Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww

25.09.2014 · IWW-Abrufnummer 151909

Landesarbeitsgericht Düsseldorf: Urteil vom 05.06.2014 – 11 Sa 1484/13




Entscheidungsgründe



I.



Die Berufung ist zulässig.



Sie ist nach Maßgabe der §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. § 520 ZPO form- und fristgemäß eingelegt und begründet worden. Sie ist auch statthaft im Sinne des § 64 Abs. 1, 2 ArbGG.



II.



In der Sache konnte die Berufung hingegen keinen Erfolg haben, denn das Arbeitsgericht hat zutreffend entschieden, dass der Kläger von der Beklagten weder zum 23.09.2010 noch zu dem Zeitpunkt der Zustellung der Klageschrift vom 30.08.2013 wiedereinzustellen ist.



1. Der Anspruch des Klägers scheitert zwar nicht bereits daran, dass in seinem Fall die Voraussetzungen des allgemeinen Wiedereinstellungsanspruches nicht gegeben sind.



a) Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts kann der Arbeitgeber verpflichtet sein, einen Arbeitnehmer, dessen Arbeitsverhältnis er wirksam gekündigt hat, wieder einzustellen, wenn sich in der Zeit zwischen dem Ausspruch der Kündigung und dem Ablauf der Kündigungsfrist der Kündigungssachverhalt geändert hat. Der Wiedereinstellungsanspruch findet seine Grundlage in einer vertraglichen, den Vorgaben des Kündigungsschutzgesetzes und der staatlichen Schutzpflicht aus Art. 12 Abs. 1 GG Rechnung tragenden, letztlich auf § 242 BGB beruhenden arbeitsvertraglichen Nebenpflicht des Arbeitgebers. Der Wiedereinstellungsanspruch entspricht dem durch § 1 KSchG intendierten Bestandsschutz und stellt ein notwendiges Korrektiv für die Fälle dar, in denen die Kündigung auf Grund des maßgeblichen Prüfungszeitpunkts ihres Ausspruchs zwar wirksam ist, die ausschlaggebenden Umstände sich aber noch während der Kündigungsfrist entgegen der im Zeitpunkt des Ausspruchs der Kündigung angestellten Prognose nachträglich ändern. Ein Wiedereinstellungsanspruch besteht grundsätzlich nicht, wenn sich die für die Kündigung maßgeblichen Umstände erst nach Ablauf der Kündigungsfrist ändern, da mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses auch die Interessenwahrungspflichten enden. Nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses bestehen nur noch nachvertragliche Pflichten, die allenfalls in besonderen Ausnahmefällen geeignet sind, einen Wiedereinstellungsanspruch zu begründen (vgl. BAG vom 16.05.2007 - 7 AZR 621/06; BAG vom 09.11.2006 - 2 AZR 509/05 in DB 2007, 861; BAG vom 04.05.2006 - 8 AZR 299/05 in NZA 2006, 1096; BAG vom 28.06.2000 - 7 AZR 904/98 in NZA 2000, 1097).



Im Rahmen des Wiedereinstellungsanspruches ist zusätzlich zu beachten, dass dem durch Art. 12 GG geschützten Interesse des Arbeitnehmers an dem Erhalt des Arbeitsplatzes das jedenfalls durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte Interesse des Arbeitgebers gegenübersteht, nicht zu einem Vertrag mit einem Arbeitnehmer gezwungen zu werden, den er nicht weiter beschäftigen will. Das sich hiernach stellende Problem der praktischen Konkordanz zweier kollidierender Grundrechtspositionen kann durch eine die konkreten Umstände berücksichtigende Abwägung der beiderseitigen Interessen gelöst werden (vgl. BAG vom 28.06.2000 - 7 AZR 904/08 a.a.O.). Insoweit sind auch berechtigte Interessen des Arbeitgebers zu beachten, die der Einstellung des Arbeitnehmers entgegenstehen können (vgl. BAG vom 16.02.2012 - 8 AZR 693/10 in NZA-RR 2012, 465; BAG vom 09.11.2006 - 2 AZR 509/05 a.a.O.; BAG vom 04.05.2006 - 8 AZR 299/05 a.a.O.; BAG vom 28.06.2000 - 7 AZR 904/98 a.a.O.). Solche entgegenstehenden berechtigten Interessen des Arbeitgebers können insbesondere dann bestehen, wenn er bereits anderweitige Dispositionen getroffen hat. Dies ist dann der Fall, wenn der Arbeitgeber den frei gewordenen Arbeitsplatz schon wieder mit einem anderen Arbeitnehmer besetzt hat (vgl. BAG vom 16.05.2007 - 7 AZR 621/06).



b) Nach diesen Grundsätzen ist das Arbeitsgericht zutreffend zu dem Ergebnis gekommen, dass die Voraussetzungen des allgemeinen Wiedereinstellungsanspruches hier nicht gegeben sind. Die Berufungskammer schließt sich den zutreffenden und sorgfältigen Gründen der Entscheidung des Arbeitsgerichts Essen vom 22.11.2013 insoweit in vollem Umfang an und macht sich diese gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG zu Eigen.



2. Der Kläger kann für sein Begehren jedoch wegen der durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte mit Urteil vom 23.09.2010 festgestellten Verletzung des Art 8 EMRK einen Wiedereinstellungsanspruch sui generis anführen, dessen Voraussetzungen in seinem Fall zu prüfen sind.



a) Besteht ein Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention fort, kann ein Anspruch auf Beseitigung des konventionswidrigen Zustandes gegeben sein, der von dem 2. Senates des Bundesverfassungsgerichtes in seinem Beschluss vom 14.10.2004 (vgl. BVerfG vom 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04 in NJW 2004, 3407) im Wesentlichen wie folgt hergeleitet wird:



"Die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle sind völkerrechtliche Verträge. Der Bundesgesetzgeber hat den genannten Übereinkommen jeweils mit förmlichem Gesetz gemäß Art. 59 Abs. 2 GG zugestimmt (Gesetz über die Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 7. August 1952, BGBl II S. 685; die Konvention ist gemäß der Bekanntmachung vom 15. Dezember 1953, BGBl 1954 II S. 14 am 3. September 1953 für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten; Neubekanntmachung der Konvention in der Fassung des 11. Zusatzprotokolls in BGBl 2002 II S. 1054). Damit hat er sie in das deutsche Recht transformiert und einen entsprechenden Rechtsanwendungsbefehl erteilt. Innerhalb der deutschen Rechtsordnung stehen die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Zusatzprotokolle - soweit sie für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft getreten sind - im Range eines Bundesgesetzes (vgl. BVerfGE 74, 358 <70>; 82, 106 <120>)."



Diese Rangzuweisung führt dazu, dass deutsche Gerichte die Konvention wie anderes Gesetzesrecht des Bundes im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben. Die Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihrer Zusatzprotokolle sind allerdings in der deutschen Rechtsordnung auf Grund dieses Ranges in der Normenhierarchie kein unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab (vgl. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG). Ein Beschwerdeführer kann insofern vor dem Bundesverfassungsgericht nicht unmittelbar die Verletzung eines in der Europäischen Menschenrechtskonvention enthaltenen Menschenrechts mit einer Verfassungsbeschwerde rügen (vgl. BVerfGE 74, 102 [BVerfG 13.01.1987 - 2 BvR 209/84] <128> m.w.N.; Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 2004 - 2 BvR 1570/03 -, EuGRZ 2004, S. 317 <318>). Die Gewährleistungen der Konvention beeinflussen jedoch die Auslegung der Grundrechte und rechtsstaatlichen Grundsätze des Grundgesetzes. Der Konventionstext und die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienen auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes, sofern dies nicht zu einer - von der Konvention selbst nicht gewollten (vgl. Art. 53 EMRK) - Einschränkung oder Minderung des Grundrechtsschutzes nach dem Grundgesetz führt (vgl. BVerfGE 74, 358 <370>; 83, 119 <128>; Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Dezember 2000 - 2 BvR 591/00 -, NJW 2001, S. 2245 ff.).



Eine besondere Bedeutung für das Konventionsrecht als Völkervertragsrecht haben die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, weil sich in ihnen der aktuelle Entwicklungsstand der Konvention und ihrer Protokolle widerspiegelt. Das Konventionsrecht selbst misst den Sachentscheidungen des Gerichtshofs unterschiedliche Rechtswirkungen zu. Nach Art. 42 und Art. 44 EMRK werden die Urteile des Gerichtshofs endgültig und erwachsen damit in formelle Rechtskraft. Die Vertragsparteien haben sich durch Art. 46 EMRK verpflichtet, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen. Aus dieser Vorschrift folgt, dass die Urteile des Gerichtshofs für die an dem Verfahren beteiligten Parteien verbindlich sind und damit auch begrenzte materielle Rechtskraft haben (vgl. H.-J. Cremer, in: Grote/Marauhn <Hrsg.>, Konkordanzkommentar, 2004, Entscheidung und Entscheidungswirkung, Rn. 56 f. m.w.N.).



Die materielle Rechtskraft im Individualbeschwerdeverfahren nach Art. 34 EMRK ist durch die personellen, sachlichen und zeitlichen Grenzen des Streitgegenstandes begrenzt (vgl. Beschluss des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts <Vorprüfungsausschuss> vom 11. Oktober 1985 - 2 BvR 336/85 - Pakelli, EuGRZ 1985, S. 654 <656>; siehe auch E. Klein, Binding effect of ECHR judgments, Festschrift für Ryssdal, 2000, S. 705 <706 ff.>). Das Konventionsrecht verfügt insoweit nicht über eine § 31 Abs. 1 BVerfGG vergleichbare Vorschrift, wonach alle Verfassungsorgane des Bundes und der Länder sowie alle Gerichte und Behörden an die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts gebunden sind. Art. 46 Abs. 1 EMRK spricht nur eine Bindung der beteiligten Vertragspartei an das endgültige Urteil in Bezug auf einen bestimmten Streitgegenstand aus (res iudicata).



Aus der Feststellung einer Konventionsverletzung folgt zunächst, dass die Vertragspartei nicht mehr die Ansicht vertreten kann, ihr Handeln sei konventionsgemäß gewesen (vgl. Frowein, in: Isensee/Kirchhof <Hrsg.>, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VII, 1992, § 180 Rn. 14). Die Entscheidung verpflichtet die betroffene Vertragspartei in Bezug auf den Streitgegenstand im Grundsatz ferner dazu, den ohne die festgestellte Konventionsverletzung bestehenden Zustand nach Möglichkeit wiederherzustellen (vgl. Polakiewicz, a.a.O., S. 97 ff.; zu den Möglichkeiten, das Ziel einer restitutio in integrum zu erreichen, siehe die Empfehlung des Ministerkomitees des Europarates Nr. R <2000> 2 vom 19. Januar 2000). Dauert die festgestellte Verletzung noch an - etwa im Fall der fortdauernden Inhaftierung unter Verstoß gegen Art. 5 EMRK oder eines Eingriffs in das Privat- und Familienleben unter Verstoß gegen Art. 8 EMRK -, so ist die Vertragspartei verpflichtet, diesen Zustand zu beenden (vgl. jüngst EGMR, No. 71503/01, Urteil vom 8. April 2004, Ziffer 198 - Assanidze , EuGRZ 2004, S. 268 <275>; siehe auch Breuer, EuGRZ 2004, S. 257 <259>; Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2003, § 16 Rn. 3; Polakiewicz, a.a.O., S. 63 ff.; Villiger, Handbuch der Europäischen Menschenrechtskonvention, 1999, § 13 Rn. 233). Insoweit würde die Vertragspartei durch die Nichtbeendigung oder Wiederholung ihres als konventionswidrig festgestellten Verhaltens gegenüber dem Beschwerdeführer erneut die Europäische Menschenrechtskonvention verletzen (vgl. E. Klein, Binding effect of ECHR judgments, Festschrift für Ryssdal, 2000, S. 705 <708>). Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass die Entscheidungswirkung nur auf die res iudicata bezogen ist und sich bis zu einem erneuten nationalen Verfahren unter Beteiligung des Beschwerdeführers die Sach- und Rechtslage entscheidend ändern kann.



Dass die Konvention allerdings der betroffenen Vertragspartei im Hinblick auf die Korrektur bereits getroffener, rechtskräftiger Entscheidungen Spielraum einräumt, zeigt sich darin, dass dem Beschwerdeführer durch den Gerichtshof eine "gerechte Entschädigung" in Geld zugesprochen werden kann, wenn das innerstaatliche Recht der betroffenen Vertragspartei nur eine unvollkommene Wiedergutmachung gestattet (vgl. Art. 41 EMRK).



Die Rechtswirkung einer Entscheidung des Gerichtshofs richtet sich nach den völkerrechtlichen Grundsätzen zunächst auf die Vertragspartei als solche. Die Konvention verhält sich grundsätzlich indifferent zur innerstaatlichen Rechtsordnung und soll anders als das Recht einer supranationalen Organisation nicht in die staatliche Rechtsordnung unmittelbar eingreifen. Innerstaatlich werden durch entsprechende Konventionsbestimmungen in Verbindung mit dem Zustimmungsgesetz sowie durch rechtsstaatliche Anforderungen (Art. 20 Abs. 3, Art. 59 Abs. 2 GG in Verbindung mit Art. 19 Abs. 4 GG) alle Träger der deutschen öffentlichen Gewalt grundsätzlich an die Entscheidungen des Gerichtshofs gebunden.



Die Bindungswirkung von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hängt von dem jeweiligen Zuständigkeitsbereich der staatlichen Organe und des einschlägigen Rechts ab. Verwaltungsbehörden und Gerichte können sich nicht unter Berufung auf eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte von der rechtsstaatlichen Kompetenzordnung und der Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) lösen. Zur Bindung an Gesetz und Recht gehört aber auch die Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Entscheidungen des Gerichtshofs im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung. Sowohl die fehlende Auseinandersetzung mit einer Entscheidung des Gerichtshofs als auch deren gegen vorrangiges Recht verstoßende schematische "Vollstreckung" können deshalb gegen Grundrechte in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip verstoßen.



Die über das Zustimmungsgesetz ausgelöste Pflicht zur Berücksichtigung der Gewährleistungen der Europäischen Menschenrechtskonvention und der Entscheidungen des Gerichtshofs erfordert zumindest, dass die entsprechenden Texte und Judikate zur Kenntnis genommen werden und in den Willensbildungsprozess des zu einer Entscheidung berufenen Gerichts, der zuständigen Behörde oder des Gesetzgebers einfließen. Das nationale Recht ist unabhängig von dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit dem Völkerrecht auszulegen (vgl. BVerfGE 74, 358 <370>).



Sind für die Beurteilung eines Sachverhalts Entscheidungen des Gerichtshofs einschlägig, so sind grundsätzlich die vom Gerichtshof in seiner Abwägung berücksichtigten Aspekte auch in die verfassungsrechtliche Würdigung, namentlich die Verhältnismäßigkeitsprüfung einzubeziehen, und es hat eine Auseinandersetzung mit den vom Gerichtshof gefundenen Abwägungsergebnissen stattzufinden (vgl. Beschluss der 1. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 1. März 2004 - 2 BvR 1570/03 -, EuGRZ 2004 S. 317 <319>).



Hat der Gerichtshof in einem konkreten Beschwerdeverfahren unter Beteiligung der Bundesrepublik Deutschland einen Konventionsverstoß festgestellt und dauert dieser Verstoß an, so ist die Entscheidung des Gerichtshofs im innerstaatlichen Bereich zu berücksichtigen, das heißt die zuständigen Behörden oder Gerichte müssen sich mit der Entscheidung erkennbar auseinander setzen und gegebenenfalls nachvollziehbar begründen, warum sie der völkerrechtlichen Rechtsauffassung gleichwohl nicht folgen. Gerade in Fällen, in denen staatliche Gerichte wie im Privatrecht mehrpolige Grundrechtsverhältnisse auszugestalten haben, kommt es regelmäßig auf sensible Abwägungen zwischen verschiedenen subjektiven Rechtspositionen an, die bei einer Änderung der Subjekte des Rechtsstreits oder durch eine Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse im Ergebnis anders ausfallen können. Es kann insofern zu verfassungsrechtlichen Problemen führen, wenn einer der Grundrechtsträger im Konflikt mit einem anderen einen für ihn günstigen Urteilsspruch des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen die Bundesrepublik Deutschland erstreitet und deutsche Gerichte diese Entscheidung schematisch auf das Privatrechtsverhältnis anwenden, mit der Folge, dass der insofern "unterlegene" und möglicherweise nicht im Verfahren vor dem Gerichtshof beteiligte Grundrechtsträger gar nicht mehr als Verfahrenssubjekt wirksam in Erscheinung treten könnte.



Bei einem Konventionsverstoß durch Gerichtsentscheidungen verpflichten weder die Europäische Menschenrechtskonvention noch das Grundgesetz dazu, einem Urteil des Gerichtshofs, in dem festgestellt wird, dass die Entscheidung eines deutschen Gerichts unter Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention zustande gekommen sei, eine die Rechtskraft dieser Entscheidung beseitigende Wirkung beizumessen (vgl. Bundesverfassungsgericht, EuGRZ 1985, S. 654). Daraus ist freilich nicht der Schluss zu ziehen, dass Entscheidungen des Gerichtshofs von deutschen Gerichten nicht berücksichtigt werden müssten.



Letztendlich ist ausschlaggebend, ob ein Gericht im Rahmen des geltenden Verfahrensrechts die Möglichkeit zu einer weiteren Entscheidung hat, bei der es das einschlägige Urteil des Gerichtshofs berücksichtigen kann. In solchen Fallkonstellationen wäre es nicht hinnehmbar, den Beschwerdeführer lediglich auf eine Entschädigung in Geld zu verweisen, obwohl eine Restitution weder an tatsächlichen noch an rechtlichen Gründen scheitern würde.



Bei der Berücksichtigung von Entscheidungen des Gerichtshofs haben die staatlichen Organe die Auswirkungen auf die nationale Rechtsordnung in ihre Rechtsanwendung einzubeziehen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich um ein in seinen Rechtsfolgen ausbalanciertes Teilsystem des innerstaatlichen Rechts handelt, das verschiedene Grundrechtspositionen miteinander zum Ausgleich bringen will.



Das Individualbeschwerdeverfahren nach Art. 34 EMRK vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist darauf ausgerichtet, konkrete Einzelfälle am Maßstab der Europäischen Menschenrechtskonvention und ihrer Zusatzprotokolle im zweiseitigen Verhältnis zwischen Beschwerdeführer und Vertragspartei zu entscheiden. Die Entscheidungen des Gerichtshofs können auf durch eine differenzierte Kasuistik geformte nationale Teilrechtssysteme treffen. In der deutschen Rechtsordnung kann dies insbesondere im Familien- und Ausländerrecht sowie im Recht zum Schutz der Persönlichkeit eintreten (siehe dazu jüngst EGMR, No. 59320/00, Urteil vom 24. Juni 2004 - von Hannover gegen Deutschland, EuGRZ 2004, S. 404 ff.), in denen widerstreitende Grundrechtspositionen durch die Bildung von Fallgruppen und abgestuften Rechtsfolgen zu einem Ausgleich gebracht werden. Es ist die Aufgabe der nationalen Gerichte, eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in den betroffenen Teilrechtsbereich der nationalen Rechtsordnung einzupassen, weil es weder der völkervertraglichen Grundlage noch dem Willen des Gerichtshofs entsprechen kann, mit seinen Entscheidungen gegebenenfalls notwendige Anpassungen innerhalb einer nationalen Teilrechtsordnung unmittelbar selbst vorzunehmen.



Bei der insoweit erforderlichen wertenden Berücksichtigung durch die nationalen Gerichte kann auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass das Individualbeschwerdeverfahren vor dem Gerichtshof, insbesondere bei zivilrechtlichen Ausgangsverfahren, die beteiligten Rechtspositionen und Interessen möglicherweise nicht vollständig abbildet. Verfahrensbeteiligte vor dem Gerichtshof ist neben dem Beschwerdeführer nur die betroffene Vertragspartei; die Möglichkeit einer Beteiligung Dritter an dem Beschwerdeverfahren (vgl. Art. 36 Abs. 2 EMRK) ist kein institutionelles Äquivalent für die Rechte und Pflichten als Prozesspartei oder weiterer Beteiligter im nationalen Ausgangsverfahren.



Auch auf der Ebene des Bundesrechts genießt die Konvention nicht automatisch Vorrang vor anderem Bundesrecht, zumal wenn es in diesem Zusammenhang nicht bereits Gegenstand der Entscheidung des Gerichtshofs war.



b) Nach diesen Grundsätzen ist im Rahmen des von dem Kläger geltend gemachten Wiedereinstellungsanspruches die von dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgestellte Verletzung des Art. 8 EMRK in der Weise zu beachten, dass sie möglichst beseitigt wird (vgl. BVerfG vom 14.10.2004 - 2 BvR 1481/04 a.a.O.). Dies bedeutet aber nicht, dass der durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte festgestellte Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention schematisch auf den zwischen dem Kläger und der Beklagten geführten Rechtsstreit über seine Wiedereinstellung zu übertragen ist (vgl. BVerfG vom 14.10.2004 - 2 BvR1481/04 a.a.O.). Art. 41 EMRK eröffnet insoweit einen gewissen Spielraum, denn er lässt eine gerechte Entschädigung in Geld zu, wenn das innerstaatliche Recht dem Beschwerdeführer nur eine unvollkommene Wiedergutmachung ermöglicht. Insbesondere in den Fällen, wo die beklagte Partei an dem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshoff für Menschenrechte - wie hier - nicht beteiligt gewesen ist und deswegen ihre Grundrechte dort nicht selbst hat vorbringen können, ist eine automatische Übertragung der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte auf das zwischen dem Beschwerdeführer und der beklagten Partei bestehende Privatrechtsverhältnis nicht ohne weiteres möglich, da auch die subjektiven Rechte und Grundrechte der vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht beteiligten Partei ihre Berücksichtigung finden müssen (vgl. BVerfG vom 14.10.2004 - 2 BvR1481/04 a.a.O.).



Die Beklagte war an dem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht beteiligt gewesen und hatte dort ihre Grundrechte deswegen nicht selbst vortragen können. Die Beklagte kann für sich insoweit in Anspruch nehmen, dass sie gemäß Artikel 140 GG in Verbindung mit den Artikeln 136 bis 139 und Artikel 141 der Weimarer Reichsverfassung ihre Angelegenheiten in den Schranken des für alle geltenden Gesetzes nach Maßgabe des Artikel 137 Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung nach ihrem Selbstverständnis regeln kann. Dies bedeutet, dass die Verfassungsgarantie den Kirchen ein Selbstbestimmungsrecht gewährleistet und dass diese bei der arbeitsvertraglichen Gestaltung des kirchlichen Dienstes das Leitbild einer christlichen Dienstgemeinschaft zugrunde legen können und die Verbindlichkeit kirchlicher Grundpflichten bestimmen können. Dies ist bei der Anwendung des Kündigungsschutzrechtes auf Kündigungen von Arbeitsverhältnissen wegen der Verletzung der sich daraus für die Arbeitnehmer ergebenden Loyalitätsobliegenheiten aus verfassungsrechtlichen Gründen zu berücksichtigen (vgl. BVerfG vom 04.06.1985 - 2 BvR 1703/83, 2 BvR 1718/83, 2 BvR 856/84 in NJW 1986, 367 [BVerfG 04.06.1985 - 2 BvR 1703/83]).



Hinzu kommt, dass die Beklagte neben ihrem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht auch den Grundsatz der Rechtssicherheit für sich in Anspruch nehmen kann. Dieser ist nicht nur zentraler Bestandteil der deutschen Rechtsordnung. Er genießt auch den Schutz der Europäischen Konvention zum Schutz für Menschenrechte und Grundfreiheiten (vgl. BAG vom 22.11.2012 - 2 AZR 570/11 in NZA-RR 2014, 91; BVerfG vom 08.10.1992 - 1 BvR 1262/92 in NJW 1993, 1125; EGMR vom 18.09.2007 - 52336/99 in KirchE 50, 160-179). Er kann eine Begrenzung der Verpflichtungen der Konventionsstaaten aus einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte rechtfertigen (vgl. BAG vom 22.11.2012 - 2 AZR 570/11 a.a.O.). Gerät im Einzelfall der Grundsatz der Rechtssicherheit mit dem Gebot der materiellen Gerechtigkeit in Widerstreit, so ist es Sache der Rechtsprechung, das jeweilige Gewicht, das diesen Prinzipien in der zu regelnden Konstellation zukommt, zu bemessen und darüber zu befinden, welchem der Vorzug gegeben werden muss. Bei überwiegendem Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens darf die Rechtsordnung in Kauf nehmen, dass eine materiell unrichtige Entscheidung für den fraglichen Einzelfall endgültig Bestand hat (vgl. BAG vom 22.11.2012 - 2 AZR 570/11a.a.O.; BVerfG vom 30.04.2003 - 1 PBvU 1/02 in BVerfGE 107, 395; BVerfG vom 08.10.1992 - 1 BvR 1262/92 a.a.O.).



c) Wegen des langen Zeitablaufes zwischen der mit der Kündigung vom 15.07.1997 zum 31.03.1998 ausgesprochenen Beendigung des Arbeitsverhältnisses und der erst mit Urteil vom 23.09.2010 festgestellten Verletzung des Art. 8 EMRK durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte überwiegt hier im Rahmen der Abwägung der Grundsatz der Rechtssicherheit.



Nach dem Ablauf der Kündigungsfrist bis zu der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte waren 12,5 Jahre verstrichen. Nach einer Zeitdauer von mehr als einem Jahrzehnt war es der Beklagten nicht mehr zumutbar, mit dem Kläger wieder ein Arbeitsverhältnis eingehen zu müssen.



Entgegen der Auffassung des Klägers konnte im Rahmen der Abwägung nicht zu Lasten der Beklagten berücksichtigt werden, dass sie seinerzeit mit der Kündigung vom 15.07.1997 einen riskanten Weg eingeschlagen haben soll, weil sie erstmalig über den seinerzeit etablierten Kündigungsgrund der Wiederverheiratung hinausgegangen sei und mit dem Kündigungsgrund des Ehebruchs und der Bigamie einen völlig neuen Kündigungsgrund habe schaffen wollen. Dieser Auffassung des Klägers steht das Urteil des 2. Senates des Bundesarbeitsgerichtes vom 16.09.1999 - 2 AZR 712/98 entgegen, mit welchem dieser im Falle des Klägers unter II. 5. b) der Entscheidungsgründe festgestellt hat, dass die Aufnahme einer neuen geschlechtlichen Beziehung eine schwerwiegende sittliche Verfehlung im Sinne von Art. 5 Abs. 2 1. Alt. der GrO darstellt und damit als Kündigungsgrund im Sinne von § 1 Abs. 2 KSchG geeignet ist.



Der 2. Senat hat hier insbesondere ausgeführt, dass die Rechtsansicht des Klägers, aus dem Bereich des Zusammenlebens zwischen Mann und Frau sei allein die Wiederheirat, also der Abschluss einer nach dem Glaubensverständnis und der Rechtsordnung der Kirche ungültigen Ehe als schwerwiegende persönliche sittliche Verfehlung anzusehen, sich weder der Grundordnung, die allgemein auf die von einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter zu erfüllenden Obliegenheiten abstellt, noch den von dem Kläger zitierten kirchenrechtlichen Vorschriften oder den genannten Beispielsfällen entnehmen lässt. Zusätzlich hat der 2. Senat hervorgehoben, dass er bereits in seinem Urteil vom 24.04.1997 - 2 AZR 268/96 in NZA 1998, 145 darauf hingewiesen hat, dass nach katholischem Kirchenrecht der Ehebruch jedenfalls als schwerwiegendes Fehlverhalten zu betrachten ist. Des Weiteren hat der 2. Senat betont, dass der Kläger sich auf eine Gleichbehandlung mit den kirchlichen Arbeitnehmern, denen nach seinem Vorbringen bei einem ähnlichen Fehlverhalten nicht sofort gekündigt worden sei, nicht berufen könne, da er aufgrund seiner Stellung als Mitarbeiter im liturgischen Dienst schon von seiner Tätigkeit her mit den von ihm benannten kirchlichen Mitarbeitern nicht vergleichbar sei.



Der 2. Senat hatte damit den Kündigungssachverhalt, welcher dem Kläger vorgeworfen wurde, in vollem Umfang als einen für eine verhaltensbedingte Kündigung gemäß § 1 Abs. 2 KSchG geeigneten Sachverhalt angesehen. Nach der zweiten Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Düsseldorf vom 03.02.2000 - 7 Sa 425/98, mit welcher die Beendigung des Arbeitsverhältnisses zum 31.03.1998 festgestellt worden ist, durfte sich die Beklagte wegen der von dem 2. Senat des Bundesarbeitsgerichts geäußerten Rechtsauffassung darauf verlassen, dass die von ihr ausgesprochene Kündigung zu einer dauerhaften und auch eine Wiedereinstellung des Klägers ausschließenden Beendigung des Arbeitsverhältnisse geführt hat. Bestätigt wurde die Beklagte in ihrer Annahme dadurch, dass mit Beschluss vom 29.05.2000 eine Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichtes Düsseldorf vom 03.02.2000 - 7 Sa 425/98 durch das Bundesarbeitsgericht zurückgewiesen worden war und das Bundesverfassungsgericht am 08.07.2002 die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision mangels hinreichender Aussicht auf Erfolg nicht zur Entscheidung angenommen hat, da die angegriffene Entscheidung keinen verfassungsrechtlichen Bedenken begegne.



Gegen das Vertrauen der Beklagten in eine dauerhafte Beendigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers spricht nicht, dass diese über ein Jahrzehnt es hingenommen hat, dass die von dem Kläger zwecks Vermeidung der Verjährung eingereichten Annahmeverzugsklagen jeweils ruhend gestellt worden sind. Der Kläger hat zwar behauptet, dass die Beklagte dabei als sicher davon ausgegangen sei, dass sie ihn im Falle eines erfolgreichen Verfahrens vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weiterbeschäftigen müsse. Die Beklagte musste nach dem Urteil des 2. Senates des Bundesarbeitsgerichts vom 16.09.1999 - 2 AZR 712/98, des Beschlusses des Bundesarbeitsgerichts über die Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des Landesarbeitsgerichtes Düsseldorf vom 03.02.2000 - 7 Sa 425/98 und der am 08.07.2002 erfolgten Nichtannahme seiner Beschwerde bei dem Bundesverfassungsgericht aber nicht davon ausgehen, dass der Kläger vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte überhaupt erfolgreich sein wird.



Zwar hat der Kläger die lange Verfahrensdauer vor dem Europäischen Gerichtshoff für Menschenrechte nicht zu verantworten. Dies gilt jedoch gleichermaßen für die Beklagte, zumal sie an dem Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nicht einmal beteiligt gewesen war.



Auch ist davon auszugehen, dass den Kläger die gegen Art. 8 EMRK verstoßende Kündigung vom 15.07.1997 weiterhin hart trifft, da er seinen Beruf in der bei der Beklagten ausgeübten Form als A-Kirchenmusiker in Vollzeit nicht ausüben kann. Dies vermag jedoch das durch den langen Zeitablauf bei der Beklagten im Rahmen der Rechtssicherheit ebenfalls zu berücksichtigende Vertrauen in ein dauerhaftes Ende des Arbeitsverhältnisses ohne Wiedereinstellung nicht zu verdrängen, denn der Verstoß gegen Art. 8 EMRK wird auf Seiten des Klägers - wenn auch nicht ausgeglichen - so doch zumindest dadurch abgemildert, dass ihm gemäß Art. 41 EMRK eine Entschädigung in Höhe von 40.000 € zugesprochen worden ist. Nach einer Beschäftigungsdauer des Klägers vom 15.11.1983 bis zum 31.03.1998 unterschreitet diese Abfindung nicht die üblichen Höhe, wie sie auch von § 1a Abs. 2 KSchG vorgesehen ist.



III.



Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 64 Abs. 6 ArbGG, 525, 97 Abs. 1 ZPO. Danach hat die in vollem Umfang unterliegende Partei die gesamten Kosten des Rechtsstreits zu tragen.



IV.



Die Revision war gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Verfahrens zuzulassen.

Vorschriften

Sprechen Sie uns an!

Kundenservice
Max-Planck-Str. 7/9
97082 Würzburg
Tel. 0931 4170-472
kontakt@iww.de

Garantierte Erreichbarkeit

Montag - Donnerstag: 8 - 17 Uhr
Freitag: 8 - 16 Uhr