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05.03.2015 · IWW-Abrufnummer 143999

Landessozialgericht Berlin-Brandenburg: Urteil vom 15.01.2015 – L 13 SB 22/14

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


Landessozialgericht Berlin-Brandenburg

Urt. v. 15.01.2015

Az.: L 13 SB 22/14

In dem Rechtsstreit

- Kläger und Berufungskläger -

Prozessbevollmächtigte/r:

gegen

Land Brandenburg,

vertreten durch Landesamt für Soziales und Versorgung

- Landesversorgungsamt -,

Lipezker Straße 45/Haus 5, 03048 Cottbus,

- Beklagter und Berufungsbeklagter -

hat der 13. Senat des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg ohne mündliche Verhandlung am 15. Januar 2015 durch den Vorsitzenden Richter am Landessozialgericht Dr. Kärcher, den Richter am Landessozialgericht Dr. Lemke und den Richter am Landessozialgericht Diefenbach sowie die ehrenamtliche Richterin Schulze und den ehrenamtlichen Richter Schulze für Recht erkannt:
Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 17. Dezember 2013 geändert.

Der Bescheid des Beklagten vom 29. März 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Juni 2010 wird aufgehoben, soweit das Merkzeichen aG entzogen worden ist.

Der Beklagte hat dem Kläger dessen notwendige außergerichtliche Kosten für das gesamte Verfahren im vollen Umfang zu erstatten.

Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand

Der Kläger wendet sich gegen die Entziehung des Merkzeichens aG.

Der im Jahre 1995 geborene Kläger erlitt im Jahre 2003 im Alter von 8 Jahren eine schwere Hirnblutung, als deren Folge unter Anderem Lähmungen der oberen und unteren Extremitäten, eine starke Gesichtsfeldeinschränkung, Beeinträchtigungen des Sprachvermögens und Beeinträchtigungen der kognitiven Leistungsfähigkeit verblieben sind. Mit Bescheid vom 25. Februar 2004 stellte der Beklagte zugunsten des Klägers mit Wirkung vom 17. Juni 2003 einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen B, G, aG und H fest. Dieser Bescheid wurde bestandskräftig.

In der Folgezeit führte der Beklagte von Amts wegen eine Überprüfung durch. Als deren Ergebnis erteilte er dem Kläger mit Wirkung vom 29. März 2010 einen Bescheid, in dem der GdB auf den Wert von 70 herabgesetzt und die Merkzeichen B, H und aG entzogen wurden. Den Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 3. Juni 2010 mit der Begründung zurück, die Funktionsbeeinträchtigungen des Klägers hätten sich wesentlich verändert, weil eine Besserung eingetreten sei.

Im anschließenden Rechtsstreit vor dem Sozialgericht Berlin hat aufgrund richterlicher Beweisanordnung der Facharzt für Chirurgie und Sozialmedizin Dr. am 26. April 2012 ein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin ist er zu der Einschätzung gelangt, gegenüber der Bewilligung aus dem Jahre 2004 sei es zu einer wesentlichen Veränderung in Gestalt einer Besserung des Gesundheitszustandes des Klägers gekommen. Unter anderem lägen die Voraussetzungen für das Merkzeichen aG nicht mehr vor.

Aufgrund richterlicher Beweisanordnung auf Antrag des Klägers nach § 109 Sozialgerichtsgesetz (SGG) hat am 22. Juni 2013 die Ärztin für Neurologie Dr. ein medizinisches Sachverständigengutachten erstattet. Darin ist sie zu der Einschätzung gelangt, dem Kläger sei zwar das Gehen auf einem Krankenhausgang möglich, nicht jedoch in einem normalen Lebensumfeld mit Bordsteinkanten, abfallenden und ansteigenden Wegen, Bodenunebenheiten und der ständigen Möglichkeit, im Gedränge und auch auf Treppen angerempelt zu werden. Es sei keine wesentliche Besserung eingetreten. Die Voraussetzungen des Merkzeichen aG seien weiterhin erfüllt.

Mit Urteil vom 17. Dezember 2013 hat das Sozialgericht Cottbus der Klage hinsichtlich des GdB stattgegeben, die Klage hinsichtlich des Merkzeichens aG jedoch abgewiesen, weil es insoweit der Einschätzung des Sachverständigen gefolgt ist.

Mit seiner zum Landessozialgericht erhobenen Berufung verfolgt der Kläger sein Rechtsschutzbegehren, bezogen auf das Merkzeichen aG, weiter. Er macht geltend, die Voraussetzungen für das Merkzeichen hätten auch im Entziehungszeitpunkt weiterhin vorgelegen.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Cottbus vom 17. Dezember 2013 zu ändern und den Bescheid des Beklagten vom 29. März 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Juni 2010 insoweit aufzuheben, als darin das Merkzeichen aG entzogen worden ist.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Er hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie auf die Verwaltungsakten des Beklagten, die dem Senat bei seiner Entscheidung vorgelegen haben.
Entscheidungsgründe

Die Berufung des Klägers ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 144 SGG, sie hat auch in der Sache Erfolg. Das Urteil des Sozialgerichts war zu ändern, die angefochtenen Bescheide insoweit aufzuheben, als darin das Merkzeichen aG entzogen worden war. Denn zum Zeitpunkt der Entziehung lagen die Voraussetzungen nach § 48 Sozialgesetzbuch/Zehntes Buch (SGB X) nicht vor, weil keine hinsichtlich des Merkzeichens aG rechtserhebliche wesentliche Veränderung in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht eingetreten war. Vielmehr bestand auch zum Entziehungszeitpunkt der Anspruch des Klägers auf Beibehaltung des Merkzeichens aG fort.

Anspruchsgrundlage für die Zuerkennung dieses Merkzeichens ist § 69 Abs. 4 Sozialgesetzbuch/Neuntes Buch (SGB IX). Hiernach stellen die zuständigen Behörden neben einer Behinderung auch gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzungen für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen für schwerbehinderte Menschen sind. Zu diesen Merkmalen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz oder entsprechender straßenverkehrsrechtlicher Vorschriften, für die in den Schwerbehindertenausweis das Merkzeichen aG einzutragen ist (Bundessozialgericht, Urteil vom 29. März 2007, B 9a SB 5/05 R, juris Randnummer 11).

Ausgangspunkt für die Feststellung der außergewöhnlichen Gehbehinderung ist Abschnitt II Nr. 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 Verwaltungsvorschriften-Straßenverkehrsordnung (VwV-StVO). Die VwV-StVO selbst ist als allgemeine Verwaltungsvorschrift der Bundesregierung nach Artikel 84 Abs. 2 Grundgesetz wirksam erlassen worden (Bundessozialgericht aaO., juris Randnummer 12). Hiernach ist außergewöhnlich gehbehindert im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 14 Straßenverkehrsgesetz, wer sich wegen der Schwere seines Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen kann.

Während die in Abschnitt II Nr. 1 Satz 2 Halbsatz 1 zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 VwV-StVO aufgeführten Schwerbehinderten relativ einfach zu bestimmen sind, ist dies bei der Gruppe der gleichgestellten Schwerbehinderten nicht ohne Probleme möglich. Ein Betroffener ist gleichzustellen, wenn seine Gehfähigkeit in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die erstgenannten Gruppen von Schwerbehinderten oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (BSG aaO., juris Randnummer 13). Schwierigkeiten bereitet hierbei der Vergleichsmaßstab, weil die verschiedenen, im 1. Halbsatz aufgezählten Gruppen in ihrer Wegefähigkeit nicht homogen sind und einzelne Vertreter dieser Gruppen - bei gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung - ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines nicht Behinderten erreichen können (BSG aaO.).

Für die Gleichstellung ist bei dem Restgehvermögen des Betroffenen anzusetzen. Ein anspruchsausschließendes Restgehvermögen lässt sich griffig weder quantifizieren noch qualifizieren (BSG aaO., juris Randnummer 14).

Weder der gesteigerte Energieaufwand noch eine in Metern ausgedrückte Wegstrecke taugen grundsätzlich dazu. Denn die maßgeblichen straßenverkehrsrechtlichen Vorschriften stellen nicht darauf ab, über welche Wegstrecke ein schwerbehinderter Mensch sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges zumutbar noch bewegen kann, sondern darauf, unter welchen Bedingungen ihm dies nur noch möglich ist: Nämlich nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung. Wer diese Voraussetzung praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an erfüllt, qualifiziert sich für den entsprechenden Nachteilsausgleich auch dann, wenn er gezwungenermaßen auf diese Weise längere Wegstrecken zurücklegt (BSG aaO., juris Randnummer 14).

Ein an einer bestimmten Wegstrecke und einem Zeitmaß orientierter Maßstab liegt auch nicht wegen der Methode nahe, mit der die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens G festgestellt werden. Denn für das Merkzeichen aG gelten gegenüber G nicht gesteigerte, sondern andere Voraussetzungen (BSG, aaO., juris Randnummer 17 mit weiteren Nachweisen). Ebenso wenig lässt sich ein allein maßgebliches Wegstrecken-Zeit-Kriterium aus dem straßenverkehrsrechtlichen Zweck des Merkzeichens aG herleiten (BSG, aaO., juris, Randnummer 19).

An diesen Voraussetzungen gemessen steht für den Senat der Anspruch des Klägers auf eine fortbestehende Zuerkennung des Merkzeichens aG außer Zweifel. Denn der Kläger ist praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an nur noch mit fremder Hilfe in der Lage, eine Wegstrecke zurückzulegen. Dies ergibt sich aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens (§ 128 Abs. 1 SGG). So steht fest, dass der Kläger auch im Entziehungszeitpunkt weiterhin durch starke Lähmungserscheinungen der oberen und unteren Extremitäten und durch starke Gesichtsfeldeinschränkungen beeinträchtigt war. Die Lähmung insbesondere des rechten Armes machte ihm zugleich die Benutzung einer Gehstütze unmöglich. Darüber hinaus besteht bei dem Kläger ein eingeschränktes Gesichtsfeld mit einer Quadrantenanopsie nach rechts unten, was beim Blick geradeaus dazu führt, dass Gegenstände, die rechts auf dem Boden liegen, nicht gesehen werden. Daher ist zwar, wie auch in den Rehabilitationsberichten beschrieben, das Gehen auf einem Krankenhausgang möglich, nicht jedoch das Gehen in einem normalen Lebensumfeld mit Bordsteinkanten, abfallenden und ansteigenden Wegen und Bodenunebenheiten. Dies hat die Sachverständige Dr. zweifelsfrei und in jeder Hinsicht überzeugend festgestellt. Der Senat hat an der Richtigkeit dieser Feststellungen keine Zweifel, zumal sie sich auch mit den sonstigen medizinischen Einschätzungen in der Sache decken.

Damit steht aber zugleich fest, dass sich der Kläger außerhalb seines Kraftfahrzeuges nur noch mit fremder Hilfe bewegen kann, und zwar praktisch von den ersten Schritten an. Denn genau die vorgenannten widrigen Umstände wie Bordsteinkanten, abfallende und ansteigende Wege sowie Bodenunebenheiten wird der Kläger stets bereits auf den ersten Schritten nach Verlassen des Kraftfahrzeuges antreffen.

Dem steht nicht entgegen, dass der Sachverständige festgestellt hat, dass der Kläger unter bestimmten geschützten Bedingungen, so etwa innerhalb geschlossener Gebäude auf hindernisfreien Wegen, durchaus in der Lage ist, längere Wegstrecken zurückzulegen. Denn auf diese - im Übrigen unstreitigen - Sachverhaltsumstände kommt es aus den vorgenannten Gründen nicht entscheidend an. Vielmehr ist die straßenverkehrsrechtliche Sicht, wie sie durch die höchstrichterliche Rechtsprechung ausgeformt wurde, maßgeblich; maßgeblich sind somit nicht die Verhältnisse innerhalb geschlossener Räume, sondern unmittelbar nach Verlassen eines Kraftfahrzeuges.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und trägt dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst Rechnung.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht bestehen.

RechtsgebietSGB XVorschriftenSGB X § 48