14.10.2009 · IWW-Abrufnummer 093259
Europäischer Gerichtshof: Beschluss vom 09.07.2009 – C-445/08
Weder Erklärungen und Informationen des Inhabers eins ausländischen EU-Führerscheins im Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsverfahren noch Ermittlungen Deutschlands im Ausstellerstaat berechtigen Deutschland, die Anerkennung des Führerscheins mit Wohnsitzeintrag im Ausstellerstaat abzulehnen.
Der Europäische Gerichtshof (Beschluss vom 09.07.2009 - C-445/08) hat entschieden:
Die Art. 1 Abs. 2, 7 Abs. 1 sowie 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1882/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. September 2003 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat verwehren, es abzulehnen, in seinem Hoheitsgebiet die Fahrberechtigung einer Person anzuerkennen, die sich aus einem später von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerschein ergibt, wenn auf diese Person zuvor im Aufnahmemitgliedstaat eine Maßnahme des Entzugs einer früheren Fahrerlaubnis wegen Trunkenheit im Verkehr angewendet worden ist und wenn dieser zweite Führerschein außerhalb einer Sperrzeit für die Erteilung eines neuen Führerscheins erteilt wurde, falls sich herausstellt,
· dass auf der Grundlage der Erklärungen und Informationen, die der Inhaber dieses Führerscheins im Verwaltungsverfahren oder im gerichtlichen Verfahren in Erfüllung einer ihm nach dem innerstaatlichen Recht des Aufnahmemitgliedstaats auferlegten Mitwirkungspflicht gegeben hat, die Wohnsitzvoraussetzung vom Mitgliedstaat der Ausstellung dieses F ührerscheins nicht beachtet worden ist
oder
· dass die Informationen, die bei Ermittlungen der nationalen Behörden und Gerichte des Aufnahmemitgliedstaats im Ausstellermitgliedstaat gewonnen wurden, keine von diesem Mitgliedstaat herrührenden unbestreitbaren Informationen sind, die beweisen, dass der Führerscheininhaber zum Zeitpunkt der Ausstellung eines Führerscheins durch den Ausstellermitgliedstaat seinen ordentlichen Wohnsitz nicht in dessen Hoheitsgebiet hatte.
Beschluss des Gerichtshofs (Dritte Kammer)
9. Juli 2009
„Art. 104 § 3 Abs. 1 der Verfahrensordnung – Führerschein − Richtlinie 91/439/EWG − Entziehung der inländischen Fahrerlaubnis wegen Trunkenheit im Verkehr − Nichtvorlage eines für die Erteilung einer neuen Fahrerlaubnis im Aufnahmemitgliedstaat erforderlichen medizinisch-psychologischen Gutachtens – In einem anderen Mitgliedstaat ausgestellter Führerschein – Überprüfung der Voraussetzung des Wohnsitzes durch den Aufnahmemitgliedstaat – Möglichkeit, sich auf die Informationen zu stützen, die der Führerscheininhaber aufgrund einer ihm nach dem innerstaatlichen Recht des Aufnahmemitgliedstaats auferlegten Mitwirkungspflicht angegeben hat – Möglichkeit, im Ausstellungsmitgliedstaat Nachforschungen anzustellen “
In der Rechtssache C-445/08
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg (Deutschland) mit Entscheidung vom 23. September 2008, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Oktober 2008, in dem Verfahren
Kurt Wierer
gegen
Land Baden-Württemberg
erlässt
DER GERICHTSHOF (Dritte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Rosas (Berichterstatter), der Richter A. Ó Caoimh und U. Lõhmus, der Richterin P. Lindh und des Richters A. Arabadjiev,
Generalanwalt: Y. Bot,
Kanzler: R. Grass,
gemäß Art. 104 § 3 Abs. 1 der Verfahrensordnung, wonach der Gerichtshof durch mit Gründen versehenen Beschluss entscheiden kann,
nach Anhörung des Generalanwalts
folgenden Beschluss
Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 1 Abs. 2, 7 Abs. 1 sowie 8 Abs. 2 und 4 der Richtlinie 91/439/EWG des Rates vom 29. Juli 1991 über den Führerschein (ABl. L 237, S. 1) in der durch die Verordnung (EG) Nr. 1882/2003 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. September 2003 (ABl. L 284, S. 1) geänderten Fassung (im Folgenden: Richtlinie 91/439).
Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn Wierer und dem Land Baden-Württemberg wegen der Anerkennung der Fahrerlaubnis, die er nach der Entziehung seiner deutschen Fahrerlaubnis wegen Trunkenheit im Verkehr in Polen erworben hat, durch die deutschen Behörden.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht 3 Der erste Erwägungsgrund der Richtlinie 91/439, mit der mit Wirkung ab 1. Juli 1996 die Erste Richtlinie 80/1263/EWG des Rates vom 4. Dezember 1980 zur Einführung eines EG-Führerscheins (ABl. L 375, S. 1) aufgehoben worden ist, lautet:
„Um einen Beitrag zur gemeinsamen Verkehrspolitik zu leisten, die Sicherheit im Straßenverkehr zu verbessern und die Freizügigkeit von Personen zu erleichtern, die sich in einem anderen Mitgliedstaat als dem niederlassen, in dem sie ihre Fahrprüfung abgelegt haben, ist ein einzelstaatlicher Führerschein nach EG-Muster wünschenswert, den die Mitgliedstaaten gegenseitig anerkennen und der nicht umgetauscht werden muss.“
Im vierten Erwägungsgrund dieser Richtlinie heißt es:
„Aus Gründen der Sicherheit im Straßenverkehr sind Mindestvoraussetzungen für die Ausstellung eines Führerscheins festzulegen.“
Im letzten Erwägungsgrund der Richtlinie 91/439 wird ausgeführt:
„Außerdem sollten aus Gründen der Verkehrssicherheit und des Straßenverkehrs die Mitgliedstaaten die Möglichkeit haben, ihre innerstaatlichen Bestimmungen über den Entzug, die Aussetzung und die Aufhebung einer Fahrerlaubnis auf jeden Führerscheininhaber anzuwenden, der seinen ordentlichen Wohnsitz in ihrem Hoheitsgebiet begründet hat.“
Art. 1 der Richtlinie 91/439 bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen den einzelstaatlichen Führerschein gemäß den Bestimmungen dieser Richtlinie nach dem EG-Muster in Anhang I oder Ia aus. …
(2) Die von den Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine werden gegenseitig anerkannt.
(3) Begründet der Inhaber eines gültigen Führerscheins seinen ordentlichen Wohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat als dem, der den Führerschein ausgestellt hat, so kann der Aufnahmemitgliedstaat seine einzelstaatlichen Rechtsvorschriften hinsichtlich der Gültigkeitsdauer des Führerscheins, der ärztlichen Kontrolle und der steuerlichen Bestimmungen auf den Führerscheininhaber anwenden und auf dem Führerschein die für die Verwaltung unerlässlichen Angaben eintragen.“
Nach Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 91/439 hängt die Ausstellung des Führerscheins von den folgenden Voraussetzungen ab:
a. vom Bestehen einer Prüfung der Fähigkeiten und Verhaltensweisen, vom Bestehen einer Prüfung der Kenntnisse und von der Erfüllung gesundheitlicher Anforderungen nach Maßgabe der Anhänge II und III;
b. vom Vorhandensein eines ordentlichen Wohnsitzes oder vom Nachweis der Eigenschaft als Student − während eines Mindestzeitraums von sechs Monaten − im Hoheitsgebiet des ausstellenden Mitgliedstaats.
Art. 7 Abs. 5 der Richtlinie 91/439 lautet:
„Jede Person kann nur Inhaber eines einzigen von einem Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins sein.“
Art. 8 Abs. 2 und 4 Unterabs. 1 der Richtlinie sieht vor:
„(2) Vorbehaltlich der Einhaltung des straf- und polizeirechtlichen Territorialitätsprinzips kann der Mitgliedstaat des ordentlichen Wohnsitzes auf den Inhaber eines von einem anderen Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins seine innerstaatlichen Vorschriften über Einschränkung, Aussetzung, Entzug oder Aufhebung der Fahrerlaubnis anwenden und zu diesem Zweck den betreffenden Führerschein erforderlichenfalls umtauschen.
…
(4) Ein Mitgliedstaat kann es ablehnen, die Gültigkeit eines Führerscheins anzuerkennen, der von einem anderen Mitgliedstaat einer Person ausgestellt wurde, auf die in seinem Hoheitsgebiet eine der in Absatz 2 genannten Maßnahmen angewendet wurde.“
Art. 9 Abs. 1 der Richtlinie führt aus, dass als
„ordentlicher Wohnsitz“ „der Ort [gilt], an dem ein Führerscheininhaber wegen persönlicher und beruflicher Bindungen oder − im Falle eines Führerscheininhabers ohne berufliche Bindungen − wegen persönlicher Bindungen, die enge Beziehungen zwischen dem Führerscheininhaber und dem Wohnort erkennen lassen, gewöhnlich, d. h. während mindestens 185 Tagen im Kalenderjahr, wohnt“.
Art. 12 Abs. 3 der Richtlinie lautet:
„Die Mitgliedstaaten unterstützen einander bei der Durchführung dieser Richtlinie und tauschen im Bedarfsfall Informationen über die von ihnen registrierten Führerscheine aus.“
Nach Punkt 14 des Anhangs III der Richtlinie 91/439 − „Mindestanforderungen hinsichtlich der körperlichen und geistigen Tauglichkeit für das Führen eines Kraftfahrzeugs“ − ist Alkoholgenuss eine große Gefahr für die Sicherheit im Straßenverkehr, und da es sich um ein schwerwiegendes Problem handelt, ist große Wachsamkeit geboten. In Punkt 14.1 Abs. 1 dieses Anhangs heißt es:
„Bewerbern oder Fahrzeugführern, die alkoholabhängig sind oder das Führen eines Fahrzeugs und Alkoholgenuss nicht trennen können, darf eine Fahrerlaubnis weder erteilt noch erneuert werden.“ Punkt 14.1 Abs. 2 lautet: „Bewerbern oder Fahrzeugführern, die alkoholabhängig waren, kann nach einem nachgewiesenen Zeitraum der Abstinenz vorbehaltlich des Gutachtens einer zuständigen ärztlichen Stelle und eine regelmäßigen ärztlichen Kontrolle eine Fahrerlaubnis erteilt oder erneuert werden.“
Nach Punkt 5 dieses Anhangs können die Mitgliedstaaten bei der Erteilung oder bei jeder Erneuerung einer Fahrerlaubnis strengere als die in diesem Anhang genannten ärztlichen Untersuchungen vorschreiben.
Nationales Recht
Die Vorschriften über die Anerkennung der von anderen Mitgliedstaaten ausgestellten Führerscheine
§ 28 Abs. 1, 4 und 5 der Verordnung über die Zulassung von Personen zum Straßenverkehr (Fahrerlaubnis-Verordnung) vom 18. August 1998 (BGBl. 1998 I S. 2214, im Folgenden: FeV) bestimmt:
„(1) Inhaber einer gültigen EU- oder EWR-Fahrerlaubnis, die ihren ordentlichen Wohnsitz im Sinne des § 7 Abs. 1 oder 2 in der Bundesrepublik Deutschland haben, dürfen – vorbehaltlich der Einschränkungen nach den Absätzen 2 bis 4 – im Umfang ihrer Berechtigung Kraftfahrzeuge im Inland führen. Auflagen zur ausländischen Fahrerlaubnis sind auch im Inland zu beachten. Auf die Fahrerlaubnisse finden die Vorschriften dieser Verordnung Anwendung, soweit nichts anderes bestimmt ist.
…
(4) Die Berechtigung nach Absatz 1 gilt nicht für Inhaber einer EU- oder EWR-Fahrerlaubnis,
…
3. denen die Fahrerlaubnis im Inland vorläufig oder rechtskräftig von einem Gericht oder sofort vollziehbar oder bestandskräftig von einer Verwaltungsbehörde entzogen worden ist, denen die Fahrerlaubnis bestandskräftig versagt worden ist oder denen die Fahrerlaubnis nur deshalb nicht entzogen worden ist, weil sie zwischenzeitlich auf die Fahrerlaubnis verzichtet haben,