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08.05.2017 · IWW-Abrufnummer 193728

Europäischer Gerichtshof: Urteil vom 04.05.2017 – C-339/15

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


URTEIL DES GERICHTSHOFS (Dritte Kammer)

4. Mai 2017(*)

„Vorabentscheidungsersuchen – Art. 56 AEUV – Freier Dienstleistungsverkehr – Leistungen der Mund- und Zahnversorgung – Nationale Rechtsvorschriften, die Werbung für Leistungen der Mund- und Zahnversorgung ausnahmslos verbieten – Vorliegen eines grenzüberschreitenden Aspekts – Schutz der öffentlichen Gesundheit – Verhältnismäßigkeit – Richtlinie 2000/31/EG – Dienst der Informationsgesellschaft – Werbung über eine Website – Angehöriger eines reglementierten Berufs – Berufsrechtliche Regeln – Richtlinie 2005/29/EG – Unlautere Geschäftspraktiken – Nationale Gesundheitsbestimmungen – Nationale Bestimmungen für reglementierte Berufe“

In der Rechtssache C‑339/15

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht von der Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg te Brussel, strafzaken (niederländischsprachiges Gericht erster Instanz in Strafsachen Brüssel, Belgien) mit Entscheidung vom 18. Juni 2015, beim Gerichtshof eingegangen am 7. Juli 2015, in dem Strafverfahren gegen
Luc Vanderborght

erlässt

DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen (Berichterstatter) sowie der Richter M. Vilaras, J. Malenovský, M. Safjan und D. Šváby,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: V. Tourrès, Verwaltungsrat,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 7. Juli 2016,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von Luc Vanderborght, vertreten durch S. Callens, M. Verhaege und L. Boddez, advocaten,
– des Verbond der Vlaamse Tandartsen VZW, vertreten durch N. Van Ranst und V. Vanpeteghem, advocaten,
– der belgischen Regierung, vertreten durch C. Pochet, J. Van Holm und J.‑C. Halleux als Bevollmächtigte im Beistand von A. Fromont und L. Van den Hole, advocaten,
– der italienischen Regierung, vertreten durch G. Palmieri als Bevollmächtigte im Beistand von W. Ferrante, avvocato dello Stato,
– der polnischen Regierung, vertreten durch B. Majczyna als Bevollmächtigten,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch D. Roussanov und F. Wilman als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 8. September 2016

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 49 und 56 AEUV, der Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates und der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken) (ABl. 2005, L 149, S. 22, Berichtigung ABl. 2009, L 253, S. 18) und der Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“) (ABl. 2000, L 178, S. 1).

2

Es ergeht im Rahmen eines Strafverfahrens gegen Herrn Luc Vanderborght, einen in Belgien niedergelassenen Zahnarzt, der beschuldigt wird, gegen eine nationale Regelung verstoßen zu haben, die jegliche Werbung für Leistungen der Mund- oder Zahnversorgung verbietet.
Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

Richtlinie 92/51/EWG

3

Art. 1 der Richtlinie 92/51/EWG des Rates vom 18. Juni 1992 über eine zweite allgemeine Regelung zur Anerkennung beruflicher Befähigungsnachweise in Ergänzung zur Richtlinie 89/48/EWG (ABl. 1992, L 209, S. 25, Berichtigung ABl. 1995, L 17, S. 20) bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie gelten

f) als ‚reglementierte berufliche Tätigkeit‘ eine berufliche Tätigkeit, bei der die Aufnahme oder Ausübung oder eine der Arten ihrer Ausübung in einem Mitgliedstaat direkt oder indirekt durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften an den Besitz eines Ausbildungs- oder Befähigungsnachweises gebunden ist …
…“

Richtlinie 98/34/EG

4

In Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 98/34/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Juni 1998 über ein Informationsverfahren auf dem Gebiet der Normen und technischen Vorschriften und der Vorschriften für die Dienste der Informationsgesellschaft (ABl. 1998, L 204, S. 37) in der Fassung der Richtlinie 98/48/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juli 1998 (ABl. 1998, L 217, S. 18) (im Folgenden: Richtlinie 98/34) ist der Begriff „Dienst“ wie folgt definiert:

„[E]ine Dienstleistung der Informationsgesellschaft, d. h. jede in der Regel gegen Entgelt elektronisch im Fernabsatz und auf individuellen Abruf eines Empfängers erbrachte Dienstleistung.
Im Sinne dieser Definition bezeichnet der Ausdruck
– ‚im Fernabsatz erbrachte Dienstleistung‘ eine
Dienstleistung, die ohne gleichzeitige physische
Anwesenheit der Vertragsparteien erbracht wird;
– ‚elektronisch erbrachte Dienstleistung‘ eine Dienstleistung, die mittels Geräten für die elektronische Verarbeitung (einschließlich digitaler Kompression) und Speicherung von Daten am Ausgangspunkt gesendet und am Endpunkt empfangen wird und die vollständig über Draht, über Funk, auf optischem oder anderem elektromagnetischem Wege gesendet, weitergeleitet und empfangen wird;
– ‚auf individuellen Abruf eines Empfängers erbrachte Dienstleistung‘ eine Dienstleistung die durch die Übertragung von Daten auf individuelle Anforderung erbracht wird.
…“

Richtlinie 2000/31

5

Im 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/31 heißt es:

„Die Dienste der Informationsgesellschaft umfassen einen weiten Bereich von wirtschaftlichen Tätigkeiten, die online vonstattengehen … Die Dienste der Informationsgesellschaft beschränken sich nicht nur auf Dienste, bei denen online Verträge geschlossen werden können, sondern erstrecken sich, soweit es sich überhaupt um eine wirtschaftliche Tätigkeit handelt, auch auf Dienste, die nicht von denjenigen vergütet werden, die sie empfangen, wie etwa Online-Informationsdienste, kommerzielle Kommunikation … Tätigkeiten, die ihrer Art nach nicht aus der Ferne und auf elektronischem Wege ausgeübt werden können, wie die gesetzliche Abschlussprüfung von Unternehmen oder ärztlicher Rat mit einer erforderlichen körperlichen Untersuchung eines Patienten, sind keine Dienste der Informationsgesellschaft.“

6

Art. 2 („Begriffsbestimmungen“) dieser Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
a) ‚Dienste der Informationsgesellschaft‘: Dienste im Sinne von Artikel 1 Nummer 2 der Richtlinie [98/34];

f) ‚kommerzielle Kommunikation‘ alle Formen der Kommunikation, die der unmittelbaren oder mittelbaren Förderung des Absatzes von Waren und Dienstleistungen oder des Erscheinungsbilds eines Unternehmens, einer Organisation oder einer natürlichen Person dienen, die eine Tätigkeit in Handel, Gewerbe oder Handwerk oder einen reglementierten Beruf ausübt; …

g) ‚reglementierter Beruf‘ alle Berufe im Sinne von Artikel 1 Buchstabe d) der Richtlinie 89/48/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschließen … oder im Sinne von Artikel 1 Buchstabe f) der Richtlinie [92/51] …;
…“

7

In Art. 8 („Reglementierte Berufe“) Abs. 1 und 2 dieser Richtlinie heißt es:

„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Verwendung kommerzieller Kommunikationen, die Bestandteil eines von einem Angehörigen eines reglementierten Berufs angebotenen Dienstes der Informationsgesellschaft sind oder einen solchen Dienst darstellen, gestattet ist, soweit die berufsrechtlichen Regeln, insbesondere zur Wahrung von Unabhängigkeit, Würde und Ehre des Berufs, des Berufsgeheimnisses und eines lauteren Verhaltens gegenüber Kunden und Berufskollegen, eingehalten werden.
(2) Unbeschadet der Autonomie von Berufsvereinigungen und ‑organisationen ermutigen die Mitgliedstaaten und die Kommission die Berufsvereinigungen und ‑organisationen dazu, Verhaltenskodizes auf Gemeinschaftsebene aufzustellen, um zu bestimmen, welche Arten von Informationen im Einklang mit den in Absatz 1 genannten Regeln zum Zwecke der kommerziellen Kommunikation erteilt werden können.“

Richtlinie 2005/29

8

Im 9. Erwägungsgrund der Richtlinie 2005/29 heißt es:

„Diese Richtlinie berührt nicht individuelle Klagen von Personen, die durch eine unlautere Geschäftspraxis geschädigt wurden. Sie berührt ferner nicht die gemeinschaftlichen und nationalen Vorschriften in den Bereichen … Sicherheit und Gesundheitsschutz im Zusammenhang mit Produkten … Die Mitgliedstaaten können somit unabhängig davon, wo der Gewerbetreibende niedergelassen ist, unter Berufung auf den Schutz der Gesundheit und der Sicherheit der Verbraucher in ihrem Hoheitsgebiet für Geschäftspraktiken Beschränkungen aufrechterhalten oder einführen oder diese Praktiken verbieten, beispielsweise im Zusammenhang mit Spirituosen, Tabakwaren und Arzneimitteln …“

9

Art. 2 („Definitionen“) dieser Richtlinie bestimmt:

„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck

c) ‚Produkt‘ jede Ware oder Dienstleistung, einschließlich Immobilien, Rechte und Verpflichtungen;
d) ‚Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern‘ (nachstehend auch ‚Geschäftspraktiken‘ genannt) jede Handlung, Unterlassung, Verhaltensweise oder Erklärung, kommerzielle Mitteilung einschließlich Werbung und Marketing eines Gewerbetreibenden, die unmittelbar mit der Absatzförderung, dem Verkauf oder der Lieferung eines Produkts an Verbraucher zusammenhängt;
…“

10

Art. 3 der Richtlinie sieht vor:

„(1) Diese Richtlinie gilt für unlautere Geschäftspraktiken im Sinne des Artikels 5 von Unternehmen gegenüber Verbrauchern vor, während und nach Abschluss eines auf ein Produkt bezogenen Handelsgeschäfts.

(3) Diese Richtlinie lässt die Rechtsvorschriften der Gemeinschaft oder der Mitgliedstaaten in Bezug auf die Gesundheits- und Sicherheitsaspekte von Produkten unberührt.

(8) Diese Richtlinie lässt alle Niederlassungs- oder Genehmigungsbedingungen, berufsständischen Verhaltenskodizes oder andere spezifische Regeln für reglementierte Berufe unberührt, damit die strengen Integritätsstandards, die die Mitgliedstaaten den in dem Beruf tätigen Personen nach Maßgabe des Gemeinschaftsrechts auferlegen können, gewährleistet bleiben.
…“

Belgisches Recht

11

Art. 8d des Koninklijk Besluit houdende reglement op de beoefening der tandheelkunde (Königlicher Erlass zur Regelung der Ausübung der Zahnheilkunde) vom 1. Juni 1934 (Belgisch Staatsblad vom 7. Juni 1934, S. 3220) bestimmt:

„Als Hinweis für die Öffentlichkeit darf an dem Gebäude, in dem eine qualifizierte Person … den Beruf des Zahnarztes ausübt, nur eine Aufschrift oder ein Schild dezenter Größe und Gestaltung angebracht werden, auf dem der Name des Arztes und gegebenenfalls seine gesetzliche Berufsbezeichnung, seine Sprechtage und ‑stunden sowie die Bezeichnung des Unternehmens oder der Gesundheitseinrichtung, in der er seinen Beruf ausübt, angegeben sind; ferner darf darauf auch das Teilgebiet der Zahnheilkunde genannt werden, auf das der Arzt sich spezialisiert hat: operative Zahnheilkunde, Oralprothetik, Kieferorthopädie, Zahnchirurgie.
…“

12

Art. 1 der Wet betreffende de publiciteit inzake tandverzorging (Gesetz über die Werbung in Sachen Zahnbehandlung) vom 15. April 1958 (Belgisch Staatsblad vom 5. Mai 1958, S. 3542) sieht vor:

„Niemand darf mittelbar oder unmittelbar in der Absicht werben, in Belgien oder im Ausland Erkrankungen, Verletzungen oder Anomalien im Bereich des Mundes und der Zähne zu behandeln oder durch qualifizierte oder nicht qualifizierte Personen behandeln zu lassen, insbesondere durch Schaufensterauslagen oder Aushängeschilder, Aufschriften oder Tafeln, die hinsichtlich der Rechtmäßigkeit der angegebenen Tätigkeit irreführend sein können, durch Prospekte, Rundschreiben, Flugblätter und Broschüren, über die Presse, im Rundfunk oder im Kino …“
Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

13

Zur Zeit des Sachverhalts, der Anlass zu den strafrechtlichen Ermittlungen gegen Herrn Vanderborght gab, war dieser als qualifizierter Zahnarzt in Opwijk (Belgien) tätig. Die Ermittlungen wurden eingeleitet, weil er – zumindest zwischen März 2003 und Januar 2014 – unter Verstoß gegen belgisches Recht für Leistungen der zahnärztlichen Versorgung geworben haben soll.

14

Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass Herr Vanderborght eine Stele mit drei bedruckten Seiten aufstellte, auf denen sein Name, seine Eigenschaft als Zahnarzt, die Adresse seiner Website und die Telefonnummer seiner Praxis angegeben waren.

15

Er erstellte ferner eine Website, um Patienten über die verschiedenen Arten von Behandlungen zu informieren, die er in seiner Praxis durchführt. Schließlich schaltete er einige Anzeigen in lokalen Tageszeitungen.

16

Die strafrechtlichen Ermittlungen gehen auf die Beschwerde eines Berufsverbands, des Verbond der Vlaamse Tandartsen VZW, zurück.

17

Am 6. Februar 2014 beantragte die Staatsanwaltschaft die Abgabe des Verfahrens gegen Herrn Vanderborght an das Strafgericht. Mit Beschluss vom 25. März 2014 gab die Ratskammer das Verfahren an die Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg te Brussel, strafzaken (niederländischsprachiges Gericht erster Instanz für Strafsachen Brüssel, Belgien) ab.

18

Vor dem vorlegenden Gericht macht Herr Vanderborght geltend, dass Art. 1 des Gesetzes über die Werbung in Sachen Zahnbehandlung vom 15. April 1958, der ausnahmslos jegliche Werbung für Leistungen der Mund- oder Zahnversorgung verbiete, und Art. 8d des Königlichen Erlasses zur Regelung der Ausübung der Zahnheilkunde vom 1. Juni 1934, der bestimmte Anforderungen in Bezug auf die Schlichtheit von Zahnarztpraxisschildern aufstelle, gegen das Unionsrecht, insbesondere gegen die Richtlinien 2005/29 und 2000/31 sowie gegen die Art. 49 und 56 AEUV, verstoße.

19

Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts weist der Ausgangsrechtsstreit ein grenzüberschreitendes Element auf, da Herr Vanderborght Werbung im Internet, mit der er auch Patienten in anderen Mitgliedstaaten erreichen kann, verbreitet und auch Patienten aus anderen Mitgliedstaaten behandelt.

20

In diesem Zusammenhang hat die Nederlandstalige rechtbank van eerste aanleg te Brussel, strafzaken (niederländischsprachiges Gericht erster Instanz für Strafsachen Brüssel) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Ist die Richtlinie 2005/29 dahin auszulegen, dass sie einem nationalen Gesetz entgegensteht, das es jedermann absolut verbietet, in irgendeiner Form für Mund- oder Zahnversorgung zu werben, wie es Art. 1 des Gesetzes über die Werbung in Sachen Zahnbehandlung vom 15. April 1958 tut?

2. Ist ein Werbeverbot für Mund- und Zahnversorgung als „Rechtsvorschrift in Bezug auf die Gesundheits- und Sicherheitsaspekte von Produkten“ im Sinne von Art. 3 Abs. 3 der Richtlinie 2005/29 zu betrachten?

3. Ist die Richtlinie 2005/29 dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie Art. 8d des Königlichen Erlasses zur Regelung der Ausübung der Zahnheilkunde vom 1. Juni 1934 entgegensteht, in der detailliert beschrieben wird, welchen Anforderungen in Bezug auf die Schlichtheit ein für die Öffentlichkeit bestimmtes Aushängeschild an der Praxis eines Zahnarztes genügen muss?

4. Ist die Richtlinie 2000/31 dahin auszulegen, dass sie einem nationalen Gesetz entgegensteht, das es jedermann absolut verbietet, in irgendeiner Form für Mund- oder Zahnversorgung zu werben, und auch kommerzielle Werbung in elektronischer Form (Website) untersagt, wie es Art. 1 des Gesetzes über die Werbung in Sachen Zahnbehandlung vom 15. April 1958 tut?

5. Wie ist der Begriff „Dienste der Informationsgesellschaft“, der in Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/31 unter Bezugnahme auf Art. 1 Abs. 2 der Richtlinie 98/34 definiert wird, auszulegen?

6. Sind die Art. 49 und 56 AEUV dahin auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung wie der im Ausgangsverfahren entgegenstehen, mit der zum Schutz der öffentlichen Gesundheit ein vollständiges Werbeverbot für zahnmedizinische Versorgung auferlegt wird?

Zu den Vorlagefragen

Zu den ersten drei Fragen

21

Mit den ersten drei Fragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2005/29 dahin auszulegen ist, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die die öffentliche Gesundheit und die Würde des Zahnarztberufs schützen, indem sie zum einen jegliche Werbung für Leistungen der Mund- und Zahnversorgung allgemein und ausnahmslos verbieten und zum anderen bestimmte Anforderungen in Bezug auf die Schlichtheit von Zahnarztpraxisschildern aufstellen.

22

Zur Beantwortung dieser Fragen ist zunächst zu klären, ob die von dem im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Verbot erfasste Werbung eine Geschäftspraxis im Sinne von Art. 2 Buchst. d der Richtlinie 2005/29 darstellt und damit deren Vorschriften unterliegt (vgl. entsprechend Urteil vom 9. November 2010, Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag, C‑540/08, EU:C:2010:660, Rn. 16).

23

Art. 2 Buchst. d dieser Richtlinie definiert den Begriff „Geschäftspraxis“ mit einer besonders weiten Formulierung als „jede Handlung, Unterlassung, Verhaltensweise oder Erklärung, kommerzielle Mitteilung einschließlich Werbung und Marketing eines Gewerbetreibenden, die unmittelbar mit der Absatzförderung, dem Verkauf oder der Lieferung eines Produkts an Verbraucher zusammenhängt“ (Urteil vom 9. November 2010, Mediaprint Zeitungs- und Zeitschriftenverlag, C‑540/08, EU:C:2010:660, Rn. 17).

24

Unter „Produkt“ fällt nach Art. 2 Buchst. c der Richtlinie jede Ware oder Dienstleistung.

25

Daraus ergibt sich, dass Werbung für Leistungen der Mund- und Zahnversorgung wie die im Ausgangsverfahren fragliche eine „Geschäftspraxis“ im Sinne der Richtlinie 2005/29 darstellt, und zwar unabhängig davon, ob sie durch Veröffentlichungen in regelmäßig erscheinenden Werbebroschüren, im Internet oder auf Schildern erfolgt.

26

Nach ihrem Art. 3 Abs. 3 lässt die Richtlinie allerdings die Bestimmungen des Unionsrechts oder des nationalen Rechts in Bezug auf die Gesundheits- und Sicherheitsaspekte von Produkten unberührt.

27

Gemäß ihrem Art. 3 Abs. 8 lässt sie ferner alle berufsständischen Verhaltenskodizes oder andere spezifische Regeln für reglementierte Berufe unberührt, damit die strengen Integritätsstandards, die die Mitgliedstaaten den in dem Beruf tätigen Personen nach Maßgabe des Unionsrechts auferlegen können, gewährleistet bleiben.

28

Somit folgt aus diesem Artikel, dass die Richtlinie 2005/29 die nationalen Regelungen in Bezug auf die Gesundheits- und Sicherheitsaspekte von Produkten und die spezifischen Regeln für reglementierte Berufe nicht in Frage stellt.

29

Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften, d. h. Art. 1 des Gesetzes über die Werbung in Sachen Zahnbehandlung vom 15. April 1958 und Art. 8d des Königlichen Erlasses zur Regelung der Ausübung der Zahnheilkunde, die öffentliche Gesundheit bzw. die Würde des Zahnarztberufs schützen, so dass sie unter Art. 3 Abs. 3 bis 8 der Richtlinie 2005/29 fallen.

30

Nach alledem ist auf die ersten drei Fragen zu antworten, dass die Richtlinie 2005/29 dahin auszulegen ist, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen, die die öffentliche Gesundheit und die Würde des Zahnarztberufs schützen, indem sie zum einen jegliche Werbung für Leistungen der Mund- und Zahnversorgung allgemein und ausnahmslos verbieten und zum anderen bestimmte Anforderungen in Bezug auf die Schlichtheit von Zahnarztpraxisschildern aufstellen, nicht entgegensteht.

Zur vierten und zur fünften Frage

31

Mit der vierten und der fünften Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Richtlinie 2000/31 dahin auszulegen ist, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen, die jegliche Werbung für Leistungen der Mund- und Zahnversorgung allgemein und ausnahmslos verbieten, entgegensteht, soweit sie jede Art kommerzieller Kommunikation auf elektronischem Weg, auch mittels einer von einem Zahnarzt erstellten Website, verbieten.

32

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass in Art. 8 Abs. 1 dieser Richtlinie der Grundsatz festgelegt ist, dass die Mitgliedstaaten sicherstellen, dass die Verwendung kommerzieller Kommunikationen, die Bestandteil eines von einem Angehörigen eines reglementierten Berufs angebotenen Dienstes der Informationsgesellschaft sind oder einen solchen Dienst darstellen, gestattet ist.

33

Nach Art. 2 Buchst. g der Richtlinie 2000/31 in Verbindung mit Art. 1 Buchst. f der Richtlinie 92/51, auf den in der erstgenannten Bestimmung verwiesen wird, ist als „reglementierter Beruf“ insbesondere eine berufliche Tätigkeit anzusehen, bei der die Aufnahme oder die Ausübung durch Rechts- oder Verwaltungsvorschriften an den Besitz eines Ausbildungs- oder Befähigungsnachweises gebunden ist.

34

Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass der Beruf des Zahnarztes in Belgien ein reglementierter Beruf im Sinne von Art. 2 Buchst. g der Richtlinie 2000/31 ist.

35

Sodann umfasst der Begriff „Dienste der Informationsgesellschaft“ nach Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2000/31 in Verbindung mit Art. 1 Nr. 2 der Richtlinie 98/34 „jede in der Regel gegen Entgelt elektronisch im Fernabsatz und auf individuellen Abruf eines Empfängers erbrachte Dienstleistung“.

36

Der 18. Erwägungsgrund der Richtlinie 2000/31 erläutert, dass der Begriff „Dienste der Informationsgesellschaft“ einen weiten Bereich von wirtschaftlichen Tätigkeiten umfasst, die online vonstattengehen, und sich nicht nur auf Dienste beschränkt, bei denen online Verträge geschlossen werden können, sondern sich – soweit es sich überhaupt um eine wirtschaftliche Tätigkeit handelt – auch auf Dienste erstreckt, die nicht von denjenigen vergütet werden, die sie empfangen, wie etwa Online-Informationsdienste oder kommerzielle Kommunikation.

37

Demnach kann Online-Werbung einen Dienst der Informationsgesellschaft im Sinne der Richtlinie 2000/31 darstellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 15. September 2016, Mc Fadden, C‑484/14, EU:C:2016:689, Rn. 41 und 42).

38

Ferner stellt Art. 2 Buchst. f dieser Richtlinie klar, dass der Begriff „kommerzielle Kommunikation“ u. a. alle Formen der Kommunikation abdeckt, die der unmittelbaren oder mittelbaren Förderung des Absatzes von Dienstleistungen einer natürlichen Person, die einen reglementierten Beruf ausübt, dienen.

39

Daraus folgt, dass Werbung für Leistungen der Mund- und Zahnversorgung über eine Website, die von einem Angehörigen eines reglementierten Berufs erstellt wurde, eine kommerzielle Kommunikation ist, die im Sinne von Art. 8 der Richtlinie 2000/31 Bestandteil eines Dienstes der Informationsgesellschaft ist bzw. einen solchen Dienst darstellt.

40

Folglich sind die Mitgliedstaaten – wie der Generalanwalt in Nr. 50 seiner Schlussanträge ausgeführt hat – verpflichtet, sicherzustellen, dass solche kommerziellen Kommunikationen grundsätzlich erlaubt sind.

41

Insoweit ist hervorzuheben, dass der von der Europäischen Kommission vertretenen gegenteiligen Auslegung – nach der diese Bestimmung die Werbung eines Angehörigen eines reglementierten Berufs nur dann erfasst, wenn dieser als Anbieter von Online-Werbung handelt – nicht gefolgt werden kann, da diese Auslegung die Tragweite der Bestimmung übermäßig einschränken würde.

42

Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/31 soll es Angehörigen eines reglementierten Berufs nämlich gerade ermöglichen, Dienste der Informationsgesellschaft zu nutzen, um ihre Tätigkeiten zu fördern.

43

Aus dieser Bestimmung ergibt sich allerdings, dass kommerzielle Kommunikationen wie die in Rn. 39 des vorliegenden Urteils genannten nur unter der Bedingung erlaubt werden dürfen, dass die berufsrechtlichen Regeln, insbesondere zur Wahrung von Unabhängigkeit, Würde und Ehre des betreffenden reglementierten Berufs, des Berufsgeheimnisses und eines lauteren Verhaltens sowohl gegenüber Kunden als auch gegenüber Berufskollegen, eingehalten werden.

44

Die in dieser Bestimmung genannten berufsrechtlichen Regeln können jedoch nicht jegliche Form der Online-Werbung zur Förderung der Tätigkeit einer Person, die einen reglementierten Beruf ausübt, allgemein und ausnahmslos verbieten, da der Bestimmung sonst ihre Wirksamkeit genommen und die Erreichung des vom Unionsgesetzgeber verfolgten Ziels vereitelt würde.

45

Diese Auslegung wird durch Art. 8 Abs. 2 der Richtlinie 2000/31 bestätigt, der vorsieht, dass die Mitgliedstaaten und die Kommission zur Ausarbeitung von Verhaltenskodizes ermutigen, die diese Art von Werbung nicht verbieten, sondern vielmehr klären sollen, welche Arten von Informationen im Einklang mit diesen berufsrechtlichen Regeln zum Zweck der kommerziellen Kommunikation erteilt werden können.

46

Folglich können berufsrechtliche Regeln zwar Inhalt und Form der in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/31 genannten kommerziellen Kommunikationen wirksam eingrenzen, sie dürfen aber kein allgemeines und ausnahmsloses Verbot dieser Art von Kommunikationen enthalten.

47

Diese Erwägung gilt gleichermaßen für nationale Rechtsvorschriften wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die nur für Zahnärzte gelten.

48

Der Unionsgesetzgeber hat die reglementierten Berufe nämlich nicht von dem in Art. 8 Abs. 1 der Richtlinie 2000/31 enthaltenen Grundsatz, dass kommerzielle Kommunikationen gestattet sind, ausgenommen.

49

Daher ermöglicht es diese Bestimmung zwar, die Besonderheiten der Gesundheitsberufe bei der Ausarbeitung der betreffenden berufsrechtlichen Regeln durch eine – gegebenenfalls starke – Eingrenzung der Formen und Ausgestaltungen der in dieser Bestimmung genannten kommerziellen Online-Kommunikationen zu berücksichtigen, um u. a. sicherzustellen, dass das Vertrauen der Patienten in diese Berufe nicht beeinträchtigt wird. Diese berufsrechtlichen Regeln können jedoch nicht zulässigerweise allgemein und ausnahmslos jede Form von Online-Werbung zur Förderung der Tätigkeit einer Person, die einen reglementierten Beruf ausübt, verbieten.

50

Nach alledem ist auf die vierte und die fünfte Frage zu antworten, dass die Richtlinie 2000/31 dahin auszulegen ist, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen, die jegliche Werbung für Leistungen der Mund- und Zahnversorgung allgemein und ausnahmslos verbieten, entgegensteht, soweit sie jede Form kommerzieller Kommunikation auf elektronischem Weg, auch mittels einer von einem Zahnarzt erstellten Website, verbieten.

Zur sechsten Frage

51

Mit der sechsten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die Art. 49 und 56 AEUV dahin auszulegen sind, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegenstehen, die jegliche Werbung für Leistungen der Mund- und Zahnversorgung allgemein und ausnahmslos verbieten.

52

Vorab ist darauf hinzuweisen, dass die sechste Frage in Anbetracht der Antwort auf die vierte und die fünfte Frage so zu verstehen ist, dass mit ihr letztlich geklärt werden soll, ob solche nationalen Rechtsvorschriften, soweit sie Werbung verbieten, die nicht über einen Dienst der Informationsgesellschaft erfolgt, mit den Art. 49 und 56 AEUV vereinbar sind.

Zur Zulässigkeit

53

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind die Bestimmungen des Vertrags, die die Verkehrsfreiheiten gewährleisten, nicht auf einen Sachverhalt anwendbar, dessen Merkmale sämtlich nicht über die Grenzen eines Mitgliedstaats hinausweisen (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteile vom 21. Oktober 1999, Jägerskjöld, C‑97/98, EU:C:1999:515, Rn. 42, und vom 11. Juli 2002, Carpenter, C‑60/00, EU:C:2002:434, Rn. 28).

54

Das Ausgangsverfahren betrifft zwar die Strafverfolgung eines Zahnarztes, der belgischer Staatsangehöriger, in Belgien niedergelassen und in diesem Mitgliedstaat tätig ist.

55

Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich allerdings, dass ein Teil der Patienten von Herrn Vanderborght aus anderen Mitgliedstaaten stammt.

56

Wie der Gerichtshof bereits entschieden hat, kann der Umstand, dass zu den Kunden auch Unionsbürger aus anderen Mitgliedstaaten gehören, einen grenzüberschreitenden Aspekt darstellen, der bedeutet, dass die Bestimmungen des Vertrags, die die Verkehrsfreiheiten gewährleisten, Anwendung finden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 2015, Berlington Hungary u. a., C‑98/14, EU:C:2015:386, Rn. 25 und 26).

57

Die sechste Frage ist somit zulässig.

Zur Beantwortung der Frage

58
Betrifft eine innerstaatliche Maßnahme sowohl die Niederlassungsfreiheit als auch den freien Dienstleistungsverkehr, prüft der Gerichtshof diese Maßnahme grundsätzlich nur im Hinblick auf eine dieser beiden Freiheiten, wenn sich herausstellt, dass unter den Umständen des Ausgangsverfahrens eine der beiden Freiheiten der anderen gegenüber völlig zweitrangig ist und ihr zugeordnet werden kann (Urteil vom 26. Mai 2016, NN [L] International, C‑48/15, EU:C:2016:356, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

59

Dies ist hier der Fall.

60

Da der grenzüberschreitende Aspekt, der dazu führt, dass die die Verkehrsfreiheiten gewährleistenden Bestimmungen des Vertrags anwendbar sind, im Ortswechsel von in einem anderen Mitgliedstaat wohnhaften Dienstleistungsempfängern liegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 2015, Berlington Hungary u. a., C‑98/14, EU:C:2015:386, Rn. 26), ist die sechste Frage im Hinblick auf Art. 56 AEUV zu beantworten.

61

Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs sind als Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit alle Maßnahmen zu verstehen, die die Ausübung dieser Freiheit untersagen, behindern oder weniger attraktiv machen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Juli 2008, Corporación Dermoestética, C‑500/06, EU:C:2008:421, Rn. 32, vom 22. Januar 2015, Stanley International Betting und Stanleybet Malta, C‑463/13, EU:C:2015:25, Rn. 45, und vom 28. Januar 2016, Laezza, C‑375/14, EU:C:2016:60, Rn. 21).

62

Zudem umfasst der Begriff der Beschränkung insbesondere die von einem Mitgliedstaat getroffenen Maßnahmen, die, obwohl sie unterschiedslos anwendbar sind, den freien Dienstleistungsverkehr in den übrigen Mitgliedstaaten berühren (Urteil vom 12. September 2013, Konstantinides, C‑475/11, EU:C:2013:542, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).

63
Nationale Rechtsvorschriften, die jegliche Werbung für eine bestimmte Tätigkeit allgemein und ausnahmslos verbieten, sind geeignet, für die diese Tätigkeit ausübenden Personen die Möglichkeit einzuschränken, sich bei ihren potenziellen Kunden bekannt zu machen und die Dienstleistungen, die sie ihnen anbieten möchten, zu fördern.

64

Daher sind solche nationalen Rechtsvorschriften als eine Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit anzusehen.

65

Was die Rechtfertigung einer solchen Beschränkung anbelangt, können nationale Maßnahmen, die geeignet sind, die Ausübung der durch den Vertrag garantierten Grundfreiheiten zu behindern, nur dann zugelassen werden, wenn mit ihnen ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel verfolgt wird, wenn sie geeignet sind, dessen Erreichung zu gewährleisten, und wenn sie nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung des verfolgten Ziels erforderlich ist (Urteil vom 12. September 2013, Konstantinides, C‑475/11, EU:C:2013:542, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung).

66

Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht darauf hingewiesen, dass die im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften die öffentliche Gesundheit und die Würde des Zahnarztberufs schützen sollen.

67

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass der Schutz der Gesundheit eines der Ziele ist, die als zwingende Gründe des Allgemeininteresses angesehen werden können und mit denen sich eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs rechtfertigen lässt (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 10. März 2009, Hartlauer, C‑169/07, EU:C:2009:141, Rn. 46, und vom 12. September 2013, Konstantinides, C‑475/11, EU:C:2013:542, Rn. 51).

68

Ferner ist in Anbetracht der Bedeutung des Vertrauensverhältnisses, das zwischen dem Zahnarzt und seinem Patienten herrschen muss, anzunehmen, dass auch die Würde des Zahnarztberufs einen solchen zwingenden Grund des Allgemeininteresses darstellen kann.

69

Ein intensives Betreiben von Werbung oder die Wahl von Werbeaussagen, die aggressiv oder sogar geeignet sind, die Patienten hinsichtlich der angebotenen Versorgung irrezuführen, kann dem Schutz der Gesundheit schaden und der Würde des Zahnarztberufs abträglich sein, indem das Image des Zahnarztberufs beschädigt, das Verhältnis zwischen den Zahnärzten und ihren Patienten verändert und die Durchführung unangemessener oder unnötiger Behandlungen gefördert wird.

70

In diesem Zusammenhang ist ein allgemeines und ausnahmsloses Werbeverbot geeignet, die Erreichung der verfolgten Ziele zu gewährleisten, indem jegliche Werbung oder Verwendung von Werbeaussagen durch Zahnärzte verhindert wird.

71

Im Hinblick auf die Erforderlichkeit einer Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden ist zu berücksichtigen, dass unter den vom Vertrag geschützten Gütern und Interessen die Gesundheit und das Leben von Menschen den höchsten Rang einnehmen und dass es Sache der Mitgliedstaaten ist, zu bestimmen, auf welchem Niveau sie den Schutz der Gesundheit der Bevölkerung gewährleisten wollen und wie dieses Niveau erreicht werden soll. Da sich dieses Niveau von einem Mitgliedstaat zum anderen unterscheiden kann, ist den Mitgliedstaaten ein Wertungsspielraum zuzuerkennen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 2. Dezember 2010, Ker-Optika, C‑108/09, EU:C:2010:725, Rn. 58, und vom 12. November 2015, Visnapuu, C‑198/14, EU:C:2015:751, Rn. 118).

72

Unbeschadet dieses Wertungsspielraums geht die Einschränkung, die sich aus der Anwendung der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Rechtsvorschriften ergibt, nach denen jegliche Werbung für Leistungen der Mund- und Zahnversorgung allgemein und ausnahmslos verboten ist, aber über das hinaus, was zur Erreichung der in Rn. 66 des vorliegenden Urteils genannten Ziele dieser Rechtsvorschriften erforderlich ist.

73

Es sind nämlich nicht alle der durch diese Rechtsvorschriften verbotenen Werbeaussagen für sich genommen geeignet, Wirkungen zu entfalten, die den in Rn. 69 des vorliegenden Urteils angeführten Zielen zuwiderlaufen.

74

Insoweit ist übrigens darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof zwar in Rn. 57 des Urteils vom 12. September 2013, Konstantinides (C‑475/11, EU:C:2013:542) festgestellt hat, dass eine nationale Regelung, die Werbung für medizinische Leistungen mit einem dem Berufsethos widersprechenden Inhalt verbietet, mit Art. 56 AEUV vereinbar ist. Die im Ausgangsverfahren fraglichen Rechtsvorschriften haben jedoch eine erheblich größere Reichweite.

75

Unter diesen Umständen ist davon auszugehen, dass die Ziele der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Rechtsvorschriften mit weniger einschneidenden Maßnahmen erreicht werden können, die – gegebenenfalls stark – eingrenzen, welche Formen und Modalitäten die von Zahnärzten verwendeten Kommunikationsinstrumente annehmen dürfen, ohne ihnen jedoch allgemein und ausnahmslos jegliche Form der Werbung zu verbieten.

76

Nach alledem ist auf die sechste Frage zu antworten, dass Art. 56 AEUV dahin auszulegen ist, dass er nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die jegliche Werbung für Leistungen der Mund- und Zahnversorgung allgemein und ausnahmslos verbieten.

Kosten

77

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Dritte Kammer) für Recht erkannt:

1. Die Richtlinie 2005/29/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11. Mai 2005 über unlautere Geschäftspraktiken von Unternehmen gegenüber Verbrauchern im Binnenmarkt und zur Änderung der Richtlinie 84/450/EWG des Rates, der Richtlinien 97/7/EG, 98/27/EG und 2002/65/EG des Europäischen Parlaments und des Rates sowie der Verordnung (EG) Nr. 2006/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates (Richtlinie über unlautere Geschäftspraktiken) ist dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen, die die öffentliche Gesundheit und die Würde des Zahnarztberufs schützen, indem sie zum einen jegliche Werbung für Leistungen der Mund- und Zahnversorgung allgemein und ausnahmslos verbieten und zum anderen bestimmte Anforderungen in Bezug auf die Schlichtheit von Zahnarztpraxisschildern aufstellen, nicht entgegensteht.

2. Die Richtlinie 2000/31/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 8. Juni 2000 über bestimmte rechtliche Aspekte der Dienste der Informationsgesellschaft, insbesondere des elektronischen Geschäftsverkehrs, im Binnenmarkt („Richtlinie über den elektronischen Geschäftsverkehr“) ist dahin auszulegen, dass sie nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen, die jegliche Werbung für Leistungen der Mund- und Zahnversorgung allgemein und ausnahmslos verbieten, entgegensteht, soweit sie jede Form kommerzieller Kommunikation auf elektronischem Weg, auch mittels einer von einem Zahnarzt erstellten Website, verbieten.

3. Art. 56 AEUV ist dahin auszulegen, dass er nationalen Rechtsvorschriften wie den im Ausgangsverfahren fraglichen entgegensteht, die jegliche Werbung für Leistungen der Mund- und Zahnversorgung allgemein und ausnahmslos verbieten.

Unterschriften

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