend!

 

Bild: BKK Bundesverband

 

Verglichen mit den Werten von 2008 zeigt sich bei den Muskel-Skelett-Erkrankungen ein Anstieg um ein Drittel (+34,2 Prozent) sowie bei den Atemwegserkrankungen um mehr als die Hälfte (+51,7 Prozent). Im gleichen Zeitraum haben sich hingegen die Fehltage aufgrund psychischer Störungen mehr als verdoppelt (+129,4 Prozent). Diese hohe Zunahme ist u. a. dadurch begründet, dass hier mit jedem Krankheitsfall überdurchschnittlich viele Fehltage (im Schnitt 37 Tage je Fall) verbunden sind.

 

Bild: Quelle: BKK Gesundheitsreport 2019 | Grafik: IWW Institut

Wie psychisch krank ist die Gesellschaft?

30 Prozent der Gesamtbevölkerung erkrankt laut Robert Koch-Institut mindestens einmal im Leben an einer psychischen Störung. Der Anstieg bei den AU-Tagen resultiere daraus, dass die Krankheit nun häufiger diagnostiziert wird. Die BKK-Studienmacher loben das als medizinischen Fortschritt.

 

  • Beschäftigte Frauen weisen im Mittel mehr AU-Fälle bzw. AU-Tage als ihre männlichen Kollegen auf
  • Ältere Beschäftigte werden nicht häufiger krank als jüngere, die Krankheitsdauer pro Fall nimmt allerdings mit steigendem Lebensalter deutlich zu.

 

  • Ranking psychologischer Störungen (Stand 2014 / BKK)

Angst

Depression

Alkoholmissbrauch

Zwangsstörungen

Somatoforme Störungen

Bipolare Störungen

Psychotische Störungen

Posttraumatische Belastungsstörungen

Medikamentenmissbrauch/-abhängigkeit

Essstörungen

15,3 Prozent

13,7 Prozent

4,8 Prozent

3,6 Prozent

3,5 Prozent

3,1 Prozent

2,6 Prozent

2,3 Prozent

2,1 Prozent

0,9 Prozent

 

 

BEACHTEN SIE |

Diese Statistik zeigt möglicherweise auch ein gesellschaftliches Problem. Wenn „Angst“ mit über 15 Prozent die häufigste psychische Erkrankung ist, gleichzeitig jede Führungskraft im Umgang mit Mitarbeitern laufend zu wohlwollenden Verhaltensweisen angehalten wird ‒ warum also waren die Zahlen in unserer Wohlstandsgesellschaft vor 10 Jahren deutlich unauffälliger?

 

Ist schon leichter Druck im Job ausreichend, um beim Arzt mit der Diagnose „Angst“ ein Attest zu erwirken? Oder umgekehrt: Wieviel Sanftmut braucht ein Arbeitgeber, um keine Angst bei Arbeitnehmern auszulösen ...

 

Erstaunlich: Die oft diskutierte Managerkrankheit „Burn-out“ zählt explizit nicht zu den Psychischen Störungen nach dem Ärzteschlüssel ICD-10. Dort gilt Burn-out als Zusatzdiagnose ‒ z. B. bei Depression. Auch statistisch ist das Problem kaum auffällig. Die Krankheit stagniert bei 3 AU-Fällen je 1.000 Beschäftigten. In der BKK-Studie heißt es: „Es zeigt sich, dass dem Thema Burn-out in der Öffentlichkeit eine größere Bedeutung beigemessen wird, als dies die Kennzahlen nahelegen.“

 

Dagegen haben je 1.000 weibliche Arbeitnehmer wegen psychischer Störungen im Jahr 2018 etwa 100 AU-Fälle und insgesamt 3.650 AU-Tage ausgelöst. 1.000 männliche Arbeitnehmer lösten 2.325 AU-Tage aus.

 

Keine Frage: Statt psychischer Erkrankungen wurden früher regelmäßig nur allgemeine Befindlichkeitsstörungen diagnostiziert, heißt es in der Studie. Die somatischen Folgen wie Kopfschmerzen, Migräne, Unwohlsein standen im Vordergrund. Der Studie zufolge seien dahinter aber vor allem psychische Erkrankungen versteckt gewesen, ist Franz Knieps, Vorstand des BKK Dachverbandes, überzeugt. Früher habe die offenbar nur keiner erkannt.

 

BEACHTEN SIE | Für Mediziner erweitern sich zwar dank der neuen Diagnostik neue Behandlungsoptionen für psychisch Kranke. In der Folge steigen aber die Krankenstände und auch die Behandlungskosten (2012 bereits 16 Mrd. Euro!) dramatisch an ‒ vom volkswirtschaftlichen Schaden durch die Ausfälle in den Unternehmen ganz zu schweigen. Mit durchschnittlich mehr als 5 Kalenderwochen (37 AU-Tage je Fall) ist bei psychisch Kranken die Falldauer am längsten.

 

Zum Glück führt nicht jede psychische Erkrankung automatisch zu einer Arbeitsunfähigkeit. Bei deppressiven Episoden beispielsweise könne die Mehrheit weiterarbeiten, heißt es in der Studie. Nur 12,1 Prozent benötigten eine AU-Bescheinigung.

 

 

Arbeitsinhalt als Auslöser?

Ein Blick auf die Tätigkeitsfelder zeigt: Gesundheits- und Erziehungsberufe weisen überdurchschnittlich viele psychisch bedingte AU-Fälle und -Tage auf. An der Spitze steht die Altenpflege (5,8 AU-Tage) ‒ doppelt so hoch wie im Durchschnitt (2,9 AU-Tage).

 

Häufig psychisch Kranken sind ...
Selten psychisch Kranken sind ...

Altenpfleger

Handwerker

Servicekräfte

Forscher und Entwickler

Tierpfleger

Tagebauer und Sprengtechniker

Gesundheitsberater

Dozenten an Hochschulen

Hauswirtschafter

Produkt- und Industriedesigner

Lokführer

Wirtschaftswissenschafter

Krankenpfleger/Rettungsassistenzen

Tiermediziner

Objektschützer

Schauspieler

Erzieher, Sozialarbeiter

Piloten

 

 

Gleichzeitig heißt es aber auch: „Arbeit macht eher gesund als krank!“ Studien hierzu legten nahe, dass Arbeit in erster Linie gesund erhält und nur unter bestimmten Arbeitsbedingungen krank macht“, berichtet Professor Dr. Holger Pfaff, Direktor des Instituts für Medizinsoziologie, Versorgungsforschung und Rehabilitationswissenschaft (IMVR), Uni Köln.

 

Beschäftigungslosigkeit macht offenkundig noch häufiger krank! Mit 15,2 AU-Tagen sind Arbeitslose (ALG-I) fast dreimal so oft krank, wie die meisten psychisch Kranken in der Altenpflege. Und auch Frührenten sind tendenziell stärker psychisch verursacht. Der Anteil hat sich in den zurückliegenden 20 Jahren verdoppelt!

 

  • WHO-Definition: Psychische Gesundheit ...

ist ein Zustand des Wohlbefindens,

  • in dem der Einzelne seine Fähigkeiten ausschöpfen,
  • die normalen Lebensbelastungen bewältigen,
  • produktiv und fruchtbar arbeiten kann und
  • imstande ist, etwas zu seiner Gemeinschaft beizutragen

Quelle: Dr. Ulrich Birner, Siemens Health Management

 

Beachten Sie | Natürlich können Sie nicht jedes psychische Ungleichgewicht Ihrer Arbeitnehmer bewerten. Aber auffällige Kandidaten sollten Sie zum Gespräch bitten. Der BKK Dachverband hat in der Broschüre „Psychisch krank im Job“ auch Verhaltensratschläge für Mitarbeiter und Chefs formuliert, die CE Chef easy hier zusammenfasst:

 

Checkliste /  Gespräch mit psychisch Kranken

  • Sprechen Sie die betroffene Person an ‒ je früher desto besser: Nutzen Sie einen störungsfreien Ort in angenehmer Atmosphäre und nehmen Sie sich Zeit!
  • Zeigen Sie Wertschätzung: Werfen Sie dem Kollegen oder der Kollegin nichts vor. Zeigen Sie aber Ihre Besorgnis!
  • Bleiben Sie authentisch: Wenn Sie sich „künstlich“ verbiegen, wird das der Gesprächspartner merken.
  • Seien Sie konkret: Stellen Sie Ihre Wahrnehmung zum Arbeitsverhalten zur Diskussion. Nennen Sie Beispiele, was Ihnen aufgefallen ist. Fordern Sie eine Selbsteinschätzung von Ihrem Gesprächspartner

Vorsicht vor Bumerang-Effekten:

  • Hinsehen und Handeln: Ignorieren Sie nicht, was Sie sehen. Das Nichtansprechen kann zur Verschlimmerung oder einen Rückfall führen. Notieren Sie sich stattdessen die Punkte, die Sie beobachtet haben (zur Vorbereitung auf das Gespräch).
  • Keine Hobby-Diagnosen: Sie sind der Arbeitgeber, nicht der Arzt! Seien Sie vorsichtig mit Sätzen wie „Reißen Sie sich doch zusammen.“ Das geht nach hinten los.
  • Keine Interpretationen oder Verallgemeinerungen: Formulierungen wie „Das machen Sie immer so!“, „Nie haben Sie …”, „Es ist doch ganz klar, dass …“ haben wenig Aussicht auf Erfolg. Auch die Vermutung einer psychischen Erkrankung liegt nicht in Ihrer Kompetenz!

 

Quelle | BKK-Broschüre „Psychisch krank im Job“

 

Beachten Sie | Angst ist der häufigste Auslöser von psychischen Problemen. Als Arbeitgeber sollten Sie nicht dazu beitragen ‒ Lesen Sie dazu auch ...

 

Weitere 80 Praxistipps in der Checkliste „Mitarbeiterführung“

 

 

Quellen |

  • www.bkk.dachverband.de/gesundheitsreport
  • BKK-PM v. 05.12.2019
  • BKK-Broschüre „Psychisch krank im Job“
Quelle: ID 46278915