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28.08.2001 · IWW-Abrufnummer 011090

Amtsgericht Braunschweig: Urteil vom 23.04.2001 – 9 Cs 806 Js 52114/00

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


StPO §§ 102, 105
(Verwertungsverbot von anläßlich einer rechtswidrigen Durchsuchung gewonnenen Erkenntnissen)

Erfolgt eine Durchsuchung einer Wohnung ohne richterliche Anordnung, obwohl diese ohne weiteres hätte beantragt werden können, unterliegen die anläßlich dieser Durchsuchung gewonnenen Erkenntnisse einem Beweisverwertungsverbot, auch wenn die die Durchsuchung durchführenden Polizeibeamten meinen, wegen Gefahr im Verzug keine richterliche Durchsuchungsanordnung mehr erlangen zu können.

AG Braunschweig, Urt. v. 23.4.2001 ? 9 Cs 806 Js 52114/2000 (nr)

Sachverhalt: Dem Angekl. Wurde unerlaubter Anbau von Cannabis vorgeworfen. Er wurde von dem Vorwurf freigesprochen.

Aus den Gründen: I. Am Mittwoch, dem 9.9.2000, fertigte der zeuge POM... einen Vermerk, in dem er u. a. ausführte: ?Am heutigen Tage teilte PK... telefonisch mit, daß er aus seinem Dienstzimmer auf der gegenüberliegenden Dachterrasse mehrere Cannabispflanzen in Töpfen stehen sieht.?
In der von ihm gegen den Angekl. gefertigten Strafanzeige hat er als Tatzeit den 6.9.2000, 9.30 Uhr eingetragen. Gemeinsam mit dem Zeugen PK... und einem weiteren Polizeibeamten suchte der Zeuge POM... die zu der Dachterrasse gehörende Wohnung auf. Vom Vermieter wurde ihm mitgeteilt, daß die Wohnung an eine Wohngemeinschaft, bestehend aus dem Angekl. und Frau ..., vermietet sei. Beide Mieter waren nicht anwesend. Wegen Gefahr im Verzug ordnete der Zeuge POM... am 6.9.2000 um 9.30 Uhr die Durchsuchung der Wohnung des Angekl. an. Einen richterlichen Durchsuchungsbeschl. hatte der Zeuge POM... weder eingeholt noch hatte er die StA von dem Vorfall informiert und um die Beantragung eines richterlichen Beschl. gebeten. Das Grundstück ist ca. 300 m von der StA und dem AG entfernt. Im Zimmer von Frau ... lagen zum Trocknen ausgelegte Cannabisblätter, in mehreren Vasen und Töpfen befanden sich zerkleinerte getrocknete Cannabisblätter. Auf einer Dachterrasse lagen mehrere Cannabispflanzen und auf einem Dachteil befanden sich eine in einem Topf stehende Cannabispflanze sowie Blumentöpfe, aus denen jew. der Stumpf einer Cannabispflanze ragte. Im Zimmer des Angekl. wurde ein DIN A4 großes Foto gefunden, daß eine Person, bei der es sich um den Angekl. handeln könnte, bei der Pflege einer Cannabispflanze zeigt.
Das Cannabis und das Foto wurden sichergestellt. (...)
II. Der Angekl. hat sich zur Sache nicht eingelassen. Seine Verteidigerin hat der Verwertung der bei der Durchsuchung erlangten Erkenntnisse ausdrücklich widersprochen.
Der Zeuge PK... hat bekundet, daß er einige Tage vor dem 6.9.2000 aus seinem Dienstzimmer auf einer gegenüberliegenden Dachterrasse mit Hilfe eines Fernglases 10 bis 15 Cannabispflanzen gesehen habe. Er habe seine Beobachtungen telefonisch der Ermittlungsgruppe Rauschgift mitgeteilt. (...) Am 6.9.2000 habe er bei einem Blick auf die Dachterrasse bemerkt, daß die Pflanzen nicht mehr vorhanden seien. Er habe nochmals bei der Ermittlungsgruppe Rauschgift angerufen und sinngemäß erklärt, daß nun aber etwas geschehen müsse. (...)
Der Zeuge POM... hat bekundet, daß er irgendwann von dem Zeugen PK... angerufen worden sei. Dieser habe ihm mitgeteilt, daß auf einer Dachterrasse Cannabispflanzen zu sehen seien. Am selben Tag habe er die Durchsuchung der Wohnung angeordnet und durchgeführt. Daß der Zeuge PK... bereits zu einem früheren Zeitpunkt bei der Ermittlungsgruppe Rauschgift angerufen habe, habe er nicht gewußt. In seinem Vermerk v. 6.9.2000 sei ihm ein Fehler unterlaufen: richtig müßte es lauten >>mehrere Cannabispflanzenteile<<, denn ihm sei auch mitgeteilt worden, daß die Pflanzen abgeerntet sein sollen.
Er habe die StA nicht informiert und die Durchsuchung wegen Gefahr im Verzug angeordnet, da er befürchtet habe, daß bei einem weiteren Abwarten sämtliche Pflanzen aus der Wohnung geschafft sein könnten. Auf den Vorhalt, daß die Gebäude der StA und des AG nur wenige 100 m von der durchsuchten Wohnung entfernt seien, erwiderte er, >>sollte ich einen Beamten vor die Tür stellen?<< Daran, daß er einen StA bzw. Richter auch hätte anrufen können, habe er nicht gedacht.

Zum Zeitpunkt der Anordnung der Durchsuchung war keine Gefahr im Verzug gegeben. Selbst wenn der Zeuge PK... bereits einige Tage vor dem 6.9.2000 bei der Ermittlungsgruppe Rauschgift angerufen und seine Beobachtungen mitgeteilt haben sollte, was nach den widersprüchlichen Bekundungen der Polizeibeamten zweifelhaft sein könnte, würden die Beobachtungen v. 6.9.2000 die Durchsuchung ohne eine entsprechende richterliche Anordnung nicht rechtfertigen.
Die Polizei hätte in diesem Fall mehrere Tage Zeit gehabt, um über die StA eine richterliche Durchsuchungsanordnung zu beantragen und auch zu erhalten. Unternimmt sie nicht unverzüglich die zur Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung erforderlichen Schritte und führt sie damit eine Situation, die die Annahme von Gefahr im Verzug begründen könnte, herbei, kann sie sich später nicht darauf berufen. Dies würde darauf hinauslaufen, daß es die Strafverfolgungsbehörden in der Hand haben, ob sie mit oder ohne richterliche Anordnung Wohnungsdurchsuchungen durchführen.
Aber auch dann, wenn dem Zeugen POM... am 6.9.2000 nur die Information, daß die Pflanzenteile abgeerntet sein sollen, vorlag, war die Annahme von Gefahr im Verzug fehlerhaft. Cannabispflanzen werden erfahrungsgemäß angepflanzt, um deren Blätter zu ernten und anschließen zu verwenden. Der Erntevorgang stellt ein völlig natürliches Ereignis dar und läßt nicht den Rückschluß zu, die Pflanzen bzw. Blätter würden vernichtet oder an einen anderen Ort verbracht. Daß ihm vom Zeugen PK... mitgeteilt worden sei, auf der Terrasse befänden sich abgeerntete Cannabispflanzenteile, deutet vielmehr lediglich darauf hin, daß sich die Beweismittel noch in der Wohnung befanden. Hätte der Täter die Pflanzen aus Angst vor Entdeckung abgeerntet, hätte er die Pflanzenstiele beseitigt.
Der Zeuge POM... hätte eine richterliche Entscheidung gem. §§ 102, 105 StPO herbeiführen müssen und können. Gefahr im Verzug, die ihm bzw. die StA erlaubte, eine Durchsuchung ohne richterliche Entscheidung anzuordnen, lag nicht vor. Anhaltspunkte dafür, daß die vermuteten Beweismittel bis zur Einholung einer richterlichen Anordnung vernichtet und/oder beseitigt sein könnten, sind nicht ersichtlich.
Selbst dann, wenn die schriftliche Dokumentation der dem Zeugen POM... vom Zeugen PK... geschilderten Beobachtungen, Einschaltung der StA, Überbringung des Vorgangs an das AG und Abwarten bis zur Entscheidung und schriftlichen Absetzung des Durchsuchungsbeschl., einige Zeit gedauert hätte, würde die verstrichene Zeit nicht das Vorliegen von Gefahr im Verzug zum Zeitpunkt der Entscheidung des Zeugen POM..., die Durchsuchung durchzuführen, begründen. Er hätte vorab den zuständigen StA, ggf. den Eildienst-StA, informieren können. Dieser wiederum hätte den Ermittlungsrichter beim AG telefonisch von dem baldigen Eingang eines Durchsuchungsantrages verständigen können. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, daß die Gebäude der StA und des AG nur durch eine Straße getrennt sind und daß die zu durchsuchende Wohnung in unmittelbarer Nähe der Justizgebäude lag.
Eine richterliche Entscheidung wäre ohne Beeinträchtigung des Ermittlungserfolges im Laufe des Vormittags ergangen, da die Erreichbarkeit des Ermittlungsrichters bzw. seiner Vertreter durch deren Anwesenheit im Gericht gewährleistet war. Die von POM... veranlaßte Durchsuchung der Wohnung der Wohngemeinschaft verstieß demzufolge gegen Art. 13 Abs. 2 GG, § 105 StPO und war mangels einer richterlichen Anordnung rechtswidrig.
III. Eine nachträgliche Heilung der rechtswidrigen Durchsuchung ist nicht möglich. Zwar ist nach den geschilderten Ereignissen davon auszugehen, daß der Ermittlungsrichter einen Durchsuchungsbeschl. erlassen hätte; dieser hypothetische Verfahrensverlauf hat jedoch unter Berücksichtigung des Gewichts des Verstoßes und der Eindeutigkeit der Gesetzeslage, um die Umgehung der richterlichen Zuständigkeit zu verhindern, außer Betracht zu bleiben (BGHSt 31, 304, 306; AG Offenbach StV 1993, 406; LG Darmstadt StV 1993, 573).
Das BVerfG hat in seiner Entscheidung darauf hingewiesen, daß die Mangelhaftigkeit der richterlichen Kontrolle häufig beanstandet werde (StV 2001, 207). Nelles hat dies auf den Punkt gebracht >>Findet eine (effiziente) Kontrolle der Ermittlungsbehörden durch die Gerichte nicht statt, verwildern dort die Sitten<< (StV 1992, 385, 392). Dem ist nichts hinzufügen. Eine umfassende richterliche Kontrolle bedeutet nicht, daß den Strafverfolgungsorganen zu mißtrauen ist. Sie verrichten ihre Aufgaben grundsätzlich gewissenhaft und beachten die gesetzlichen Vorgaben. Die richterliche Kontrolle ist jedoch ? ebenso wie die Kontrolle der Gerichte durch die StA und die Verteidiger ? ein unverzichtbarer Grundsatz unseres Rechtssystems. Werden die gegenseitigen Kontrollaufgaben nicht wirksam wahrgenommen, führt dies in der Regel dazu, daß sich der >>Schlendrian bemerkbar macht<<. Fehler der Strafverfolgungsorgane und Gerichte dürfen nicht zu Lasten der Angekl. gehen: führen sie nicht zu einer Sanktion, bleiben sie folgenlos, wird sich an der >>Verwilderung der Sitten<< nichts ändern.
Der frühere StA. Amtsgerichtsrat und Bundesinnenminister Höcherl hat im Zusammenhang mit der Spiegelaffäre geäußert, >>Verfassungsschützer können nicht ständig das Grundgesetz unter dem Arm tragen<<. Vielleicht lag das daran, daß das Grundgesetz noch relativ jung war, sich noch nicht im Bewußtsein staatlicher Organe im wünschenswerten Maß verankert hatte. Daß jedoch das BVerfG wiederholt, und am 20.2.2001 sehr deutlich, die Einhaltung der Grundrechte eingefordert hat, sollte alle Beteiligten ? auch bei der eingesetzten Diskussion bzgl. den sich aus der Entscheidung des BVerfG ergebenden Konsequenzen hinsichtlich der Einrichtung eins gerichtlichen Eil- oder Notdienstes, der Dokumentationspflicht der Polizei sowie der personellen und sachlichen Ausstattung der Justiz und Polizei, um den neuen Aufgaben nachkommen zu können ? nachdenklich stimmen.
IV. Dieser Verstoß ist im vorliegenden Fall, da das verfassungsrechtlich geschützte Individualrecht der Unverletzlichkeit der Wohnung des Art. 13 GG verletzt wurde, so schwerwiegend, daß er zu einem Verwertungsverbot der anläßlich der Durchsuchung gewonnenen Erkenntnisse führt (LG Osnabrück StV 1991, 152; LG Darmstadt a. a. O.; LG Bad Kreuznach StV 1993, 629, 635; OLG Karlsruhe NJW 2000, 1577).
Ein Ausnahmefall, der die Verwertung gleichwohl rechtfertigen könnte, liegt nicht vor. In Einzelfällen kann eine Güterabwägung dazu führen, daß die Verwertung im Interesse der Allgemeinheit durch >>die unabweisbaren Bedürfnisse einer wirksamen Strafverfolgung und Verbrechensbekämpfung>>(BVerfGE 80, 367, 375) gerechtfertigt ist. Eine Güterabwägung muß die Bedeutung des verletzten Individualrechts sowie den Grad der Verletzung einerseits und den Strafvorwurf andererseits berücksichtigen. Dem Angekl. wird der Anbau einer sog. weichen Droge zur Last gelegt. Der Grenzwert zur nicht geringen Menge von Cannabis ist zwar nur geringfügig unterschritten; aber gleichwohl ist die Verwertung der erlangten Beweismittel, da ein Verstoß gegen das Grundgesetz vorliegt, nicht zulässig. Darüber hinaus wäre eine Verwertung auch dann nicht zulässig, wenn der Grenzwert zur nicht geringen Menge von Btm überschritten wäre. Angesichts der Menge des gefundenen Cannabis (1.056,7 g) könnte der Verdacht bestehen, daß das Cannabis zur Weitergabe an Dritte und/oder zum gewinnbringenden Verkauf bestimmt war. Dieser Umstand würde ebenfalls nicht die Verwertbarkeit rechtfertigen, da es sich hierbei auch nicht um eine gravierende Straftat handeln würde.
Eine Ausnahme vom Verwertungsverbot ist auch dann nicht gegeben, wenn der Angekl. der Verwertung der rechtswidrig erlangten Beweismittel zustimmt bzw. ihr nicht widerspricht. Abgesehen davon, daß der Angekl. der Verwertung ausdrücklich widersprochen hat, ist die vom BGH entwickelte Widerspruchslösung bzgl. der Verwertung von Aussagen, die ohne Belehrung gem. § 136 StPO zustandegekommen sind (BGHSt 38, 214 [= StV 1992, 212]; 42, 15 [= StV 1996, 187]) nicht anwendbar. Ein auf der Verletzung des Art. 13 GG beruhender Rechtsverstoß ist nicht heilbar, da anderenfalls der Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit des Art. 20 Abs. 3 GG nicht gewahrt bleiben würde. Es gilt vielmehr der sich aus § 136 a Abs. 3 StPO ergebende Rechtsgrundsatz der absoluten Unverwertbarkeit (Dagtoglou, JuS 1975, 753, 758). Darüber hinaus ist das Verwertungsverbot auch eine Sanktion gegenüber rechtswidrigen Handlungen (OLG Karlsruhe a. a. O.: LG Darmstadt a. a. O.), um von vornherein die unerlaubte Beschaffung von Beweismitteln zu verhindern.
Diese Grundsätze wurden vor der Entscheidung des BVerfG v. 20.2.2001 von der Rspr. entwickelt. Angesichts der eindeutigen Vorgaben des BVerfG und der Bindungswirkung gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG kommt der Sanktionswirkung eine noch größere Bedeutung zu.
Aus dem Beweisverwertungsverbot ergibt sich, daß die Bekundungen des Zeugen POM... bzgl. seiner Feststellungen in der Wohnung des Angekl. bzw. der der Mitbewohnerin einschließlich der dort gefundenen Cannabisblätter und des Fotos nicht verwertbar sind.

RechtsgebietStrafprozessrechtVorschriftenStPO § 102,105

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