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24.04.2014 · IWW-Abrufnummer 141263

Arbeitsgericht Gelsenkirchen: Urteil vom 21.01.2014 – 1 Ca 2158/13

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


Arbeitsgericht Gelsenkirchen

1 Ca 2158/13

Tenor:

1. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Auskunft über die Höhe der in den Toilettenanlagen des

Centro P in den Monaten Juli, August und September 2013 vereinnahmten Trinkgelder zu erteilen.

2. Die Kostenentscheidung bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.

3. Der Gegenstandswert beträgt für dieses Teilurteil 3.000,00 Euro.

T a t b e s t a n d
3

Die Parteien streiten über die Frage, ob der Kläger an von der Beklagten vereinnahmten Geldbeträgen zu beteiligen ist, weil es sich dabei um „Trinkgelder“ für das Reinigungs- und Aufsichtspersonal gehandelt hat.
4

Der 1956 geborene, verheiratete Kläger war seit dem 21.11.2005 bei der Beklagten, einem Unternehmen des Gebäudereinigungs- und Gebäudedienstleistungsgewerbes mit regelmäßig mehr als 10 Beschäftigten, als Reiniger beschäftigt. Er erzielte einen Stundenlohn in Höhe von zuletzt 9,00 € brutto, woraus im Jahr 2013 ein monatliches Einkommen in Höhe von durchschnittlich rund 1.100,00 € brutto resultierte. Das Arbeitsverhältnis endete durch die Kündigung des Klägers vom 2.9.2013 mit dem 17.9.2013. Der Kläger war, wie seine seit dem Jahr 2006 ebenfalls bei der Beklagten beschäftigte Ehefrau, die im Rahmen des parallel anhängigen Verfahrens 1 Ca 1603/13 gleichartige Ansprüche verfolgt, Mitglied des bei der Beklagten gewählten Betriebsrats.
5

Der Einsatz des Klägers erfolgte ständig im Einkaufszentrum Centro P, mit deren Betreiberin die Beklagte seit Jahren in laufender Vertragsbeziehung steht. Der Beklagten obliegt dort die Reinigung der 4 öffentlichen für die Kunden und Besucher vorgehaltenen Toilettenanlagen sowie die Sauberhaltung weiterer Flächen, etwa im Cateringbereich. In den Sommermonaten 2013 bestand das von der Beklagten im Centro P eingesetzte Team aus insgesamt 12 Aufsichtspersonen, sog. „Sitzerinnen“, und 8 Reinigungskräften. Die „Sitzerinnen“, die eine Stundenvergütung von 5,20 € erhalten, führen selbst keine Reinigungstätigkeiten aus.
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Das Centro P erhebt von den Kunden/Besuchern für die Nutzung der Toilettenanlagen kein Entgelt. Gleichwohl sind in den Eingangsbereichen der 4 Toilettenanlagen auf dort vorgehaltenen Tischen Sammelteller aufgestellt, auf denen die Toilettenbesucher einen Geldbetrag hinterlassen können. Hauptaufgabe der „Sitzerinnen“ ist es, sich ständig – zumeist sitzend – an einem dieser Tische mit Sammelteller aufzuhalten, dabei stets einen sauberen weißen Kittel zu tragen, das Geld, welches die Toilettenbesucher freiwillig auf die Teller legen, regelmäßig bis auf wenige Geldstücke abzuräumen, zunächst in die eigene Kitteltasche zu stecken und je nach Aufkommen mehrmals je Schicht in einen Tresor einzulegen. Darüber hinaus haben sie die Toilettenanlagen zu kontrollieren und im Bedarfsfall das Reinigungspersonal über Funk zu rufen.
7

Nach einer schriftlichen Arbeitsanweisung der Beklagten („Leitfaden“ für das Aufsichtspersonal, Stand 13.3.2013), auf die der Einzelheiten wegen Bezug genommen wird, sind die „Sitzerinnen“ ausdrücklich gehalten, Blickkontakt zu den Besuchern aufzunehmen, die dort als „Trinkgeld“ bezeichneten Geldbeträge – auch in die eigene Hand – dankend entgegen zu nehmen oder bei Bedarf zu wechseln und dabei gegenüber den Besuchern nicht zu offenbaren, dass sie selbst keine Reinigungstätigkeiten ausüben.
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Bei etwaigen Fragen der Besucher nach dem Verwendungszweck des Geldes, der bereits in den Jahren 2008/2009 unter Überschriften wie „WC-Personal muss Trinkgeld abgeben“ Gegenstand der Berichterstattung in regionalen Printmedien war, ist nach dem „Leitfaden“ auf die gemeinsamen Hinweisschilder von Centro P und der Beklagten, die nach dem Vorbringen der Beklagten im Nahbereich der Sammelteller, nach Angaben des Klägers an kaum einsehbarer Stelle hinter stets geöffneten Türen angebracht waren, zu verweisen. Nach diesen Hinweisschildern (Stand Januar 2009, Bl. 31 d. A.) fließt ein für die Benutzung der Toiletten freiwillig gegebener „Obulus“ der Beklagten zu, die selbigen „für die Reinigung und den Unterhalt der Toilettenanlagen“ verwendet, womit er „auch der Entlohnung des hierfür eingesetzten Personals“ dient.
9

Hinsichtlich dieser Hinweisschilder ist unstreitig, dass selbige im Laufe des Jahres 2012 ersatzlos demontiert worden sind.
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Nach Angaben der Beklagten erfolgte dies gegen Ende 2012 im Zuge von Umbau- und Renovierungsarbeiten. Die dafür verantwortliche Centro-Betreiberin habe bereits Ersatzschilder in Auftrag gegeben. Diese waren jedenfalls zum Zeitpunkt der Güteverhandlung (28.11.2013) aber noch nicht montiert.
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Mit seiner am 22.10.2013 bei Gericht eingegangen, am 6.11.2013 zugestellten Klage macht der Kläger geltend, dass er an den in den Monaten Juli bis September 2013 über die Sammelteller im Centro P erzielten Einnahmen der Beklagten teilhaben müsse. Den Besuchern werde zielgerichtet suggeriert, dass freiwillig ein Trinkgeld für das Reinigungs- und Aufsichtspersonal gegeben werde könne. An diese mit der freiwilligen Hingabe von kleineren Geldbeträgen verbundene Zweckbestimmung sei die Beklagte gebunden.
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Trinkgeld stehe nach Maßgabe gewerbe- und steuerrechtlicher Bestimmungen allein den Arbeitnehmern zu. Die Beklagte sei aufgrund vertraglicher Nebenpflichten oder bei entsprechender Anwendung von Bestimmungen des Auftragsrechts verpflichtet, für das Personal bestimmtes Trinkgeld zweckgerecht weiterzuleiten.
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Da er nicht wissen könne, wie hoch genau die Einnahmen gewesen seien, habe die Beklagte im Rahmen einer Stufenklage zunächst Auskunft über die Höhe der Trinkgeldeinnahmen zu erteilen. Von dem Gesamtbetrag stehe ihm unter Berücksichtigung der im Centro P vorgehaltenen Personalstärke ein Anteil von 1/20 zu. Er gehe davon aus, dass an normalen Tagen bis zu eintausend, an Spitzentagen mehrere tausend Euro über die Teller erwirtschaftet werden.
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Der Kläger, die einen weiteren auf Abrechnung des Trinkgelds gerichteten Antrag im Kammertermin zurückgenommen hat, beantragt,
15

1.16

die Beklagte im Wege der Stufenklage zu verurteilen, ihm Auskunft über die Höhe der in den Toilettenanlagen des Centro P vereinnahmten Trinkgelder in den Monaten Juli, August und September 2013 zu erteilen.

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2.18

Nach erteilter Auskunft die Beklagte zu verurteilen, die Richtigkeit der Auskunft gemäß Klageantrag zu 1. an Eides statt zu versichern,

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3.20

die Beklagte zu verurteilen, an ihn 1/20 des sich aus der gemäß Klageantrag zu 1. erteilten Auskunft ergebenden Gesamtbetrages nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte, die ein entsprechendes außergerichtliches Geltendmachungsschreiben des Klägers vom 30.9.2013 unbeantwortet ließ, hält die Klage für insgesamt unbegründet. An den über die Sammelteller erzielten Einnahmen sei der Kläger unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu beteiligen. Nach den Grundsätzen des Geschäftes für den, den es angeht habe vielmehr sie Eigentum an den Geldern erworben.
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Der Einsatz des Aufsichtspersonals diene dem Wohlbefinden und der Sicherheit der Toilettenbesucher und werde vom Centro P ohne eigene adäquate Gegenleistung verlangt, wofür im Gegenzug die Einnahmemöglichkeit über die Sammelteller eröffnet sei. Die dortigen „Sitzerinnen“ hätten stets in dem Wissen gehandelt, dass die vereinnahmten Geldbeträge ausschließlich ihr, der Beklagten, zufließen sollen, was als solches unstreitig ist. Genau dafür hätten diese ihre Vergütung erhalten, die – neben sonstigen Kosten – aus eben diesen Einnahmen bestritten worden sei. Es sei daher nicht nachvollziehbar, nunmehr dieses Geld zusätzlich unter dem Gesichtspunkt der Trinkgeldleistung zu beanspruchen. Dafür fehle es an einer Anspruchsgrundlage. Arbeitsaufgabe des Klägers sei zudem nicht lediglich die Reinigung der Toilettenanlagen, sondern auch die Pflege sonstiger Flächen und Räume gewesen.
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Bei den Einnahmen handle es sich im Übrigen – auch nach der Vorstellung der Toilettenbesucher – nicht um ein Trinkgeld im herkömmlichen Sinne, sondern vielmehr um ein freiwilliges Nutzungsentgelt.
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Dieses stehe allein ihr als Reinigungsdienstleisterin zu, worüber man die Besucher durch die Hinweisschilder unmissverständlich aufgeklärt habe. Durch den jahrelangen Aushang der Hinweisschilder habe sich ein entsprechendes Bewusstsein der Besucher entwickelt.
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Hinsichtlich des Sach- und Streitstandes im Übrigen wird ergänzend auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, deren Inhalt Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 21.1.2014 war, Bezug genommen.
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E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
29

Die zunächst mit dem Auskunftsantrag zur Entscheidung stehende Klage hat insoweit in der Sache Erfolg.
30

I.
31

Der vom Kläger in ein Stufenverhältnis gestellte Auskunftsantrag zu 1. ist zulässig und begründet. Die Anträge zu 2. und 3. stehen daher noch nicht zur Entscheidung an.
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Der Kläger hat einen Anspruch auf Auskunft über die Höhe der in den Monaten Juli bis September 2013 über die Sammelteller im Centro P erzielten Einnahmen gegen die Beklagte aus § 611 Abs. 1 BGB i.V.m. § 107 Abs. 3 S. 2 GewO, da es sich nach der stillschweigenden Zweckbestimmung der die Geldbeträge hingebenden Personen tatsächlich um für das Personal bestimmtes Trinkgeld gehandelt hat.
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1. Der Auskunftsantrag ist als Antrag der 1. Stufe im Rahmen einer Stufenklage nach § 254 ZPO zulässig, da – wie noch auszuführen ist – dem Kläger ein noch nicht bezifferbarer Leistungsanspruch gegen die Beklagte aus dem beendeten Arbeitsverhältnis zusteht, zu dessen Konkretisierung und Durchsetzung er zunächst auf die durch die Auskunft zu erlangenden Angaben angewiesen ist.

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Der Auskunftsantrag ist i.S.d. § 253 Abs. 2 Nr. 2 ZPO hinreichend bestimmt, da aus dem Klageantrag eindeutig und abgrenzbar erkennbar ist, welchen Teil ihrer Einnahmen die Beklagte bezogen auf einen genau umrissenen Zeitraum offenlegen soll.
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2. Der Antrag ist nach § 611 Abs. 1 BGB i.V.m. §§ 241 Abs. 2, 242, 260 BGB und § 107 Abs. 3 S. 2 GewO begründet.

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a. Das Arbeitsverhältnis als ein auf Dauer angelegtes Schuldverhältnis des Privatrechts begründet nicht lediglich gegenseitige Leistungspflichten, sondern zugleich – wie in § 241 Abs. 2 BGB ausdrücklich angesprochen – Verhaltenspflichten beider Parteien, die in der arbeitsrechtlichen Praxis unter den Oberbegriffen Fürsorge (Arbeitgeber) und Treue (Arbeitnehmer) zusammengefasst werden. Der Arbeitgeber ist danach – im Sinne einer vertraglichen Nebenpflicht – gehalten, auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen der Arbeitnehmer Rücksicht zu nehmen. Ihm erwachsen daraus Schutz-, Sorgfalts- und Auskunftspflichten, deren Verletzung dem Arbeitnehmer klagbare Erfüllungs- und Unterlassungsansprüche vermittelt (Schaub/Koch, Arbeitsrechtshandbuch, 15. Auflage 2013, § 106, Rn 9-11 m. w. N.).

40

Eine in diesem Sinne umfassend begründete Fürsorgepflicht beinhaltet nach Auffassung der Kammer auch Aspekte der Vermögenssorge. Der Arbeitgeber ist deshalb unter allein schuldrechtlichen Gesichtspunkten gehalten, nach dem Willen Dritter für seine Arbeitnehmer bestimmtes, angenommenes, tatsächlich aber (zunächst) von ihm vereinnahmtes Trinkgeld i. S. d. § 107 Abs. 3 S. 2 GewO an den begünstigen Personenkreis weiterzuleiten. Die – von der Beklagten bemühte – eigentumsrechtliche Betrachtung ist insoweit irrelevant.
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Daraus folgt hier ein Anspruch des Klägers auf Teilhabe an den im fraglichen Zeitraum über die Sammelteller im Centro P erwirtschafteten Geldbeträgen, denn es handelte sich nach der die Parteien insoweit bindenden Zweckbestimmung der zuwendenden Personen um Trinkgeld i.S.d. § 107 Abs. 3 S. 2 GewO.
42

Da er ausschließlich im Reinigungsdienst tätig war, hat der Kläger keinen zuverlässigen Überblick über die genaue Höhe der Einnahmen. Ein anderer Weg zur Erlangung der zur Bezifferung seiner Ansprüche benötigten Informationen steht ihm erkennbar nicht zur Verfügung. Die Beklagte ist ihm daher aus diesem Rechtsverhältnis zunächst zur Erteilung einer umfassenden und wahrheitsgemäßen Auskunft verpflichtet.
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Ob und unter welchem rechtlichen Gesichtspunkt die Beklagte ggf. berechtigt ist, etwaigen ihr mit der Sammlung und Verteilung des Trinkgelds entstehenden Aufwand vor dessen Aufteilung in Abzug zu bringen, bedarf im Zusammenhang mit dem Auskunftsbegehren keiner Entscheidung.
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45

b. Bei den von den Besuchern der Toilettenanlage des Centro P in dem Monaten Juli bis September 2013 hingegebenen Geldbeträgen handelte es sich um Trinkgeld für das dort eingesetzte Personal der Beklagten.

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aa. Ein verpflichtendes Nutzungsentgelt bestimmter Höhe wird den Besuchern der dortigen Toilettenanlagen nach unstreitigem Parteivorbringen nicht abverlangt. Deutlich erkennbare Hinweise an die Besucher, die einen bestimmten Verwendungszweck der danach freiwillig hingegebenen Geldbeträge offenlegen und auf eine entsprechende Willensrichtung des Besucherkreises schließen lassen, waren zum fraglichen Zeitpunkt nicht vorhanden. Die zumindest seit dem Jahr 2009 angebrachten Hinweistafeln waren nach unstreitigem Parteivorbringen jedenfalls seit Ende des Jahres 2012 ersatzlos demontiert und wurden über Monate, jedenfalls über den gesamten hier fraglichen Zeitraum, nicht wieder angebracht. Die Frage nach dem genauen Standort dieser Hinweisschilder und deren Auffindbarkeit und Lesbarkeit für die Besucher bedarf hier daher keiner Aufklärung.

48

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ab. Aus dem Umstand, dass Hinweisschilder über mehrere Jahre angebracht waren, kann entgegen der Auffassung der Beklagten nicht auf einen kollektiv verankerten dauerhaften Zweckbestimmungswillen der Besucher im Sinne der Hinweisinhalte geschlossen werden.

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Selbst wenn einzelnen Besuchern der genaue Inhalt der Hinweisschilder auch nach Monaten noch erinnerlich gewesen sein sollte, was der Kammer mangels einer über den Moment der unmittelbaren Wahrnehmung und Zahlung hinausreichenden Relevanz bereits als fernliegend erscheint, kommt der Demontage der Schilder mindestens die gleiche Aussagekraft zu, wie dem Umstand, dass dort einst Hinweistafeln bestimmten Inhalts vorhanden waren. Aus der Demontage dieser Schilder ist nämlich objektiv zu folgern, dass an dem dort dargestellten Verwendungszweck – soweit dieser gedanklich noch präsent ist – nicht mehr festgehalten wird, womit sich das Vorhandensein von Hinweisschildern in der Vergangenheit, deren Auffindbarkeit und ihr genauer Inhalt vorliegend als insgesamt nicht entscheidungsrelevant darstellt.
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52

ac. Der Zweck der Geldleistung war danach im fraglichen Zeitraum durch die Beklagte nicht ausdrücklich in einer für die Nutzer der Toilettenanlagen erkennbaren Weise bestimmt. Ebenso vollzieht sich die Hingabe des Geldes in einer Sammelsituation wie der vorliegenden bei sozialtypischer Betrachtung regelmäßig ohne ausdrückliche Zweckbestimmung der leistenden Person. Diese will vielmehr Geldbeträge für den ihr – ggf. konkludent – offerierten Zweck zuwenden.

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Es besteht kein Erfahrungssatz und auch keine allgemeine Übung dahin, dass bei einer für den Nutzer oder Begünstigten erkennbar kostenlos erbrachten Leistung – hier der Toilettennutzung – gleichwohl oder aber zusätzlich zu einem vereinbarten Entgelt freiwillig hingegebene Geldbeträge stets dem Arbeitgeber zufließen, der hinter dem erkennbar vor Ort agierenden Personal steht. Bei sozialtypischer Betrachtung ist – was § 107 Abs. 3 S. 2 GewO und Bestimmungen des Einkommenssteuerrechts aufgegriffen haben – gerade das Gegenteil der Fall. Ebenso kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Hingabe von Geldbeträgen speziell an Reinigungskräfte bei kostenloser Inanspruchnahme öffentlich zugänglicher Toilettenanlagen stets mit der Erwartung verbunden ist, das Geld diene (nur) dem Unterhalt der Anlage. In diesem Fall wäre gerade die Erhebung eines bestimmten Nutzungsentgelts typisch.
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Erst recht kann kein genereller Wille der Leistenden angenommen werden, das an Toilettenanlagen freiwillig hingegebene Geld solle für die Bezahlung zusätzlichen Personals verwendet werden, welches im Wesentlichen nur für das Einsammeln des Geldes vorgehalten wird, woran der Besucher naturgemäß kein Interesse haben kann.
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ad. Mangels ausdrücklicher Zweckbestimmung bzw. Rechtsgrundbestimmung durch Leistenden und Leistungsempfänger und der fehlenden Feststellbarkeit einer allgemeinen oder speziellen Übung in dem von der Beklagten angenommenen Sinne hat die Kammer nach allgemeinen rechtsgeschäftlichen Regeln (§§ 133, 157 BGB) zu beurteilen, auf welcher rechtlichen Grundlage sich die Hingabe der Geldbeträge im fraglichen Zeitraum vollzogen hat und welche Rechtsfolgen daraus entstehen.

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Unter Trinkgeld ist nach der Legaldefinition des § 107 Abs. 3 S. 2 GewO ein Geldbetrag zu verstehen, den ein Dritter dem Arbeitnehmer zusätzlich zu einer dem Arbeitgeber geschuldeten Leistung zahlt. Die Norm schließt nicht aus, dass die dem Arbeitgeber geschuldete Leistung von einer anderen Person als dem Trinkgeldzuwender erbracht wird, wie dies hier im Verhältnis der Beklagten zur Centro P Betreiberin aus dem Reinigungsvertrag der Fall ist.
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Die Zuwendung eines Trinkgelds vollzieht sich rechtsgeschäftlich betrachtet regelmäßig auf der Grundlage einer Schenkung i. S. d. § 516 BGB (Palandt/Weidenkaff, 72. Auflage 2013, § 516 BGB, Rn. 9 m. w. N.) oder aber eines Rechtsgeschäfts eigener Art mit schenkungsrechtlicher Prägung. Eine Zuwendung von Trinkgeld setzt danach eine Willenseinigung durch den Austausch zweier sich inhaltlich entsprechender empfangsbedürftiger Willenserklärungen voraus (Angebot und Annahme), die sich konkludent, also allein durch schlüssiges Verhalten beider Seiten ergeben kann. Einer besonderen Form bedarf das unmittelbar vollzogene Schenkungsversprechen nach § 518 Abs. 2 BGB nicht.
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Von einer unmittelbar vollzogenen Trinkgeldzuwendung zugunsten der im Bereich der Toilettenanlagen eingesetzten Arbeitnehmer der Beklagten in dem geschilderten Sinne kann vorliegend ausgegangen werden.
60

Die Deutung stillschweigender empfangsbedürftiger Willenserklärungen hat nach §§ 133, 157 BGB unter entscheidender Berücksichtigung der Begleitumstände im Wege der sog. normativen Auslegung zu erfolgen (Palandt/Ellenberger, 72. Auflage 2013, § 133 BGB, Rn. 7 m. w. N.). Dabei ist nicht der wirkliche Wille des Erklärenden maßgeblich. Zu ermitteln ist vielmehr, wie der Adressat der Erklärung den Willen verstehen konnte (Medicus, Allgemeiner Teil des BGB, 4. Auflage 1990, § 24, Rn. 323). Richtet sich die Erklärung an eine unbestimmte Vielzahl von Personen, so ist auf die Verständnismöglichkeit eines durchschnittlichen Beteiligten des angesprochenen Personenkreises unter Berücksichtigung der erkennbaren Umstände abzustellen (Palandt/Ellenberger, 72. Auflage 2013, § 133 BGB, Rn. 12).
61

Nach diesen Grundsätzen stellt sich das Aufstellen der Sammelteller vor den Toilettenanlagen des Centro P unter Berücksichtigung der konkreten Umstände als stillschweigende Aufforderung (invitatio ad offerendum) an die Toilettenbesucher zur (schenkungsweisen) Hingabe eines Trinkgelds mit damit bereits verbundener (antizipierter) Annahmeerklärung dar. Das rund um die „Sitzerinnen“ und die Sammelteller von der Beklagten – wie ihr Leitfaden vom 13.3.2013 erkennen lässt – bewusst erzeugte Gesamtbild ließ, mangels konkreter Hinweise auf einen anderen Willen (s. o.), aus der Sicht eines durchschnittlichen Toilettenbesuchers ohne besondere Kenntnisse ggf. abweichender Branchengepflogenheiten, welche die Kammer nicht unterstellen will, nur den Rückschluss zu, dass hier freiwillig ein dem Personal unmittelbar und zusätzlich zum Lohn zufließender Geldbetrag hingegeben werden konnte.
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Dabei erscheint zunächst die Wahl eines offenen Tellers als Sammelstelle für das Geld von Bedeutung, der – anders als eine Kasse oder Geldkassette – wie z. B. auch ein herumgereichter Hut suggeriert, dass hier kein Zahlungsvorgang vorgesehen ist, sondern eine Zuwendung erbeten wird.
63

Der von der Beklagten vorgeschriebene weiße Kittel der „Sitzerinnen“ ordnet die Aufsichtspersonen nach objektivem Verständnis eindeutig dem Kreis des Reinigungspersonals zu. Die von der Beklagten im Leitfaden angesprochene Variante der Geldannahme mit der Hand verstärkt – so sie gewählt wird – den Eindruck einer persönlichen Zuwendung an das Personal.
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Die ständige Präsens einer „Sitzerin“ im Nahbereich des Sammeltellers und die vorgesehene persönliche Ansprache/Begrüßung der Besucher sind auf die Schaffung einer Verbindlichkeit in dem Sozialkontakt und die Herstellung einer persönlichen Verknüpfung zwischen der vermeintlichen Reinigungsperson und einer „sauberen“ Toilettenanlage gerichtet, verbunden mit einem daraus resultierendem sozialen Druck nebst Kontrolle, sich dafür durch ein Trinkgeld erkenntlich zu zeigen, weil dessen Hingabe sozialtypischen Verhaltensmustern entspricht.
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Die Umsetzung der Weisung, das erhaltene Geld ständig bis auf wenige Münzen von den Tellern zu räumen, diese also quasi leer zu halten, suggeriert, dass es vorliegend um eine geringfügige Aufbesserung des – nach allgemeiner Meinung schmalen – Lohnes im Reinigungsgewerbe geht, was die Freigiebigkeit erhöht. Das ferner vorgesehene Einstecken der Münzen in die Kitteltaschen erweckt, wird es beobachtet, der Herstellung des persönlichen Gewahrsams wegen ebenfalls den Eindruck, das Geld fließe direkt den Reinigungskräften zu.
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Dass so geschaffene Gesamtbild rundet sich dadurch ab, dass den „Sitzerinnen“ die Offenbarung des Umstands, dass sie selbst keine unmittelbare Reinigungstätigkeit ausüben, ausdrücklich untersagt und bei Rückfragen zur Verwendung des Geldes auf die Hinweisschilder zu verweisen ist, die zu lesen sich ein eiliger Besucher im Zweifel nicht die Mühe machen wird.
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Entsteht danach im Gesamtbild der Eindruck, es könne und solle – weil offen mit erkennbarer Billigung des Arbeitgebers – ein Trinkgeld gezahlt werden, liegt in der stillschweigenden Hingabe eines Geldbetrages durch die Toilettenbesucher eben eine solche Erklärung bzw. Zweckbestimmung.
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Soweit die Beklagte gerade etwas anderes wollte, sich also in Wahrheit permanent in Widerspruch mit dem selbst initiierten Erklärungsbild befand, muss dies nach § 116 S. 1 BGB außer Betracht bleiben.
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70

c. Der Kläger gehörte zu dem durch das Trinkgeld begünstigten Personenkreis. Die Kammer geht nach den besonderen Umständen im Centro P davon aus, dass die Toilettenbenutzer die Hingabe von Trinkgeld nicht ausschließlich mit der Erwartung verbunden haben, dieses fließe allein der jeweils am Sammeltisch befindlichen Person zu.

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Die Hingabe eines Trinkgeldes kann nach den Umständen der Leistung zwar auch eine Zuwendung für eine ganz bestimmte einzelne Person sein (vgl. LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 9.12.2010 – 10 Sa 483/10 – zitiert nach juris). Wird die freiwillig honorierte Leistung aber erkennbar von einem Team erbracht, so steht das vereinnahmte Geld im Zweifel dem Team in seiner Gesamtheit zu. So ist es etwa in Teilen der besonders trinkgeldträchtigen Gastronomiebranche durchaus üblich, dass die Serviceleistungen differenziert nach Speisen und Getränken von unterschiedlichen Personen erbracht werden und zum Zwecke des Kassierens eine dritte Kraft in Erscheinung tritt, während weitere Beschäftigte ihren Teil an der Gesamtleistung gänzlich im Hintergrund erbringen. In einem solchen Fall kann – wie vorliegend – nicht angenommen werden, das Trinkgeld stehe nur dem zu, der es tatsächlich erhält. Angesichts der Größe und Vielzahl der im Centro P vorgehaltenen Toilettenanlagen, der langen Öffnungszeiten, des Personalwechsels z. B. bei Pausen und Schichtende und der im Hintergrund erforderlichen logistischen Begleitleistungen agiert auch dort erkennbar ein Reinigungsteam, für welches die vom Toilettenbesucher – vermeintlich zufällig – angetroffene Person lediglich stellvertretend steht.
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Die Kammer sieht angesichts des Umstands, dass der Kläger zugleich andere Flächen/Bereiche gereinigt hat, keinen Anlass, ihn von einer Teilhabe an den Trinkgeldeinnahmen auszuschließen, da er unstreitig regelmäßig zumindest auch zur Reinigung der Toilettenanlagen herangezogen worden ist.
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d. Soweit mit den „Sitzerinnen“, dem Kläger und dem übrigen Team vereinbart war und ist oder diese Personen angewiesen sind, das Trinkgeld in Gänze an die Beklagte zum Zwecke der dortigen Verwendung abzuliefern, ist dies sittenwidrig im Sinne des § 138 Abs. 1 BGB und damit rechtsunwirksam.

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Ein rechtsgeschäftliches Handeln oder Verhalten ist sittenwidrig, wenn es gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Abzustellen ist dabei auf die in der Gemeinschaft anerkannten moralischen und rechtlichen Anschauungen, wobei ein durchschnittlicher Maßstab anzulegen ist. Ein Rechtsgeschäft ist unter Würdigung seines Gesamtcharakters dann als sittenwidrig zu betrachten, wenn es nach Inhalt, Beweggründen oder Zweck mit grundlegenden Wertungen der Rechts- oder Sittenordnung unvereinbar ist. Die Sittenwidrigkeit nach § 138 Abs. 1 BGB kann auch in einem Verhalten gegenüber einem Vertrags- oder Geschäftspartner begründet sein, wenn dieser als strukturell schwächere Partei vor der wirtschaftlichen oder intellektuellen Übermacht der anderen Partei zu schützen ist (Palandt/Ellenberger, 72. Auflage 2013, § 138 BGB, Rn. 24 m.w.N.).
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Gemessen an diesen Grundsätzen ist es mit dem allgemeinen Rechts- und Moralempfinden unvereinbar, von den Nutzern einer unentgeltlichen Leistung ein Trinkgeld, das nach § 107 Abs. 3 S. 2 GewO und nach allgemeinem Verständnis einer Mehrzahl von Arbeitnehmern zusteht, offensiv zu akquirieren und dabei auf die Unterstützung der vermeintlich begünstigten Beschäftigten zurückzugreifen, diese aber zugleich – für die Geber nicht erkennbar – zur vollständigen Abgabe der vereinnahmten Beträge zwecks bestimmungswidriger Verwendung der Gelder zu verpflichten.
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Die Anweisungen im Leitfaden der Beklagten vom 13.3.2013, hier ist bezeichnender Weise durchgängig von „Trinkgeld“ die Rede, lassen erkennen, dass die Beklagte gerade beabsichtigte, den wahren Verwendungszweck der Gelder gegenüber den Toilettennutzern nicht in allzu offen in Erscheinung treten zu lassen, um die eigene Einnahmesituation günstiger zu gestalten.
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Dazu hat sich die Beklagte ihrer Weisungsbefugnis und ihrer strukturellen Überlegenheit in den von persönlicher und wirtschaftlicher Abhängigkeit geprägten Arbeitsverhältnissen mit den „Sitzerinnen“ und dem Reinigungspersonal bedient und diesen Beschäftigtenkreis so um die Möglichkeit einer wirklichen Trinkgeldeinnahme gebracht.
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Das angesprochene Verhalten der Beklagten stellt sich damit in der Gesamtbetrachtung als sittenwidrig i.S.d. § 138 Abs. 1 BGB dar.
80

II.
81

Die Kostenentscheidung bleibt aus Gründen ihrer Einheitlichkeit dem Schlussurteil vorbehalten.
82

Der Gegenstandswert, den die Kammer gem. § 61 Abs. 1 ArbGG i. V. m. §§ 3, 5 ZPO im Urteil festgesetzt hat, orientiert sich an den klägerischen Schätzwerten, (120.000,00 € : 20 Beschäftigte x 50 %).

RechtsgebieteBGB, GewOVorschriften§§ 611 Abs. 1, 138 Abs. 1, 241 Abs. 2, 260 BGB, § 107 Abs. 3. S. 2 GewO

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