13.04.2016 · IWW-Abrufnummer 146760
Oberlandesgericht Karlsruhe: Beschluss vom 22.01.2016 – 20 UF 109/14
Von den Unterkunftskosten mit Ausnahme der Kosten für Heizungs- und Warmwasserversorgung des in einem Heim lebenden und Hilfe zum Lebensunterhalt oder Grundsicherung beziehenden Unterhaltsberechtigten unterliegen gemäß §§ 94 Abs. 1 S. 6, 105 Abs. 2 SGB XII 56% nicht der Rückforderung und stehen damit einem Anspruchsübergang nach § 94 SGB XII entgegen (BGH FamRZ 2015, 1594). Dies ist rechnerisch in der Weise durchzuführen, dass der nicht der Rückforderung unterliegende Wohnkostenanteil wie Wohngeld behandelt wird und somit den rechnerischen Unterhaltsbedarf vermindert. Die Einschränkung des Anspruchsübergangs nach §§ 94 Abs. 1 S. 6, 105 Abs. 2 SGB XII greift nicht ein, wenn dem Unterhaltsberechtigten ausschließlich Sozialleistungen nach dem 7. Kapital des SGB XII (Hilfe zur Pflege) gewährt wurden (Abgrenzung zu BGH FamRZ 2015, 1594). Zur Beschränkung des Anspruchs auf Elternunterhalt gemäß § 1611 BGB wegen früherer Verletzung der elterlichen Pflicht zu Schutz und Beistand für ein in den 60er Jahren zum Opfer einer innerfamiliären Vergewaltigung gewordenes Mädchen.
Beschl. v. 22.01.2016
Az.: 20 UF 109/14
In der Familiensache
XXX
gegen
XXX
wegen Elternunterhalt
hat das Oberlandesgericht Karlsruhe - 20. Zivilsenat - Senat für Familiensachen - durch den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht Dr. G., den Richter am Oberlandesgericht W. und die Richterin am Oberlandesgericht S. auf Grund des Sachstands vom 22.12.2015 beschlossen:
Tenor:
Auf die Beschwerde der Antragsgegnerin wird der Beschluss des Amtsgerichts - Familiengericht - Bruchsal vom 11.04.2014, Az. 3 F 359/13, in Ziffer 1 abgeändert, im Kostenpunkt aufgehoben und wie folgt neu gefasst:
Die Antragsgegnerin wird verpflichtet, an den Antragsteller 922,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab 14.06.2013 zu zahlen. Der weitergehende Antrag wird abgewiesen.Die weitergehende Beschwerde der Antragsgegnerin wird zurückgewiesen.
Von den Kosten des Verfahrens in beiden Instanzen tragen der Antragsteller 44% und die Antragsgegnerin 56%.
Die sofortige Wirksamkeit des Ausspruchs zu Ziffer 1 wird angeordnet.
Der Verfahrenswert wird für das Beschwerdeverfahren auf 1.770 € festgesetzt.
Die Rechtsbeschwerde wird zugelassen.
Gründe
I.
Der Antragsteller - Bezirk Oberfranken, Sozialverwaltung - begehrt aus übergeleitetem Recht von der Antragsgegnerin Elternunterhalt für die Mutter der Antragsgegnerin, R. S., für den Zeitraum 1. Juni 2012 bis 30. Juni 2013.
Die Mutter der Antragsgegnerin ist am ...1923, die Antragsgegnerin am ...1954 geboren. Die Antragsgegnerin wuchs als Kind im Haushalt ihrer Eltern mit 4 (teilweise Halb-) Geschwistern auf. Im Alter von 12 oder 13 Jahren wurde sie von ihrem etwa 2 Jahre älteren Bruder im gemeinsamen Kinderschlafzimmer vergewaltigt. Sie empfing hierbei ein Kind. Dies wurde erst im fünften oder sechsten Schwangerschaftsmonat offenbar. Nach Einschaltung der Jugendbehörde kam die Antragsgegnerin in ein Mutter-Kind-Heim, wo sie am ...1967 ihr Kind entband. Der Sohn ist schwer behindert.
Die Antragsgegnerin kehrte sodann in den elterlichen Haushalt zurück. Der Sohn der Antragsgegnerin wurde im Haushalt aufgezogen, vorwiegend betreut durch die Großmutter der Antragsgegnerin und durch die Antragsgegnerin selbst. Dritten gegenüber wurde die Mutterschaft der Antragsgegnerin verheimlicht; es wurde erzählt, dass das Kind vom Bruder stamme und die Kindesmutter sich nicht um das Kind kümmere.
Die Vaterschaftsfeststellung und die Geltendmachung von Unterhaltsansprüchen für das Kind erfolgte erst nach Volljährigkeit der Antragsgegnerin auf deren Betreiben durch Urteil des Amtsgerichts Erlangen vom ...1974.
Die Antragsgegnerin schloss im Jahr 1968 die Volksschule ab. Sie absolvierte anschließend bei der Fa. Siemens eine Anlern-Ausbildung und war sodann dort als Bürogehilfin tätig. Später wechselte sie zur Sparkasse, dann zur Stadt Erlangen, wo sie 1976 bis 1977 erfolgreich die Ausbildung zur Verwaltungsfachangestellten durchlief.
Im Jahr 2005 wurde die Antragsgegnerin wegen Erwerbsunfähigkeit verrentet. In diesem Zusammenhang wurde das von der Antragsgegnerin vorgelegte Gutachten der So. Klinik erstattet, auf welches wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird. Mit psychischen Beeinträchtigungen der Antragsgegnerin befasst sich auch eine Stellungnahme des sachverständigen Zeugen Dr. Rö. vom ...2008 gegenüber dem Sozialgericht Karlsruhe.
Die zuvor in M wohnhafte Mutter der Antragsgegnerin, R. S., wurde am 30.4.2012 im Seniorenzentrum "K" in L (etwa 10 km vom M entfernt) aufgenommen. Sie war bis einschließlich März 2013 in Pflegestufe I, sodann in Pflegestufe II eingestuft. Die vom Pflegeheim in Rechnung gestellten Beträge und die hierauf in Anrechnung gebrachten Leistungen der Pflegeversicherung ergeben sich aus den zur Akte gereichten Monatsabrechnungen.
Der Antragsteller gewährt R. S. seit 30.4.2012 Sozialhilfe durch die Übernahme der durch eigenes Einkommen und Vermögen sowie die Leistungen der Pflegeversicherung nicht gedeckten Kosten des Seniorenheims. Im Einzelnen wird Bezug genommen auf den Leistungsbescheid vom 12.12.2012 und auf die Zusammenstellung der Leistungen des Antragstellers in Anl. 2 zum Schriftsatz vom 6.11.2013. Mit Schreiben vom 29.5.2012 zeigte der Antragsteller der Antragsgegnerin die Leistungserbringung an. Mit Schreiben vom 17.12.2012 wurde der Übergang eines gegen die Antragsgegnerin bestehenden Unterhaltsanspruchs auf den Antragsteller geltend gemacht.
R. S. verfügte im verfahrensgegenständlichen Zeitraum über eine Rente der gesetzlichen Rentenversicherung. Ab 01.07.2011 belief sich diese auf netto (nach Abzug von Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrag) 992,84 €, ab 01.07.2012 auf netto 1.014,52 €. Sie verfügte au ßerdem über eine Pensionszahlung der Siemens Pensionsfonds AG von monatlich 78,49 €. Schließlich erbrachte die gesetzliche Pflegeversicherung Leistungen. Ein Anspruch auf Wohngeldbezug bestand auf Grund zu hohen Eigeneinkommens der R. S. nicht.
Die Antragsgegnerin bezieht eine Rente der gesetzlichen Rentenversicherung, Witwenversorgung sowie eine Zusatzrente der ZVK, die monatliche Auszahlung betrug im verfahrensgegenständlichen Zeitraum insgesamt 2.439,69 €. Nach Berücksichtigung von Schuldendienst, Nebenkosten und Erhaltungsaufwand verblieb bei der Antragsgegnerin für das Wohnen im eigenen Haus ein so genannter negativer Mietwert (Aufwendungen höher als die im Selbstbehalt kalkulatorisch enthalten und Unterkunftskosten) von 433,23 €. Dessen Höhe und Abzugsfähigkeit vom Einkommen der Antragsgegnerin steht außer Streit. Der schwerbehinderte Sohn der Antragsgegnerin bezog eine Rente von 719,86 €, einen Lohn für seine Arbeit in einer Einrichtung der "Lebenshilfe" (im Dezember 2012: von 75,69 €) und etwa 200 € Wohnkostenzuschuss.
R. S. hat drei weitere Kinder, die jedoch nicht leistungsfähig zur Zahlung von Unterhalt sind. Ihr geschiedener Ehemann ist bereits im Jahr 1991 verstorben.
Der Antragsteller hat in erster Instanz Zahlung von 1.770,00 € nebst Zinsen begehrt. Er hat eine unterhaltsrechtliche Leistungsfähigkeit der Antragsgegnerin in Höhe von 253 € monatlich bis 31.12.2012 und von 203 € monatlich ab 1.1.2013 angenommen. Der ungedeckte Unterhaltsbedarf der R. S. sei jeweils höher gewesen. Verwirkungstatbestände aufgrund des Verhaltens von R. S. könnten nicht erkannt werden. Den Missbrauch durch den Bruder habe R. S. nicht begangen, er sei von ihr nicht zu verhindern gewesen, sie habe ihn auch nicht toleriert. In der anschließenden Situation sei sie sicher gänzlich überfordert gewesen. Auch wenn ihre Entscheidungen nicht optimal gewesen seien, führten sie nicht zur Verwirkung. Sie habe zu der damaligen Zeit und im Licht der Gesamtlebensverhältnisse das in ihren Kräften stehende getan. Aufgrund des nachvollziehbaren Schicksals der Antragsgegnerin werde jedoch ein Abschlag von 40 % auf den errechneten Unterhalt gewährt. Es würden deshalb lediglich für die Monate Juni bis einschließlich Dezember 2012 monatlich 150 € und für die Zeit Januar bis einschließlich Juni 2013 monatlich 120 € gefordert.
Die Antragsgegnerin ist dem Antrag entgegengetreten. Sie hat sich auf Verwirkung des Unterhaltsanspruchs berufen. Ihrer Mutter R. S. sei in der Zeit nach dem Missbrauch unterlassene Fürsorge und unterlassener Beistand vorzuwerfen. Sie habe keinerlei Initiative ergriffen, um die Folgewirkungen hinsichtlich des psychischen und physischen Gesundheitszustandes der Antragsgegnerin zu bewältigen. Vielmehr habe die Antragsgegnerin lügen müssen, um die Inzesthandlung des Bruders zu vertuschen. Sie habe ihr Kind verleugnen müssen. Aus egoistischen Gründen der Mutter sei der Kindesmissbrauch durch den eigenen Bruder vertuscht worden. Von Seiten der Familie sei nichts unternommen worden, um die Vaterschaft zu klären. Die gesamte Kindheit der Antragsgegnerin im Hause ihrer Eltern sei durch Schläge, die Suchterkrankung der Mutter und Alkoholprobleme im familiären Umfeld geprägt gewesen. Ihre Mutter habe sich zu keiner Zeit ordnungsgemäß um die Versorgung und Erziehung der Antragsgegnerin und der übrigen Kinder gekümmert. Vielmehr sei es regelmäßig zu heftigen Schlägen, auch mit dem Teppichklopfer, im Rahmen von Wutanfällen der Mutter gekommen. Folge seien ein schwerwiegender und dauerhafter Krankheitszustand auf Seiten der Antragsgegnerin (Persönlichkeitsstörung, posttraumatische Belastungsstörung mit Depression und psychovegetatives Erschöpfungssyndrom).
Das Amtsgericht hat durch Beschluss vom 11.4.2014 dem Antrag in vollem Umfang stattgegeben. Zu den unterhaltsrechtlichen Fragen (Unterhaltsanspruch der R. S. dem Grunde nach, Höhe des ungedeckten Unterhaltsbedarfs, Leistungsfähigkeit der Antragsgegnerin) ist es dem Vorbringen des Antragstellers gefolgt. Es hat den Verwirkungseinwand über den vom Antragsteller bereits vorgenommenen Abschlag von 40% hinaus nicht durchgreifen lassen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die Reaktionen der Mutter der Antragsgegnerin auf die Vergewaltigung und ihre Folgen zwar nicht ausreichend waren. Angesichts der gesellschaftlichen Situation Ende der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts und der sozialen Verhältnisse der Familie erscheine die Vorgehensweise aber in einem milderen Licht. Die Mutter der Antragsgegnerin habe das aus ihrer Sicht unumgänglich veranlasst und im Rahmen ihrer emotionalen und sozialen Kompetenz auf die Situation reagiert. Wegen der weiteren Einzelheiten zu Inhalt und Begründung dieser Entscheidung wird auf Entscheidungsformel und Gründe dieses Beschlusses Bezug genommen.
Gegen diese Entscheidung richtet sich die Beschwerde der Antragsgegnerin. Sie macht geltend, die Einkünfte von R. S. seien nicht ausreichend berücksichtigt worden. Auch das Pflegegeld müsse als Einkommen berücksichtigt werden. Der Bedarf in Form der Kosten des Pflegeheimes sei nicht ausreichend nachgewiesen, die vorgelegten Kostenrechnungen seien unvollständig oder widersprüchlich. Insbesondere sei nicht nachgewiesen, dass von Seiten des Heims ein Investitionskostenzuschuss in Rechnung habe gestellt werden dürfen. Die Kosten des gew ählten Pflegeheimes seien überhöht. Die Antragsgegnerin verweist auf günstigere Heimkosten von Einrichtungen in Nürnberg, Bayreuth, Neukirchen und Schwabach. Die Antragsgegnerin macht weiterhin Verwirkung gemäß § 1611 BGB geltend. Die Mutter habe ihre Garanten- und Erziehungspflicht auch aus dem Blickwinkel der sechziger Jahre verletzt. Bei einem sorgsamen und fürsorglichen Verhalten, wozu sie gesetzlich und aufgrund der familiären Situation verpflichtet gewesen sei, hätte sie zu einer ordnungsgemäßen Versorgung und Betreuung im Rahmen ärztlicher, psychologischer und psychotherapeutischer Hilfe beitragen müssen. Stattdessen habe die Mutter aus egoistischen Gründen den Kindesmissbrauch durch den Bruder der Antragsgegnerin vertuscht und somit gedeckt. Sie habe sich darauf beschränkt, die Tathandlung und die Folgen, nämlich das Inzestkind, zu verheimlichen, und dies in rücksichtsloser Art zulasten der Antragsgegnerin. Auch hinsichtlich der Erziehung und Verpflegung des geborenen Kindes habe die Mutter die Antragsgegnerin im Stich gelassen; die Großmutter habe das Kind bis 1974 aufgezogen und betreut.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Beschluss vom 11.4.2014 aufzuheben und den Antrag zurückzuweisen.
Der Antragsteller beantragt,
die Beschwerde zurückzuweisen.
Der Antragsteller verteidigt den Beschluss des Amtsgerichts. Der Investitionskostenzuschuss sei vom Heim berechtigt in Rechnung gestellt worden, er werde im Einklang mit der Rechtslage erhoben, da es in Bayern noch nie Förderzahlungen gegeben habe. Hierzu wird eine Bescheinigung der Regierung von Oberfranken vom 09.10.2014 vorgelegt. Hinsichtlich der Heimkosten liege das gewählte Heim unterhalb des bayerischen Durchschnitts. Die von der Antragsgegnerin genannten Alternativheime befänden sich in zu weiter Entfernung vom Wohnort der R. S. Der Heimplatz habe im April 2012 nach stationärer Krankenhausbehandlung kurzfristig gefunden werden müssen. Im näheren Umkreis sei allein in dem gewählten Pflegeheim "K" ein Platz verfügbar gewesen. Die rechtliche Betreuerin und Tochter von R. S., wohnhaft etwa 10 km entfernt von dem Heim in M, besuche R. S. 3 bis 4 mal wöchentlich, außerdem fahre sie R. S. zu Arzt- und Zahnarztterminen. Dies alles wäre der Tochter sowohl zeitlich als auch finanziell nicht möglich, wenn R. S. in einem entfernten Heim untergebracht wäre. Dem Schicksal der Antragsgegnerin werde mit dem gewährten Abschlag von 40% Rechnung getragen. Der Anspruchsübergang sei nicht nach §§ 94 Abs. 1 Satz 6, 105 Abs. 2 SGB XII eingeschränkt, denn R. S. habe im streitgegenständlichen Zeitraum keine Leistungen nach dem dritten und vierten Kapitel des SGB XII, sondern nur Hilfe zur Pflege nach dem siebten Kapitel des SGB XII erhalten.
Wegen der weiteren Einzelheiten zum Vortrag der Beteiligten wird auf die in beiden Instanzen gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Der Senat hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugin B. durch das Amtsgericht Bamberg im Wege der Rechtshilfe. Auf die Beweisbeschlüsse vom 13.02.2015 und 15.07.2015 sowie das Protokoll über die Beweisaufnahme vom 10.08.2015 wird Bezug genommen.
II.
Die zulässige Beschwerde ist teilweise begründet. Zu Recht ist das Amtsgericht von einer grundsätzlichen Unterhaltspflicht der Antragsgegnerin für R. S. ausgegangen. Unterhaltsbedürftigkeit der R. S. und Leistungsfähigkeit der Antragsgegnerin waren im unten dargestellten Umfang im maßgeblichen Zeitraum gegeben. Allerdings ist die Unterhaltsverpflichtung der Antragsgegnerin gemäß § 1611 Abs. 1 BGB auf 1/3 (33,3%) des rechnerischen Unterhaltsanspruchs beschränkt. Der Unterhaltsanspruch ist gemäß § 94 Abs. 1 SGB XII, allerdings mit Einschränkungen hinsichtlich der Wohnkosten, auf den Antragsteller übergegangen.
1) Die Antragsgegnerin ist dem Grunde nach gegenüber R. S. allein unterhaltspflichtig gemäß