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01.02.2017 · IWW-Abrufnummer 191556

Oberlandesgericht Bamberg: Beschluss vom 29.12.2016 – 3 Ss OWi 1566/16

Beruht die Überzeugung des Tatgerichts von der Fahrereigenschaft des Betroffenen ohne weitere eigene Erwägungen auf der Übernahme von Darlegungen eines anthropologischen Sachverständigen, müssen im Urteil die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und fachbezogenen Ausführungen des Sachverständigen derart wiedergegeben werden, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit unabdingbar ist. Hierzu zählen Angaben, auf wie viele und welche konkreten übereinstimmenden medizinischen Körpermerkmale sich der Sachverständige bei seiner Bewertung bezogen, wie er die Übereinstimmungen ermittelt, auf welches biostatische Vergleichsmaterial sich die von ihm vorgenommene Wahrscheinlichkeitsberechnung gestützt und welche Beweisbedeutung er den einzelnen Merkmalen beigemessen hat (u.a. Anschluss an OLG Bamberg, Beschl. v. 20.02.2008 – 3 Ss OWi 180/08 = NZV 2008, 211 = VRS 114, 285 m.w.N.).


Oberlandesgericht Bamberg

Beschluss vom 29. 12. 2016

3 Ss OWi 1566/16

Zum Sachverhalt:

Das AG hat den Betr. nach Aufhebung und Zurückverweisung seines in der Sache auf Rechtsbeschwerde des Betr. ergangenen Ersturteils wiederum wegen einer fahrlässigen außerörtlichen Geschwindigkeitsüberschreitung um 28 km/h (§ 24 I StVG i.V.m. §§ 41 II, 49 III Nr. 4 StVO) zu ei­ner Geldbuße von 80 € ver­ur­teilt und gegen ihn wegen eines beharrlichen Pflichtenverstoßes ein Regelfahrverbot nach § 25 I 1 i.V.m. § 4 II 2 BKatV verhängt. Hiergegen wendet sich erneut der Betr. mit seiner Rechtsbeschwerde, mit der er die Verletzung sachlichen und formellen Rechts beanstandet. Das Rechtsmittel erwies sich wiederum als erfolgreich.

Aus den Gründen:

I. Die statthafte (§ 79 I 1 Nr. 2 OWiG) und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde erweist sich wiederum mit der Sachrüge als begründet, so dass es auf die jedenfalls unbegründete verfahrensrechtliche Beanstandung der Verletzung des Beweisantragsrechts bzw. des rechtlichen Gehörs nicht mehr ankommt. Das Rechtsmittel zwingt den Senat – wenn auch aus anderem Grund – zur neuerlichen Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das AG [...].

1. Die Überzeugung des AG von der Fahrereigenschaft des Betr. beruht auf den sachverständigen Darlegungen des mit der Erstellung eines anthropologischen Gutachtens beauftragten und im Termin gehörten Sachverständigen, welche es sich „in Gänze zu Eigen“ macht mit der Folge, dass „letztlich […] keinerlei vernünftige Zweifel an der Fahreigenschaft des Betr.“ bestanden.

2. Wie die Rechtsbeschwerde und auch die GStA jeweils zu Recht beanstanden, genügt dies nicht den nach den §§ 71 I OWiG i.V.m. § 267 I StPO gebotenen sachlich-rechtlichen Mindestanforderungen an eine nachvollziehbare Urteilsdarstellung, nachdem das AG aus für den Senat nicht transparenten Gründen den Betr. offenbar nicht allein anhand der vorhanden Lichtbilder wiedererkannt und demgemäß nicht von der ansonsten nahe liegenden, weil einfachen Möglichkeit einer deutlichen und zweifelsfreien Bezugnahme nach § 267 I 3 StPO i.V.m. § 71 I OWiG (zu den Anforderungen zuletzt BGH, Urt. v. 28.01.2016 – 3 StR 425/16 = StraFo 2016, 155 = NStZ-RR 2016, 178 = BGHR StPO § 267 I 3 Verweisung 5 und OLG Bamberg, Beschl. v. 14.11.2016 – 3 Ss OWi 1164/16 [bei juris], jeweils m.w.N.) auf ein „bei den Akten“ befindliches Messfoto bzw. ‚Frontfoto’ Gebrauch gemacht hat, zumal sich dann eine ausführliche Beschreibung des Messfotos nach Inhalt und Qualität in den Urteilsgründen erübrigt hätte (st.Rspr., vgl. neben BGH, Beschl. v. 19.12.1995 - 4 StR 170/95 = BGHSt 41, 376/382 = DAR 1996, 98 = NJW 1996, 1420 = NZV 1996, 413 = MDR 1996, 512 = BGHR StPO § 267 I 3 Verweisung 2 = StV 1996, 413 = VerkMitt 1996, 89 und BayObLG a.a.O. u.a. OLG Bamberg, Beschl. v. 20.02.2008 c– 3 Ss OWi 180/08 = NZV 2008, 211 = VRS 114, 285 [2008]; 21.04.2008 – 2 Ss OWi 499/08 = NZV 2008, 469; 06.04.2010 – 3 Ss OWi 378/10 = DAR 2010, 390 = StV 2011, 717 = zfs 2010, 469 = SVR 2011, 344; 22.02.2012 – 2 Ss OWi 143/12 = DAR 2012, 215 = NZV 2012, 250 und v. 02.04.2015 – 2 Ss OWi 251/15 [bei juris]; vgl. zuletzt auch OLG Hamm, Beschl. v. 11.04.2016 – 4 RBs 74/16 und 08.03.2016 – 4 RBs 37/16 [jeweils bei juris]; OLG Brandenburg, Beschl. v. 02.02.2016 – 53 Ss-OWi 664/15 = DAR 2016, 282; KG, Beschl. v. 15.12.2015 – 121 Ss 216/15 = OLGSt StPO § 267 Nr. 29 = NJ 2016, 393 und v. 17.10.2014 – 3 Ws [B] 550/14 = VRS 127 [2015], 295; OLG Koblenz, Beschl. v. 10.06.2015 – 1 Ss 188/13 = StraFo 2015, 286; OLG Brandenburg, Beschl. v. 02.02.2016 – 53 Ss-OWi 664/15 = DAR 2016, 282; OLG Hamm, Beschl. v. 08.03.2016 – 4 RBs 37/16 = DAR 2016, 399 sowie OLG Frankfurt, Beschl. vom 11.08.2016 – 2 Ss OWi 562/16 [bei juris]; Göhler/Seitz § 71‚ Rn. 47a f.; KK-OWiG/Senge § 71 Rn. 116 f.; Meyer-Goßner/Schmitt StPO 59. Aufl. § 267 Rn. 8 ff.; zur Unzulässigkeit der Verweisung auf ein elektronisches Speichermedium [Bezugnahme auf bei den Akten befindlicher CD-ROM gespeicherte ‚bewegte‘ Videoaufzeichnung bzw. Bilddatei als solche] BGH, Urt. v. 02.11.2011 – 2 StR 332/11 = BGHSt 57, 53 = NJW 2012, 244 f. = NStZ 2012, 228 f. = NZV 2012, 143 = StV 2012, 272 = BGHR StPO § 267 I 3 Verweisung 4; KK-OWiG/Senge § 71 Rn. 116 a.E.; Burhoff/Gübner Rn. 2735 f.).

a) Wenn auch in Bußgeldsachen als Massenverfahren an die Abfassung der Urteilsgründe keine übertrieben hohen Anforderungen zu stellen sind, kann für sie als alleiniger Grundlage für die sachlich-rechtliche Überprüfung des angefochtenen Urteils prinzipiell nichts anderes gelten wie für Urteile im Strafsachen. Die Urteilsgründe müssen deshalb nach § 71 OWiG i.V.m. § 267 I, III StPO auch in Bußgeldsachen wenigstens so beschaffen sein, dass ihnen das Rechtsbeschwerdegericht im Rahmen der Nachprüfung einer richtigen Rechtsanwendung entnehmen kann, welche Feststellungen der Tatrichter zu den objektiven und subjektiven Tatbestandselementen getroffen hat und welche tatrichterlichen Erwägungen der Bemessung der Geldbuße und der Anordnung oder dem Absehen von Nebenfolgen zugrunde liegen. Dies gilt auch für die Beweiswürdigung, weil das Rechtsbeschwerdegericht nur so in den Stand gesetzt wird, diese auf Widersprüche, Unklarheiten, Lücken oder Verstöße gegen Denkgesetze oder gesicherte Erfahrungssätze zu überprüfen (st.Rspr., vgl. zuletzt nur OLG Bamberg, Beschl. v. 01.12.2015 – 3 Ss OWi 834/15 = ZfS 2016, 116 und 14.11.2016 – 3 Ss OWi 1164/16 [bei juris], jeweils m.w.N.).

b) Das AG durfte sich deshalb nicht damit begnügen, lediglich – wenn auch wortreich – das Ergebnis der anthropologischen Begutachtung mitzuteilen, weil dem Rechtsbeschwerdegericht allein mit diesen Angaben ohne zusätzliche Ausführungen wenigstens zu den wesentlichen Anknüpfungstatsachen des Gutachtens eine Beurteilung seiner Schlüssigkeit und damit die rechtliche Nachprüfung des Urteils als Ergebnis einer gegenüber der sachverständigen Wertung selbständigen Urteilsfindung schon im Ansatz verwehrt ist. Schließt sich das Tatgericht bei seiner Beweiswürdigung ohne weitere eigene Erwägungen den Ausführungen des Sachverständigen an, müssen im Urteil deshalb die wesentlichen Anknüpfungstatsachen und fachbezogenen Ausführungen des Sachverständigen – wenigstens in zusammenfassender, im Einzelfall auch nur ‚gedrängter‘ Form – mindestens derart wiedergegeben werden, wie dies zum Verständnis des Gutachtens und zur Beurteilung seiner Schlüssigkeit unabdingbar ist, um dem Rechtsbeschwerdegericht eine Überprüfung zu ermöglichen, ob die Beweiswürdigung auf einer tragfähigen Tatsachengrundlage beruht und die gezogenen Schlussfolgerungen (Befundtatsachen) nach den Gesetzen der Logik, den Erfahrungssätzen des täglichen Lebens und den Erkenntnissen der Wissenschaft möglich sind. Der jeweils gebotene Umfang der Darlegungspflicht hängt im Einzelfall von der Beweislage und der Bedeutung der Beweisfrage, die dieser für die Entscheidung zukommt, ab (st.Rspr.; vgl. neben BGHSt 39, 291/297 u.a. BGH, Beschl. v. 02.04.2015 – 3 StR 103/15 [bei juris]; 06.05.2014 – 5 StR 168/14 = NStZ-RR 2014, 244 und 17.06.2014 – 4 StR 171/14 = NStZ-RR 2014, 305; ferner zuletzt OLG Bamberg, Beschl. v. 14.11.2016 – 3 Ss OWi 1164/16 [bei juris] und 20.10.2015 – 3 Ss OWi 1220/15 [bei juris], jeweils m.w.N.; vgl. auch OLG Frankfurt, Beschl. v. 23.11.2015 – 1 Ss 386/15 = BA 53 [2016], 53; OLG Brandenburg, Beschl. v. 28.07.2015 – 53 Ss-OWi 278/15 =  [bei juris]; KG, Beschl. v. 09.07.2014 – 122 Ss 97/14 = VRS 127 [2014], 86 und OLG Celle, Beschl. v. 24.08.2016 – 2 Ss 98/16 [bei juris]; auch Göhler/Seitz § 71‚ Rn. 43d.; KK-OWiG/Senge § 71 Rn. 119; Meyer-Goßner/Schmitt § 267 Rn. 13 f.; KK/Kuckein § 267 Rn. 16; LR/Stuckenberg § 267 Rn. 66). Diesen Anforderungen wird das angefochtene Urteil nicht gerecht; insbesondere hätte - wenigstens zusammenfassend - dargestellt werden müssen, auf wie viele und welche konkreten übereinstimmenden medizinischen Körpermerkmale sich der anthropologische Sachverständige bei seiner Bewertung bezogen, wie er die Übereinstimmungen ermittelt, auf welches biostatische Vergleichsmaterial sich die von ihm vorgenommene Wahrscheinlichkeitsberechnung gestützt und welche Beweisbedeutung er den einzelnen Merkmalen beigemessen hat (vgl. schon OLG Bamberg, Beschl. v. 20.02.2008 – 3 Ss OWi 180/08 = NZV 2008, 211 = VRS 114, 285 m.w.N.).

II. Aufgrund des aufgezeigten (neuerlichen) Darstellungsmangels können der Schuldspruch und damit auch der Rechtsfolgenausspruch keinen Bestand haben. Das angefochtene Urteil ist deshalb aufzuheben (§ 79 III 1 OWiG, § 353 I StPO). Die dem Urteil zugrunde liegenden Feststellungen werden jedoch nur insoweit aufgehoben, soweit sie von dem Rechtsfehler betroffen sind (§ 79 III OWiG, § 353 II StPO). Das sind hier lediglich die Feststellungen zur Fahreridentität, aber auch zur (möglichen) sub­jektiven Tatseite des Betr. Denn möglicherweise kann die Fahreridentität in der neuen Hauptverhandlung schon aufgrund eines Geständnisses geklärt werden. Ergä­ben sich daraus von den bisherigen Feststellungen abweichende Erkenntnisse zur subjektiven Tatseite, stünde die Aufrechterhaltung des Urteils in diesem Punkt einer vollständigen Sachaufklärung entgegen. Demgegen­über können die sonstigen tatsächlichen Feststellungen des AG zum objektiven Tatge­schehen, insbesondere zu dem festgestellten Geschwindigkeitsverstoß, beste­hen bleiben, weil sie durch die Gesetzesverletzung nicht betroffen sind (§ 353 II StPO). [...]

(Mitgeteilt von Richter am OLG Dr. G. Gieg, Bamberg)

RechtsgebieteStPO, OWiG, StVG, StVO, BKatVorschriftenStPO §§ 267 I 3, III, 353 II; OWiG § 71 I; StVG § 25 I 1; StVO §§ 41 II, 49 III Nr. 4; BKat § 4 II 2

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