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25.11.2015 · IWW-Abrufnummer 145865

Oberlandesgericht Hamm: Beschluss vom 20.08.2015 – 5 RVs 102/15

Ein Mitverschulden des Unfallgegners kann die Vorhersehbarkeit eines Unfalls und seiner Folgen für den Unfallverursacher ausschließen, wenn das Mitverschulden in einem gänzlich vernunftwidrigen oder außerhalb der Lebenserfahrung liegenden Verhalten besteht.


OLG Hamm
Beschluss v. 20. 8. 2015
5 RVs 102/15
In pp.
Das angefochtene Urteil wird mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision und der Nebenklage, an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Essen zurückverwiesen.
Gründe:
I.
Das Amtsgericht Essen-Steele hat den Angeklagten wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung zu einer Freiheitsstrafe von 8 Monaten verurteilt und die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt. Außerdem hat das Amtsgericht dem Angeklagten für die Dauer von 3 Monaten verboten, im Straßenverkehr Kraftfahrzeuge jeglicher Art zu führen.
Auf die gegen seine Verurteilung gerichtete Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Essen das amtsgerichtliche Urteil dahin abgeändert, dass der Angeklagte zu einer Freiheitsstrafe von 6 Monaten mit Bewährung verurteilt worden ist. Auch das Landgericht hat dem Angeklagten für die Dauer von 3 Monaten verboten, im Straßenverkehr Kraftfahrzeuge jeder Art zu führen.
Das Landgericht hat in der Sache folgende Feststellungen getroffen:
„Am Morgen des ####2012 befuhr der Angeklagte gegen 11:00 Uhr die I-Straße aus I2 kommend in Richtung Bundesautobahn A ## mit seinem Transporter C, amtliches Kennzeichen #########. Er näherte sich der nach allen Seiten gut einsehbaren, beampelten Kreuzung I-Straße/M-Straße, welche er geradeaus überqueren wollte. Für den Angeklagten galt eine Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h. Er fuhr mindestens 65 km/h.
Gleichzeitig näherte sich der Zeuge X aus Sicht des Angeklagten von links kommend mit seinem Pkw D, amtliches Kennzeichen ########, von der Autobahnabfahrt der A ## aus Richtung Bochum kommend der Kreuzung, welche er ebenfalls aus seiner Sicht geradeaus überqueren wollte. Beifahrer des Zeugen X war X2. Auch für den Zeugen X galt eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 km/h. Der Zeuge X fuhr etwa 30 km/h.
Der sich der Kreuzung nähernde Angeklagte nahm den ebenfalls auf die Kreuzung zu fahrenden D wahr. Er ging davon aus, dass dieser an der Kreuzung halten werde.
Beide Fahrzeugführer überfuhren jedoch mit nur ganz geringem zeitlichem Abstand die jeweils für sie geltende Haltelinie an der Kreuzung. Welcher der beiden Fahrzeugführer dabei einen Rotlichtverstoß beging, lässt sich nicht klären. Die Kammer geht zu Gunsten des Angeklagten davon aus, dass der Zeuge X über rot fuhr. Dabei war angesichts der guten Einsehbarkeit der Kreuzung und der fehlenden Einstauchung des D mangels Abbremsens kurz vor dem Überfahren der Haltelinie erkennbar, dass der Zeuge X in die Kreuzung einfahren würde.
Der Angeklagte nahm den D erst wieder wahr, als sich beide Wagen auf der Kreuzung befanden. Er bremste den Transporter ab, konnte aber eine Kollision der Fahrzeuge nicht mehr verhindern. Der Transporter traf mit großer Wucht auf die rechte Fahrzeugseite des Ds. Der Transporter wurde um 90° nach rechts verdreht und kam auf einer Mittelinsel zum Stehen. Der D wurde seitlich nach links ausgelenkt und kam auf einem Randstreifen zum Stehen.
Wäre der Angeklagte zu dem Zeitpunkt, in dem der Zeuge X die Haltelinie überfuhr und zugleich er – der Angeklagte – spätestens hätte bremsen müssen, um die Kollision zu vermeiden, nicht schneller als 50 km/h gefahren, wäre er 0,7 Sekunden später am Kollisionsort angekommen. Der D wäre in diesem Fall bereits 6 m weiter über die Kreuzung gefahren gewesen, so dass es zu keiner Berührung der Wagen gekommen wäre.
X2 wurde durch den Unfall schwer verletzt. Er starb am 17.5.2012 an den Unfallfolgen.

Der Zeuge X erlitt Verletzungen im Brust- und Nackenbereich. Er befand sich kurzzeitig im Krankenhaus und wurde sodann von seinem Hausarzt weiterbehandelt.“
Das Landgericht hat die Feststellungen zum Unfallgeschehen auf der Grundlage der Einlassung des Angeklagten, der Aussagen zweier Unfallzeugen sowie den Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dipl.-Ing. T in T2 getroffen. Der Zeuge X hatte sich auf sein Auskunftsverweigerungsrecht nach § 55 StPO berufen. Die Kammer hat einen ursächlichen Zusammenhang zwischen dem verkehrswidrigen Verhalten des Angeklagten (Geschwindigkeitsüberschreitung) und dem Unfall angenommen und hierauf aufbauend eine Strafbarkeit wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung angenommen. Der Angeklagte sei als Kraftfahrer auch dann strafrechtlich verantwortlich, wenn allein durch die Beachtung der Geschwindigkeitsbegrenzung im Zeitpunkt des Eintritts der kritischen Situation der Unfall vermieden worden wäre. Der Unfall sei auch nicht unvorhersehbar gewesen. Zwar sei in der Rechtsprechung anerkannt, dass ein Mitverschulden geeignet sei, die Vorhersehbarkeit des Unfalls für den Täter auszuschließen, wenn es in einem gänzlich vernunftwidrigen Verhalten bestünde. Ein Rotlichtverstoß eines anderen Verkehrsteilnehmers sei jedoch kein gänzlich vernunftwidriges Verhalten.
Der Angeklagte hat gegen das Urteil Revision eingelegt und diese unter näheren Ausführungen mit der Verletzung materiellen Rechts begründet. Unabhängig von der allgemein erhobenen Sachrüge beanstandet er konkret die Wertung des Landgerichts, den Rotlichtverstoß des Zeugen X nicht als gänzlich vernunftwidriges Verhalten einzustufen.
Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, die Revision als unbegründet zu verwerfen.
II.
Die Revision des Angeklagten ist zulässig und hat auch in der Sache – zumindest vorläufig – Erfolg.
Zwar ist das Landgericht mit Recht davon ausgegangen, dass nach den getroffenen Feststellungen unzweifelhaft ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem verkehrswidrigen Verhalten des Angeklagten (Geschwindigkeitsüberschreitung um mindestens 15 km/h) und dem Verkehrsunfall einschließlich der eingetretenen Tatfolgen nach §§ 222, 229 StGB besteht. Jedoch reichen die bisher getroffenen Feststellungen nicht aus, um ein gänzlich vernunftwidriges Verhalten des Unfallgegners – hier des Zeugen X – auszuschließen, das unter dem Gesichtspunkt eines überwiegenden Mitverschuldens der Vorhersehbarkeit des Unfalls entgegen stünde.
1. Das Landgericht hat rechtsfehlerfrei angenommen, dass die eingetretenen Tatfolgen im Sinne der §§ 222, 229 StGB durch Fahrlässigkeit des Angeklagten verursacht worden sind. Der Zurechnungszusammenhang kann nicht angezweifelt werden.
Nach gefestigter Rechtsprechung ist dieser Zusammenhang in den Fällen einer Geschwindigkeitsüberschreitung zu bejahen, wenn sich der Unfall nicht ereignet hätte, wäre der Fahrzeugführer – hier der Angeklagte – bei Eintritt der kritischen Verkehrssituation nicht mit einer höheren als der zugelassenen Geschwindigkeit gefahren. Das ist einmal dann der Fall, wenn das Fahrzeug bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit noch rechtzeitig hätte abgebremst werden können. Jedoch ist der Erfolg auch dann zurechenbar, wenn der schließlich Geschädigte die spätere Unfallstelle zu dem Zeitpunkt bereits passiert gehabt hätte, zu dem der Beschuldigte bei Einhaltung der zulässigen Geschwindigkeit am Unfallort eingetroffen wäre; denn auch in einem solchen Fall verwirklichen sich die Gefahren des Fahrens mit überhöhter Geschwindigkeit, vor denen die Geschwindigkeitsregeln gerade schützen sollen (vgl. grundlegend BGHSt 33, 61, 66; BGH, VRS 54, 436, 437; zustimmend König, in Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 43. Aufl., § 229 StGB Rdnr. 17; Fischer, StGB, 62. Aufl., Vor § 13 Rdnr. 33).
Im vorliegenden Fall konnte die Strafkammer auf der Grundlage der Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dipl.-Ing. T zweifelsfrei feststellen, dass der Angeklagte 0,7 Sekunden später am Kollisionsort angekommen wäre, sofern er bei Eintritt der kritischen Verkehrssituation – als der Zeuge X die Haltelinie überfuhr – nur mit der zugelassenen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h gefahren wäre. Dann wäre es nicht zur Kollision mit den – für den Beifahrer letztlich sogar tödlichen i– Verletzungsfolgen gekommen.
Damit steht der Zurechnungszusammenhang als solcher außer Frage.
2. Allerdings reichen die bislang getroffenen Feststellungen nicht aus, um ein gänzlich vernunftwidriges Verhalten des Unfallgegners – hier des Zeugen X – auszuschließen, das unter dem Gesichtspunkt eines überwiegenden Mitverschuldens der Vorhersehbarkeit des Unfalls und damit auch der Vorhersehbarkeit der eingetretenen Tatfolgen entgegen stünde.
Ein Mitverschulden des Unfallgegners ist dann geeignet, die Vorhersehbarkeit eines Unfalls für den Beschuldigten einer fahrlässigen Tötung oder einer fahrlässigen Körperverletzung auszuschließen, wenn es in einem gänzlich vernunftwidrigen oder außerhalb der Lebenserfahrung liegenden Verhalten besteht (vgl. BGHSt 12, 75, 78; KG, NZV 2015, 45; s. auch Fischer, a.a.O., § 15 Rdnr. 16c).
Hierzu hat die Strafkammer ausgeführt, ein Rotlichtverstoß eines anderen Verkehrsteilnehmers sei kein gänzlich vernunftwidriges Verhalten. Vielmehr kämen solche Verstöße mit einiger Regelmäßigkeit im Straßenverkehr vor, sie beruhten häufig auf Unaufmerksamkeit oder auch auf Rücksichtslosigkeit, seien aber nicht gänzlich vernunftwidrig. Dieser Bewertung, die gleichsam alle denkbaren Rotlichtverstöße pauschal als „nicht gänzlich vernunftwidrig“ einstuft, kann allerdings nicht gefolgt werden. Rotlichtverstöße im Sinne des § 37 StVO können je nach Begehungsart unterschiedlich ausgestaltet sein. Ein wesentliches Kriterium für die Bewertung eines Rotlichtverstoßes – gerade mit Blick auf die Rechtsfolgen – ist die Frage, wie lange die Ampel im Zeitpunkt des Verstoßes schon Rotlicht angezeigt hatte. Der sog. qualifizierte Rotlichtverstoß (länger als 1 Sekunde Rot) ist bereits durch § 4 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BKatV i.V.m. Nr. 132.3 als grobe Verletzung der Pflichten eines Kraftfahrzeugführers im Sinne des § 25 Abs. 1 Satz 1 StVG normativ vorbewertet (vgl. auch BVerfG, NJW 1996, 1809, 1810). Darüber hinaus ist hinsichtlich der Bewertung eines Rotlichtverstoßes auch nach der Schuldform zu unterschieden, wobei – hier gelten die allgemeinen Regeln – eine vorsätzliche Begehung deutlich schwerer wiegt als ein fahrlässiger Verstoß. Zumindest eine vorsätzliche Begehung eines qualifizierten Rotlichtverstoßes ist bei wertender Betrachtung als gänzlich vernunftwidriges Verhalten im vorbeschriebenen Sinne anzusehen.
Für den vorliegenden Fall kommt es demnach entscheidend darauf an, ob sich hinsichtlich des stattgefundenen Rotlichtverstoßes nähere Feststellungen treffen lassen. Die Strafkammer hat aufgrund der durchgeführten Beweisaufnahme keine sicheren Feststellungen dazu treffen können, ob der Angeklagte oder der Unfallgegner – der Zeuge X – bei Rotlicht in die Kreuzung eingefahren sind. Vor diesem Hintergrund ist das Landgericht mit Recht unter Heranziehung des Zweifelsgrundsatzes zugunsten des Angeklagten davon ausgegangen, dass der Zeuge X bei Rot gefahren ist. Allerdings muss auch ein Zweifel, ob ein gänzlich vernunftwidriges Verhalten des Unfallgegners anzunehmen ist, nach dem Grundsatz in dubio pro reo zugunsten des Angeklagten berücksichtigt werden. Sofern also nicht sicher ausgeschlossen werden kann, dass der Zeuge X vorsätzlich einen qualifizierten Rotlichtverstoß begangen hat, muss zugunsten des Angeklagten ein gänzlich vernunftwidriges Verhalten des Unfallgegners unterstellt und die Vorhersehbarkeit des Unfalls für den Angeklagten verneint werden.
Der Senat hält es für möglich, dass hinsichtlich der Qualifizierung des Rotlichtverstoßes noch weitere Feststellungen getroffen werden können. Die Sache bedarf somit in Bezug auf den Schuldspruch wegen fahrlässiger Tötung in Tateinheit mit fahrlässiger Körperverletzung und damit einhergehend auch bezüglich der Rechtsfolgenentscheidung neuer Verhandlung und Entscheidung.
Unabhängig von den vorstehenden Ausführungen kann das nach § 44 StGB angeordnete Fahrverbot nicht bestehen bleiben. Zum einen durfte der prozessual zulässige Versuch des Angeklagten, sein Verhalten im Rahmen des letzten Wortes als nicht strafwürdig darzustellen, nicht als Uneinsichtigkeit zu seinen Lasten zur Begründung des Fahrverbots herangezogen werden (vgl. König, in: Hentschel/König/Dauer, a.a.O., § 44 StGB Rdnr. 6). Zum anderen kann das Fahrverbot aufgrund des langen Zeitablaufs – seit der Tat sind nunmehr über 3 ¼ Jahre vergangen, in denen der Angeklagte nicht erneut wegen Straftaten oder Verkehrsordnungswidrigkeiten auffällig geworden ist – seine spezialpräventive Funktion nicht mehr erfüllen und ist daher nicht mehr geboten. Der Richtwert für ein beanstandungsfreies Fahren liegt bei 2 Jahren (vgl. nur OLG Köln, VRS 109, 338) und ist hier bereits deutlich überschritten, wobei die Verfahrensdauer nicht etwa auf durch den Angeklagten bewirkte Verzögerungen zurückzuführen ist.
III.
Aufgrund der aufgezeigten Rechtsmängel war das angefochtene Urteil mit den zugrunde liegenden Feststellungen nach § 349 Abs. 4 StPO aufzuheben und die Sache an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Essen zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten der Revision und der Nebenklage – nach § 354 Abs. 2 StPO zurückzuverweisen.

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