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03.01.2017 · IWW-Abrufnummer 190953

Landgericht Heidelberg: Urteil vom 08.11.2016 – 2 O 90/16

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


LG Heidelberg

08.11.2016 - 2 O 90/16

In dem Rechtsstreit
Christian N., - Kläger -
Prozessbevollmächtigte:
gegen
A. AG, vertreten durch d. Vorstände
- Beklagte -
Prozessbevollmächtigte:

wegen Forderung

hat das Landgericht Heidelberg - 2. Zivilkammer - durch den Richter am Landgericht Teinert als Einzelrichter auf Grund der mündlichen Verhandlung vom 27.09.2016 für Recht erkannt:

Tenor:
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.
     
Beschluss

Der Streitwert wird auf 122.354,51 € festgesetzt.

Tatbestand

Der Kläger macht Ansprüche aus einer Berufsunfähigkeitsversicherung geltend.

Der Kläger schloss mit der Beklagten eine Berufsunfähigkeitsversicherung mit dem Tarif BUV 2-plus/2008 bei einer ursprünglich garantierten Berufsunfähigkeitsrente für den Fall der Berufsunfähigkeit in Höhe von monatlich 1.000,00 € ab (Vers.-Nr. (Kollektivvertrag Nr.); Versicherungsschein vom 01.04.2010, Anl. K1). Als Versicherungsbeginn wurde der 01.04.2010 vereinbart, als Ende der Leistungs- und Beitragszahlungsdauer der 01.04.2033. Außerdem wurden eine Beitragsdynamik, eine Überschussverwendung und für den Fall der Berufsunfähigkeit eine garantierte Leistungsdynamik von 3 % jährlich vereinbart. Der Versicherung liegen die Allgemeinen Bedingungen der Beklagten für die Berufsunfähigkeitsversicherung mit einem generellen Verzicht auf die abstrakte Verweisbarkeit (Version 1/2008, Anl. K2), die Bedingungen für den Präventionsservice (Version 1/2008) und die Bedingungen für Versicherungen mit Dynamikplan (Anlage K3) zugrunde. Nach § 1 Abs. 1 der Allgemeinen Bedingungen für die Berufsunfähigkeitsversicherung mit einem generellen Verzicht auf die abstrakte Verweisbarkeit (nachfolgend: ABB) ist die Beklagte zur Zahlung einer monatlich im Voraus zu zahlenden Berufsunfähigkeitsrente bei voller Befreiung von der Beitragszahlungspflicht verpflichtet, wenn die versicherte Person während der Versicherungsdauer zu mindestens 50 % berufsunfähig wird. Eine Definition des Begriffs der Berufsunfähigkeit erfolgt in § 2 ABB. In § 9 ABB finden sich Regelungen zum Rücktritts- und Kündigungsrecht der Beklagten bei Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht.

Im Versicherungsantrag vom 25.03.2010 (Anl. K4), den der Kläger über den Versicherungsvertreter Andreas J. stellte, finden sich keine Gesundheitsfragen. Stattdessen enthält der Versicherungsantrag nur eine bereits vorgedruckte Erklärung, deren Richtigkeit der Kläger durch Ankreuzen des dafür vorgesehenen Leerkästchens bestätigte. Diese Erklärung hat folgenden Wortlaut:

"Ich erkläre, dass bei mir bis zum heutigen Tage weder ein Tumorleiden (Krebs), eine HIV-Infektion (positiver AIDS-Test), noch eine psychische Erkrankung oder ein Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit) diagnostiziert oder behandelt wurden. Ich bin nicht pflegebedürftig. Ich bin fähig, in vollem Umfange meiner Berufstätigkeit nachzugehen.

(Kann diese Erklärung nicht abgegeben werden, beantworten Sie bitte die Fragen gemäß Formular A 122.)"

Am 30.08.2012 stellte der Kläger einen Leistungsantrag wegen Berufsunfähigkeit (Anlage BLD 2). In diesem Antrag gab er an, an multipler Sklerose (MS) erkrankt zu sein. Er gab weiterhin an, dass die Krankheit erstmals im Juli 2002 diagnostiziert und seitdem fortlaufend behandelt worden sei. Des Weiteren gab der Kläger an, dass er seinen zuletzt ausgeübten Beruf als Orthopädietechniker seit 07.05.2012 nicht mehr ausüben könne, dass sein Arbeitsverhältnis mit dem Universitätsklinikum Heidelberg zum 31.08.2012 wegen voller Erwerbsunfähigkeit beendet worden sei und dass er seit 01.06.2012 aufgrund Antrags vom 27.04.2012 eine volle Erwerbsminderungsrente von dem gesetzlichen Rentenversicherungsträger beziehe. Einen Antrag auf Feststellung eines Grades der Behinderung nach dem Schwerbehindertengesetz habe er erstmals am 31.05.2005 gestellt. Dem Versicherungsantrag fügte der Kläger unter anderem eine Beschreibung des typischen Arbeitsalltags (Anlage BLD 3) und mehrere Bescheide des Landratsamts Rhein-Neckar-Kreis zur Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft des Klägers (Anlage BLD 5-7) bei.

Mit Schreiben vom 07.03.2013 (Anl. K5) erklärte die Beklagte die Anfechtung des Versicherungsvertrages wegen arglistiger Täuschung. Zur Begründung führte die Beklagte aus, dass der Kläger eine unzutreffende Gesundheitserklärung abgegeben habe, da unter Würdigung der Gesamtumstände davon auszugehen sei, dass er bereits bei Antragstellung nicht in der Lage gewesen sei, in vollem Umfang seiner beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Darüber hinaus habe der Kläger gefahrerhebliche Umstände vorsätzlich verschwiegen und seine vorvertragliche Anzeigeobliegenheit in erheblichem Maße arglistig verletzt. Außerdem trat die Beklagte gemäß § 9 Ziffer 3 ABB i.V.m. § 19 Abs. 2 VVG vom Vertrag zurück. Seit dem 01.09.2012 entrichtete der Kläger aufgrund einer mit der Beklagten getroffenen Stundungsvereinbarung vom 25.08.2012 (Anlage BLD 1) keine Beiträge mehr.

Der Kläger trägt vor,

er habe die in dem Versicherungsantrag enthaltene Erklärung zu seiner Gesundheit wahrheitsgemäß abgegeben. Er habe weder an den dort aufgeführten Krankheiten gelitten noch seien diese Krankheiten bei ihm diagnostiziert oder behandelt worden. Er sei auch nicht pflegebedürftig gewesen. Er sei fähig gewesen, in vollem Umfange seine Berufstätigkeit nachzugehen. Weitere Fragen zur gesundheitlichen Situation des Klägers seien diesem von der Beklagten nicht gestellt worden. Eine wirksame Anfechtung sei innerhalb der Jahresfrist des § 124 BGB nicht erklärt worden. Alle in dem Ablehnungsschreiben aufgeführten Gründe träfen keine Aussage zur konkreten Berufsausübungsfähigkeit des Klägers zum Antragszeitpunkt. Insoweit sei auf die im Arbeitsrecht entwickelten Grundsätze als Maßstab abzustellen, wonach die Leistung des Arbeitnehmers sich nach seinem individuellen Leistungsvermögen und nicht nach dem objektiven Maßstab des § 243 Abs. 1 BGB richte. Sofern die Beklagte ihren Anforderungsmaßstab rein objektiv verstanden wissen wolle, trage sie hierfür das Risiko der Mehrdeutigkeit gemäß § 305c BGB. Der Kläger habe aber auch nach objektiven Maßstäben seinen arbeitsrechtlichen Verpflichtungen in vollem Umfang nachkommen können. Noch in der betriebsärztlichen Untersuchung vom 27.09.2010, ein halbes Jahr nach Antragstellung, hätten sich durch seine Erkrankung keine gesundheitlichen Probleme im Sinne einer Leistungseinschränkung bezogen auf seine beruflichen Tätigkeiten ergeben. Deshalb habe der Kläger bis dahin auch keinen Antrag auf eine behindertengerechte bzw. krankheitsspezifische Anpassung des Arbeitsplatzes gestellt. Arbeitsunfähige Krankschreibungen im Zeitraum der Antragstellung und des Versicherungsbeginns seien ebenfalls nicht erfolgt. Erste Einschränkungen des Klägers seien ausweislich der betriebsärztlichen Bescheinigung vom 20.03.2014 (Anl. K6) erst ab April 2012 festgestellt worden. Auf die betriebsärztliche Einschätzung habe der Kläger vertrauen dürfen.

Arglist könne ihm deshalb nicht unterstellt werden. Soweit dem Kläger in den Bescheiden des Versorgungsamts vom 25.03.2006 und vom 22.12.2009 zuletzt ein Grad der Behinderung von 60 zuerkannt und ein Merkzeichen "G" zugeteilt worden sei, ergebe sich daraus noch lange keine Beeinträchtigung der Berufsausübung, wie sie privatversicherungsrechtlich zugrunde zu legen wäre. An der eingeschränkten "Laufstreckenfähigkeit" des Klägers könne eine nicht "volle Berufsfähigkeit" des Klägers nicht festgemacht werden, weil die konkreten beruflichen Anforderungen des Klägers, was Laufstrecken anbelange, gering gewesen seien und keine Einschränkungen begründet hätten.

Die erforderlichen Wege zum Patienten, um beispielsweise die gefertigten Orthesen anzupassen, seien ihm problemlos möglich gewesen.

Berufsunfähigkeit bestehe beim Kläger seit dem 07.05.2012. Seit diesem Tag könne der Kläger seinen Beruf länger als sechs Monate nicht mehr bedingungsgemäß zu noch mindestens 50 % ausüben (im Einzelnen: AS 21 f.). Gemäß "Standmitteilung" der Beklagten vom 26.04.2012 (Anl. K9) habe die Versicherung mit dem 01.04.2012 eine garantierte monatliche BU-Rente i.H.v. 1.100,39 € erreicht. Dieser Betrag erhöhe sich während der Dauer der Berufsunfähigkeit zu Beginn eines jeden weiteren Versicherungsjahres (1. April) aufgrund der vereinbarten Dynamik um 3 %. Hinzu kämen, erstmalig mit Beginn des Versicherungsjahres des 01.04.2013, die der Höhe nach unbekannten, variierenden und daher nicht bezifferbaren Überschussanteile. Der Kläger könne außerdem Rückzahlung einer bereits während eingetretener Berufsunfähigkeit erbrachten Beitragszahlung i.H.v. 335,46 € verlangen.

Durch die drucktechnische Gestaltung der Erklärung zur Gesundheitssituation werde auch kein besonderer Aufmerksamkeitseffekt erzielt, wie er für eine Belehrung nach § 19 VVG zu fordern sei (im Einzelnen: AS 169). Die Rücktrittserklärung sei im Übrigen unwirksam, weil die Monatsfrist des § 21 Abs. 1 S. 1 VVG nicht gewahrt sei (im Einzelnen: AS 173 f.).

Der Kläger beantragt:

1.

Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger aus der Versicherung Nr. (Kollektivvertrag Nr.) für den Zeitraum vom 01.06.2012 bis 31. März 2013 € 11.003,90 zuzüglich Zinsen hieraus i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit des Anspruchs zu zahlen.

2.

Die Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger aus der Versicherung Nr. (Kollektivvertrag Nr.) für den Zeitraum vom 01.04.2013 bis 31. 03.2014 € 13.600,82 zuzüglich der Überschussanteile gemäß den Allgemeinen Bedingungen der Beklagten für die Berufsunfähigkeitsversicherung mit einem generellen Verzicht auf die abstrakte Verweisbarkeit (Version 1/2008 § 21 Abs. 5) zu zahlen, zuzüglich Zinsen aus dem Gesamtbetrag i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit des Anspruchs.

3.

Die Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger aus der Versicherung Nr. (Kollektivvertrag Nr.) für den Zeitraum vom 01.04.2014 bis 31.03.2015 € 14.008,84 zuzüglich der Überschussanteile gemäß den Allgemeinen Bedingungen der Beklagten für die Berufsunfähigkeitsversicherung mit einem generellen Verzicht auf die abstrakte Verweisbarkeit (Version 1/2008 § 21 Abs. 5) zu zahlen, zuzüglich Zinsen aus dem Gesamtbetrag i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit des Anspruchs.
4.

Die Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger aus der Versicherung Nr. (Kollektivvertrag Nr.) für den Zeitraum vom 01.04.2015 bis 31.03.2016 € 14.429,04 zuzüglich der Überschussanteile gemäß den Allgemeinen Bedingungen der Beklagten für die Berufsunfähigkeitsversicherung mit einem generellen Verzicht auf die abstrakte Verweisbarkeit (Version 1/2008 § 21 Abs. 5) zu zahlen, zuzüglich Zinsen aus dem Gesamtbetrag i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit des Anspruchs.

5.

Die Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger aus der Versicherung Nr. (Kollektivvertrag Nr.) für den Zeitraum vom 01.04.2016 bis 31.05.2016 € 2.476,98 zuzüglich der Überschussanteile gemäß den Allgemeinen Bedingungen der Beklagten für die Berufsunfähigkeitsversicherung mit einem generellen Verzicht auf die abstrakte Verweisbarkeit (Version 1/2008 § 21 Abs. 5) zu zahlen, zuzüglich Zinsen aus dem Gesamtbetrag i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit des Anspruchs.

6.

Die Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger zu Versicherung Nr. (Kollektivvertrag Nr.) für den Zeitraum ab 01.06.2016 für dessen weitere Dauer der Berufsunfähigkeit, längstens jedoch bis 01.04.2033 eine monatliche Berufsunfähigkeitsrente, monatlich im Voraus zu zahlen, zuzüglich einer zum 01.04. jeden weiteren Versicherungsjahres hinzuzurechnenden dreiprozentigen Erhöhung der Vorjahresrente und einen für diesen Zeitraum anfallenden Überschussanteil gemäß Tarif BUV 2-plus/2008 und den Allgemeinen Bedingungen der Beklagten für die Berufsunfähigkeitsversicherung mit einem generellen Verzicht auf die abstrakte Verweisbarkeit (Version 1/2008, § 21 Abs. 5).

7.

Die Beklagte wird weiter verurteilt, an den Kläger zu Versicherung Nr. (Kollektivvertrag Nr.) bezahlte Beiträge für den Zeitraum 01.06.2012 bis 31.08.2012 in Höhe von € 335,46 zuzüglich Zinsen hieraus i.H.v. 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit des Anspruchs zu zahlen.

8.

Es wird festgestellt, dass der Kläger der Beklagten zu Versicherung Nr. (Kollektivvertrag Nr.) für den Zeitraum vom 01.09.2012 bis 31.05.2016 keine weiteren Beiträge schuldet.

9.

Die Beklagte wird weiter verurteilt, die Versicherung Nr. (Kollektivvertrag Nr.) für die weitere Dauer der Berufsunfähigkeit des Klägers, ab 01.06.2016, längstens jedoch bis 01.04.2033 beitragsfrei zu stellen und im Übrigen bedingungsgemäß fortzuführen.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte trägt vor,

mit der Abgabe der Gesundheitserklärung in dem Versicherungsantrag habe der Kläger bewirkt, detaillierte Gesundheitsfragen nach Maßgabe des Formulars A 122 (Anl. BLD 13) nicht beantworten zu müssen. Über die Folgen der Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht gemäß § 19 Abs. 5 VVG sei der Kläger wirksam belehrt worden. In der Zusammenschau der Angaben des Klägers im Leistungsantrag vom 30.08.2012 und der dazu beigefügten Unterlagen (Anlagen BLD 3 - BLD 7) sowie der von der Beklagten im Rahmen des Leistungsprüfungsverfahrens eingeholten Auskünfte der behandelnden Ärzte (Anlagen BLD 8 - BLD 12) habe sich ergeben, dass der Kläger unter denjenigen Beschwerden, aufgrund derer nunmehr der Eintritt der bedingungsgemäßen Berufsunfähigkeit ab Mai 2012 geltend gemacht werden sollte, bereits seit dem Jahre 2000 vorgelegen hätten, wobei ab dem Jahr 2005 die Beschwerden bereits ein solches Ausmaß angenommen hätten, dass - auf Antrag des Klägers und sodann aufgrund dessen Widerspruchs - ein GdB von 50 festgestellt worden sei. Nur ein halbes Jahr vor Antragstellung zu dem streitgegenständlichen Versicherungsvertragsverhältnis habe der Kläger eine Erhöhung des GdB auf 60 beantragt; diesem Antrag sei im September 2009 - drei Monate vor Antragstellung - stattgegeben worden. Damit korreliere die ärztliche Feststellung, dass es sich bei der Grunderkrankung - Multiple Sklerose - um eine chronisch progrediente Verlaufsform handele, was dem Kläger ebenfalls bekannt gewesen sei. Zudem seien bereits im Vorfeld der Antragstellung zahlreiche krankheitsbedingte Funktionseinschränkungen bei dem Kläger ärztlich dokumentiert gewesen. Vor diesem Hintergrund habe es sich so verhalten, dass bei dem Kläger zum Zeitpunkt der Antragstellung am 25.03.2010 krankheitsbedingte Einschränkungen im Hinblick auf seine Berufsausübung vorgelegen hätten. Der Kläger sei krankheitsbedingt nicht in der Lage gewesen, in vollem Umfange seiner Berufstätigkeit nachzugehen. Der Kläger habe auch gewusst, dass es sich bei seiner Erkrankung um eine chronisch-progrediente Verlaufsform handle. Für ihn sei daher bereits bei Abschluss des Versicherungsvertrages absehbar gewesen, dass - sollte dies nicht bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung der Fall gewesen sein - in näherer Zukunft bedingungsgemäße Berufsunfähigkeit eintreten würde. In Kenntnis dieser Umstände hätte die Beklagte das streitgegenständliche Versicherungsverhältnis nicht abgeschlossen. Vielmehr wäre der Antrag des Klägers zurückgewiesen worden. Die Beklagte habe das Versicherungsvertragsverhältnis vor diesem Hintergrund wirksam gemäß § 123 BGB angefochten. Hierzu sei sie berechtigt gewesen, da der Kläger seine vorvertragliche Anzeigepflicht gegenüber der Beklagten in arglistiger Weise verletzt habe. Der Kläger habe insbesondere in unzutreffender Weise erklärt, er sei zum Zeitpunkt der Antragstellung in seiner Fähigkeit zur Berufsausübung nicht beeinträchtigt gewesen, was offenkundig falsch gewesen sei. Bereits zum Zeitpunkt der Antragstellung hätten sämtliche krankheitsbedingte Funktionsbeeinträchtigungen, die nunmehr zur Berufsunfähigkeit geführt haben sollen, vorgelegen. (im Einzelnen: AS 105 f.). Der Kläger habe die falsche Erklärung gegenüber der Beklagten auch arglistig abgegeben (im Einzelnen: AS 107 f.).

Auf den ebenfalls erklärten Rücktritt gemäß § 19 Abs. 2 VVG komme es nicht an, da der Vertrag wirksam angefochten worden sei. Die inhaltlichen Voraussetzungen für die Erklärung des Rücktritts hätten aber vorgelegen. Hilfsweise berufe sich die Beklagte auf den Einwand der Vorvertraglichkeit (im Einzelnen: AS 113 f.).

Wegen der weiteren Einzelheiten des beiderseitigen Parteivorbringens wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig, aber unbegründet.

1. Dem Kläger steht kein Leistungsanspruch aus dem mit der Beklagten abgeschlossenen Versicherungsvertrag über eine Berufsunfähigkeitsversicherung zu, weil die Beklagte diesen Vertrag mit Schreiben vom 07.03.2013 wirksam gemäß § 22 VVG i.V.m. § 123 BGB angefochten hat. Gemäß § 142 Abs. 1 BGB ist der Vertrag damit als von Anfang an nichtig anzusehen.

a. Es kann offenbleiben, ob eine arglistige Täuschung der Beklagten darin liegt, dass der Kläger durch Ankreuzen der vorgedruckten Erklärung zu seinem Gesundheitszustand in dem Versicherungsantrag vom 25.03.2010 die Angabe machte, dass er bei Antragstellung fähig gewesen sei, in vollem Umfang seiner Berufstätigkeit nachzugehen. Gegen die Annahme einer bewusst wahrheitswidrigen Angabe spricht in diesem Zusammenhang jedoch, dass sich ungeachtet der bei dem Kläger bereits seit 2002 bestehenden MS-Erkrankung und der bereits vor Antragstellung erfolgten Feststellung seiner Schwerbehinderteneigenschaft durch das Versorgungsamt ausweislich der betriebsärztlichen Bescheinigung vom 20.03.2014 (Anl. K6) bei der betriebsärztlichen Untersuchung am 27.09.2010 noch "keine spezifischen Anzeichen für eine Beeinträchtigung bezüglich der Ausübung des Berufes" aufgrund der konkreten Ausgestaltung des dem Kläger zugewiesenen Arbeitsplatzes ergeben hatten und dass der Kläger seinen Beruf als Orthopädietechniker im Zeitpunkt der Antragstellung auch tatsächlich noch ausübte.

b. Die von der Beklagten erklärte Anfechtung wegen arglistiger Täuschung ist jedenfalls deswegen begründet, weil der Kläger arglistig gefahrerhebliche Umstände, zu deren Offenbarung er nach Treu und Glauben verpflichtet war, verschwiegen hat.

aa. Ob eine Anfechtung wegen arglistiger Täuschung wegen des Unterlassens der Angabe von offenbarungspflichtigen Umständen auch dann in Betracht kommt, wenn diese Umstände vom Versicherer - wie hier - bei Vertragsschluss nicht ausdrücklich erfragt wurden, oder ob die Anfechtung in einem solchen Fall durch § 19 VVG ausgeschlossen ist, ist umstritten und bislang, soweit ersichtlich, noch nicht höchstrichterlich oder obergerichtlich entschieden worden (vgl. die Nachweise bei Armbrüster, in: Prölss/Martin, VVG, 29. Aufl., § 22 Rn. 3).

Nach der wohl überwiegenden Auffassung im Schrifttum wird die Anfechtung in einem solchen Fall durch § 19 VVG nicht ausgeschlossen.

Dieser Auffassung ist zu folgen. Die Beschränkung der Anzeigepflicht auf eine Antwortpflicht soll den Versicherungsnehmer nämlich von dem Risiko entlasten, die Anzeigepflicht (wenn auch schuldlos) infolge einer Fehleinschätzung der Gefahrerheblichkeit eines Umstandes zu verletzen. Geht der Versicherungsnehmer aber selbst davon aus, dass die Kenntnis des Versicherers von bestimmten Umständen trotz des Fehlens entsprechender Fragen dessen Entscheidung beeinflusst, was Voraussetzung einer Täuschung ist, dann ist er diesem Risiko nicht ausgesetzt, weil das Unterbleiben ordnungsgemäßer Fragen keinerlei Rolle für sein Verhalten gegenüber dem Versicherer spielt. Daher kann das Unterbleiben auch eine Offenbarungspflicht nicht hindern. Das bedeutet, dass eine solche Pflicht jedenfalls besteht, wenn es um Umstände geht, die auch nach der Einschätzung des Versicherungsnehmers trotz des Unterbleibens diesbezüglicher Fragen gefahrerheblich sind (so zutreffend Armbrüster, in: Prölss/Martin, a.a.O.,Rn 3). § 22 VVG verweist im Übrigen ohne jede Einschränkung auf das Recht zur Anfechtung wegen arglistiger Täuschung nach § 123 BGB. Im Rahmen der Arglistanfechtung nach § 123 BGB ist aber bereits seit langem anerkannt, dass eine Täuschung auch durch Verschweigen von offenbarungspflichtigen Umständen erfolgen kann. Hätte der Gesetzgeber im Versicherungsvertragsrecht die Arglistanfechtung auf fehlerhafte Angaben zu gefahrerheblichen Umständen, die der Versicherer in Textform ausdrücklich erfragt hat, beschränken wollen, hätte es nahegelegen, eine solche Beschränkung in § 22 VVG - der dann freilich weitgehend leerliefe - zum Ausdruck zu bringen.

bb. Indem der Kläger bei Antragstellung gegenüber (dem Versicherungsvertreter) der Beklagten nicht angab, dass er an einer multiplen Sklerose leidet, die erstmals im Jahr 2002 diagnostiziert und wegen der er seitdem fortlaufend ärztlich behandelt wurde, hat er einen gefahrerheblichen Umstand, der für die Bereitschaft der Beklagten, den Vertrag über eine Berufsunfähigkeitsversicherung zu den von ihr angebotenen Konditionen abzuschließen, von erheblicher Bedeutung war, arglistig verschwiegen.

(1) Beim Abschluss von Verträgen besteht grundsätzlich eine Offenbarungspflicht über solche Umstände, hinsichtlich derer der Vertragspartner nach Treu und Glauben unter Berücksichtigung der Verkehrsanschauung redlicherweise Aufklärung erwarten durfte.

Umstände, die für die Willensbildung des Vertragspartners offensichtlich von ausschlaggebender Bedeutung sind, müssen ungefragt offenbart werden. Das gilt vor allem für Umstände, die geeignet sind, dem Vertragspartner erheblichen wirtschaftlichen Schaden zuzufügen (Palandt/Ellenberger, BGB, 75. Aufl., § 123 Rn. 5 ff. m.w.N.). Auf den Versicherungsvertrag bezogen bedeutet dies, dass jedenfalls diejenigen Umstände offenbart werden müssen, die ein durchschnittlicher Versicherungsnehmer für gefahrerheblich, d.h. für den Entschluss des Versicherers, den Vertrag mit dem vereinbarten Inhalt zu schließen, für bedeutsam halten muss.

(2) Nach diesem Maßstab handelte es sich bei der MS-Erkrankung des Klägers im Zusammenhang mit dem Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung um einen gefahrerheblichen und damit offenbarungspflichtigen Umstand. Es ist allgemein und insbesondere einem an multipler Sklerose erkrankten Versicherungsnehmer bekannt, dass die multiple Sklerose eine nicht heilbare Krankheit mit in der Regel fortschreitendem Verlauf ist, mit der ein stark erhöhtes Risiko der Berufsunfähigkeit einhergeht. Die multiple Sklerose gehört damit zu den Krankheiten, für die sich der Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung besonders lohnt. Da diese Krankheit mit einem stark erhöhten Risiko der Berufsunfähigkeit einhergeht, ist undenkbar, dass ein Versicherer einen Vertrag über eine Berufsunfähigkeitsversicherung mit einem an multipler Sklerose erkrankten Versicherungsnehmer überhaupt oder jedenfalls zu den üblichen Konditionen abschließt, ohne einen Leistungsausschluss für den Fall der Berufsunfähigkeit wegen dieser Krankheit zu vereinbaren. Die Gefahrerheblichkeit der multiplen Sklerose im Zusammenhang mit dem Abschluss eines Vertrages über eine Berufsunfähigkeitsversicherung liegt so sehr auf der Hand, dass sie einem durchschnittlichen Versicherungsnehmer, der bereits an multipler Sklerose erkrankt ist, nicht verborgen bleibt, sondern sich ihm geradezu aufdrängt. Auch wenn der Versicherer bei Vertragsschluss nicht ausdrücklich nach dem Vorliegen einer multiplen Sklerose gefragt hat, kann kein redlicher Versicherungsnehmer, der diese Krankheit hat, ernsthaft annehmen, dass das Vorliegen oder Nichtvorliegen dieser Krankheit für die Bereitschaft des Versicherers zum Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung zu den üblichen Konditionen nicht von wesentlicher Bedeutung ist. Vor diesem Hintergrund kann nicht zweifelhaft sein, dass auch dem Kläger klar war, dass die Beklagte den Vertrag über eine Berufsunfähigkeitsversicherung nicht oder zumindest nicht ohne einen Leistungsausschluss für den Fall der Berufsunfähigkeit wegen der bei Antragstellung bereits bestehenden MS-Erkrankung abgeschlossen hätte, auch wenn diese Krankheit in der im Antragsformular vorgedruckten Erklärung nicht ausdrücklich erwähnt war. Redlicherweise hätte der Kläger daher bei Antragstellung seine Krankheit offenbaren und danach fragen müssen, ob die Beklagte trotz dieser Krankheit zum Vertragsschluss bereit ist. Das Unterlassen der Offenbarung stellt eine arglistige Täuschung dar. Aus den bereits dargelegten Gründen kann auch kein Zweifel daran bestehen, dass die arglistige Täuschung für die Vertragsannahme durch die Beklagte ursächlich geworden ist und dass die Beklagte bei Offenbarung der MS-Erkrankung durch den Kläger den Versicherungsvertrag nicht oder nur mit einem Leistungsausschluss für den Fall der Berufsunfähigkeit infolge dieser Krankheit abgeschlossen hätte.

Der Kläger konnte im vorliegenden Fall auch nicht annehmen, der Beklagten komme es für die Bereitschaft zum Abschluss eines Vertrages über eine Berufsunfähigkeitsversicherung nur darauf an, dass die in der vorgedruckten Erklärung ausdrücklich genannten Krankheiten nicht vorliegen. Denn es liegt auf der Hand und ist einem an multipler Sklerose erkrankten durchschnittlichen Versicherungsnehmer bekannt, dass diese Krankheit ein ebenso großes Risiko der Berufsunfähigkeit in sich birgt wie die in dem Antragsformular genannten Krankheiten und dass das Vorliegen oder Nichtvorliegen dieser Krankheit daher für den Entschluss des Versicherers, den Vertrag mit dem vereinbarten Inhalt zu schließen, von ebenso ausschlaggebender Bedeutung ist wie das Vorliegen oder Nichtvorliegen der in dem Antragsformular genannten Krankheiten. Anders als in Fällen, in denen der Versicherer dem Versicherungsnehmer vor Vertragsschluss einen umfangreichen Fragenkatalog präsentiert und darüber hinaus die Namen der Ärzte erfragt, die den Antragsteller regelmäßig behandeln oder in den zurückliegenden Jahren behandelten, durfte der Kläger im Streitfall redlicherweise nicht darauf vertrauen, er habe bereits mit dem wahrheitsgemäßen Ankreuzen der vorgedruckten Erklärung seine Anzeigepflicht vollständig erfüllt. Indem er gleichwohl eine von ihm selbst als gefahrerheblich erkannte Krankheit nicht angab, hat er zumindest billigend in Kauf genommen, dass der Versicherer den Vertrag bei Anzeige der Krankheit nicht oder nicht mit dem vereinbarten Inhalt abgeschlossen hätte.

Indem die Beklagte im Vertrauen auf die Redlichkeit des Antragstellers für diesen erkennbar auf einen umfangreichen Fragenkatalog und auf routinemäßige Nachforschungen bei den behandelnden Ärzten verzichtete, ist ihr die Ausübung des Anfechtungsrechts - anders als in der von dem BGH (Urteil vom 25. März 1992 - IV ZR 55/91 -, BGHZ 117, 385-389, juris) entschiedenen Konstellation - auch nicht wegen Rechtsmissbrauchs (§ 242 BGB) verwehrt.

cc. Die Beklagte hat die Anfechtung des Vertrages rechtzeitig innerhalb der Jahresfrist des § 124 BGB erklärt. Die Anfechtungserklärung der Beklagten genügt auch dem Erfordernis, dass für den Anfechtungsgegner erkennbar sein muss, auf welchen tatsächlichen Grund die Anfechtung gestützt wird (vgl. Palandt/Ellenberger, a.a.O., § 143 Rn. 3 m.w.N.). In dem Anfechtungsschreiben vom 07.03.2013 (Anl. K5) wird die Anfechtung - ebenso wie in der Klageerwiderung der Beklagten - zwar in erster Linie darauf gestützt, dass der Kläger bei Vertragsschluss entgegen der von ihm abgegebenen Erklärung nicht in der Lage gewesen sei, in vollem Umfang seiner beruflichen Tätigkeit nachzugehen. Dieser Gesichtspunkt ist aber untrennbar verbunden mit der bereits bei Vertragsschluss bestehenden MS-Erkrankung des Klägers, auf die in dem Anfechtungsschreiben vom 07.03.2013 ausdrücklich Bezug genommen wurde. Zudem führte die Beklagte in dem Anfechtungsschreiben (dort Seite 4, 5. Absatz) ausdrücklich das vorsätzliche Verschweigen von gefahrerheblichen Umständen - damit ist zweifelsohne die MS-Erkrankung des Klägers gemeint - als Anfechtungsgrund an. Das Erfordernis, dass für den Anfechtungsgegner der Anfechtungsgrund erkennbar sein muss, schließt es im Übrigen nicht aus, nach Ablauf der Anfechtungsfrist solche Gründe nachzuschieben, die in enger inhaltlicher Verbindung zu den bereits zuvor für den Versicherungsnehmer erkennbar gewesenen Gründen stehen (Armbrüster, in: Prölss/Martin, a.a.O., § 22 Rn. 34).

2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 ZPO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hat seine Grundlage in § 709 ZPO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 48 GKG, 3 ZPO.

RechtsgebieteABB, VVGVorschriften§ 2 ABB; § 9 ABB; § 19 VVG

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