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Urteil vom 26.01.2023 · IWW-Abrufnummer 237530

Landesarbeitsgericht Köln - Aktenzeichen 8 Sa 473/22

Einzelfallentscheidung zu einer Kündigung wegen des (hier nicht bewiesenen) Vorwurfs falscher Anschuldigungen gegenüber einem Vorgesetzten


Tenor: I. Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 18.01.2022 - 6 Ca 1367/20 - teilweise abgeändert und wie folgt neu gefasst: 1. Es wird festgestellt, dass die am 24.02.2020 an den Kläger erteilte Weisung, mit Wirkung ab dem 01.03.2020 als Sachbearbeiter in I/Republik Türkei zu arbeiten, unwirksam ist. 2. Es wird festgestellt, dass die am 06.01.2020 an den Kläger erteilte Weisung, mit Wirkung ab dem 06.01.2020 als Sachbearbeiter am Verkaufsschalter des Flughafens K/B zu arbeiten, unwirksam ist. 3. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die beiden fristlosen Kündigungen der Beklagten vom 09.04.2020 aufgelöst worden ist. 4. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die beiden ordentlichen Kündigungen der Beklagten vom 09.04.2020 aufgelöst worden ist. 5. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen. II. Im Übrigen wird die Berufung - einschließlich des Auflösungsantrags - zurückgewiesen. III. Die Kosten des Rechtsstreits sind zu 53% von der Beklagten und zu 47% vom Kläger zu tragen. IV. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer fristlosen, hilfsweise ordentlichen verhaltensbedingten Kündigung und eines im Berufungsverfahren hilfsweise gestellten Auflösungsantrags der Beklagten sowie über die Weiterbeschäftigung des Klägers und über die Wirksamkeit zweier Versetzungen.

Der verheiratete und einem Kind gegenüber zum Unterhalt verpflichtete Kläger ist seit dem 26.04.2010 bei der Beklagten beschäftigt. Zuletzt war er als Operations- und Verkaufsleiter in K zu einer monatlichen Bruttovergütung von 6.833,62 Euro tätig.

Die Beklagte ist ein teilstaatliches türkisches Luftverkehrsunternehmen mit Sitz in I, das in Deutschland mehrere Zweigstellen, u.a. in S, D und K unterhält.

Nachdem der Kläger zunächst auf der Grundlage verschiedener deutscher Arbeitsverträge tätig gewesen war, beantragte er im Februar 2018 einen Status als Expatriat unter Anwendung türkischen Rechts. In der Folge schlossen die Parteien am 27.02.2018 einen Aufhebungsvertrag mit Wirkung zum Ablauf des 31.03.2018. Am 01.04.2018 schlossen die Parteien einen neuerlichen Arbeitsvertrag, der in Ziff. 7 eine Rechtswahl zu Gunsten des türkischen Rechts beinhaltet. Am 25.04.2018 unterzeichnete der Kläger ergänzend eine Verpflichtungserklärung, in der er die Anwendbarkeit türkischer Arbeitsgesetze sowie die von der Beklagten festgelegten Arbeitsbedingungen unter Unternehmensrichtlinien bestätigte (Kopie Bl. 189 d.A.). Die Hintergründe der neuen Vertragsgestaltung sind zwischen den Parteien streitig.

Am 11.12.2019 kam es am Standort der Beklagten in K (N W) zu einer Auseinandersetzung zwischen dem Kläger und seinem Vorgesetzen Herrn D, deren Einzelheiten zwischen den Parteien ebenfalls streitig sind.

Mit E-Mail vom 06.01.2020 wies die Beklagte den Kläger an, mit sofortiger Wirkung am Verkaufsschalter im Abflugterminal am Flughafen K/B zu arbeiten und dort die Forderungen von Kunden abzuwickeln.

Am 24.02.2020 wies die Beklagte den Kläger an, ab dem 01.03.2020 in I/Türkei tätig zu werden und binnen einer Frist von sechs Tagen seine Entscheidung zur Annahme der Stelle mitzuteilen. Mit E-Mail vom 28.02.2020 erklärte der Kläger, die Versetzung von der Position des Verkaufsleiters zum Beamten/Angestellten im Büro I abzulehnen.

Mit zwei Schreiben vom 09.04.2020, einem in deutscher und einem in türkischer Sprache, die dem Kläger am 15.04.2020 zugingen, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis fristlos, hilfsweise fristgerecht.

Gegen die Versetzungen vom 06.01.2020 und 24.02.2020 hat sich der Kläger mit seiner am 04.03.2020 beim Arbeitsgericht Köln eigegangen Klage gewandt, die er hinsichtlich der Kündigung am 16.04.2020 erweitert hat; des Weiteren hat er seine Weiterbeschäftigung begehrt und wegen der Vorfälle am 11.12.2019 Schmerzensgeldansprüche geltend gemacht.

Der Kläger hat die Auffassung vertreten, auf das Arbeitsverhältnis finde deutsches Recht Anwendung. Die Versetzungen seien unwirksam, da die Beklagte in beiden Fälle die Grenzen des Direktionsrechts überschritten habe. So sei ihm am Flughafen K/B eine geringwertigere Tätigkeit zugewiesen worden, was nur im Wege einer Änderungskündigung möglich sei. Die Weisung, in I tätig zu werden, sei auch nach türkischem Recht unwirksam. Zudem sei sie unbillig, da er immer in Deutschland gearbeitet habe, seine Ehefrau in Deutschland verbeamtet und sein Kind hier schulpflichtig sei.

Der Kläger war weiter der Ansicht, die von der Beklagten ausgesprochene Kündigungen seien weder außerordentlich noch ordentlich gerechtfertigt; insbesondere habe er keine unwahren Vorwürfe erhoben. Hierzu hat er behauptet, er sei am 12.11.2019 von seinem Vorgesetzten, dem Zeugen D, beleidigt und körperlich angegriffen worden. Im Zusammenhang mit einem bevorstehenden Urlaub des Zeugen Ö sei er in das Büro von Herrn D gerufen worden, in dem auch Herr Ö anwesend gewesen sei. Dort sei er mit Vorwürfen konfrontiert worden; sobald er sich hierzu habe äußern wollen, sei er immer wieder unterbrochen worden. Als er angeboten habe, sich schriftlich zu äußern, habe der Zeuge D ihn erst am Arm gepackt und sodann an seinem V-Kragen-Pullover, um ihn zum Aufstehen zu bewegen. Beim Hochziehen habe er den Kläger hin und her gerüttelt und ihn dabei auf die Brust geschlagen. Auf die Aufforderung des Klägers, dieses zu unterlassen, habe der Zeuge D geäußert: "Fick dich, verpiss dich, geh raus!". Als der Kläger geäußert habe, dass er so nicht mit ihm sprechen könne, habe der Zeuge D erwidert: "Du Kind jener Fotze, die ich ficke". Sodann habe er den Kläger am Kragen gepackt, ihn mit der Faust im Kinnbereich geschlagen und ihn des Büros verwiesen. Während des gesamten Vorgangs sei der Zeuge Ö im Büro zugegen gewesen.

Nach Verlassen des Büros des Herrn D habe er sich in sein Büro begeben und den Vorgesetzten S anrufen wollen, um von dem Vorfall zu berichten. Nach der Begrüßung habe er das Bewusstsein verloren. Kollegen hätten sodann - was unstreitig ist - den Rettungswagen gerufen; nachdem er dem Rettungsdienst berichtet habe, dass sein Vorgesetzter ihn angegriffen habe, habe der Rettungsdienst die Polizei gerufen. Am Abend habe er sich gegen 19:20 Uhr zur Untersuchung ins Krankenhaus begeben, da er zunehmend Schmerzen im Kieferbereich gehabt habe. Dort habe der Arzt Spuren von Gewalteinwirkung bestätigt und dokumentiert.

Der Kläger war weiter der Ansicht, da er über den Vorfall am 12.11.2019 hinaus systematisch gemobbt und schikaniert werde und sich seit Dezember 2019 in therapeutischer Behandlung befinde, stehe ihm ein Anspruch auf Schmerzensgeld gegen die Beklagte, die sich das Verhalten des Zeugen D als seinem Vorgesetzten zurechnen lassen müsste, zu.

Mit Schreiben vom 25.01.2022 sprach die Beklagte gegenüber dem Kläger eine weitere außerordentliche, hilfsweise ordentliche Kündigung aus. Hinsichtlich dieser Kündigung ist beim Arbeitsgericht Köln eine weitere Kündigungsschutzklage anhängig.

Der Kläger hat beantragt,

1. Es wird festgestellt, dass die am 24.02.2020 an den Kläger erteilte Weisung, mit Wirkung ab dem 01.03.2020 als Sachbearbeiter in I/Republik Türkei zu arbeiten, unwirksam ist. 2. Es wird festgestellt, dass die am 06.01.2020 an den Kläger erteilte Weisung, mit Wirkung ab dem 06.01.2020 als Sachbearbeiter am Verkaufsschalter des Flughafens K-B zu arbeiten, unwirksam ist. 3. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die beiden fristlosen Kündigungen der Beklagten vom 09.04.2020 aufgelöst worden ist. 4. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die beiden ordentlichen Kündigungen der Beklagten vom 09.04.2020 aufgelöst worden ist. 5. Es wird festgestellt, dass das Arbeitsverhältnis auch nicht durch andere Beendigungstatbestände endet, sondern zu unveränderten Bedingungen über den 09.04.2020 hinaus fortbesteht. 6. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger als Operations- und Verkaufsleiter in N W, 5 K zu einem monatlichen Bruttogehalt in Höhe von 6.833,62 € weiter zu beschäftigen. 7. Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger ein in das Ermessen des Gerichts gestelltes Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 3.000,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie hat gemeint, das Arbeitsgericht Köln seit bereits örtlich unzuständig und der Rechtsstreit an das zuständige Arbeitsgericht B/I zu verweisen. Dessen Zuständigkeit ergebe sich aus der zwischen den Parteien geschlossenen Gerichtsstandsvereinbarung. Des Weiteren finde auf Grund der im Arbeitsvertrag vom 01.04.2018 getroffenen Rechtswahl auf das Arbeitsverhältnis türkisches Recht Anwendung. Die Anwendung türkischen Rechts sei auch deshalb naheliegend, weil sich der Sitz der Beklagten in der Türkei befinde. Auch die Durchführung eines Günstigkeitsvergleichs führe zu keinem anderen Ergebnis. Zwar stelle der Kündigungsschutz nach dem deutschen Kündigungsschutzrecht grundsätzlich eine zu berücksichtigende Arbeitnehmerschutzbestimmung gem. Art. 3 Abs. 3 Rom I-VO dar. Dennoch verdränge das deutsche Kündigungsschutzrecht das türkische Recht nicht, da dieses ein vergleichbares bzw. dem Arbeitnehmer günstigeres Schutzniveau biete.

Die Kündigung sei im Übrigen sowohl nach Artikel 25/II-e des türkischen Arbeitsgesetzes als auch gem. § 626 Abs. 1 BGB gerechtfertigt, da der Kläger seinen Vorgesetzten zu Unrecht bezichtigt habe, ihn am 12.11.2019 beleidigt und körperlich angegriffen zu haben; zudem habe der Kläger einen entsprechenden Strafantrag gestellt. Hierzu hat die Beklagte weiter behauptet, der Zeuge D habe den Kläger weder angegriffen und beleidigt, vielmehr habe der Kläger plötzlich und wahrheitswidrig gerufen: "sie dürfen mich nicht anfassen, sie haben mich geschlagen. Ich werde Zank stiften". Sodann habe er in seinem Büro eine Bewusstlosigkeit vorgetäuscht, woraufhin die Kollegen, die den Kläger auf dem Boden liegend antrafen, den ärztlichen Rettungsdienst gerufen hätte. Bis zu dessen Eintreffen habe der Kläger seine Inszenierung fortgeführt. Der ärztliche Rettungsdienst habe beim Kläger lediglich psychische Erregung, aber keine Verletzungen und auch keine Bewusstlosigkeit festgestellt; auch die hinzugerufene Polizei habe keine Anzeichen körperlicher Gewalteinwirkung feststellen können. Dementsprechend sei der Kläger sodann auch seiner Arbeitstätigkeit weiter nachgegangen.

Die Beklagte war weiter der Ansicht, die Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB sei gewahrt. Denn sie habe zunächst das Ermittlungsverfahren Staatsanwaltschaft Köln verfolgt und eigene Ermittlungen zur Erforschung des Sachverhalts angestellt. Da das Ermittlungsverfahren Ende März noch nicht abgeschlossen und ein Abschluss auch nicht absehbar gewesen sei, habe sie die Entscheidung getroffen, das Arbeitsverhältnis zu kündigen.

Hinsichtlich der streitgegenständlichen Versetzungen hat die Beklagte gemeint, der Kläger habe sich mit seinem sog. Expatriat-Status dazu bereit erklärt, nach türkischem Recht an verschiedenen Standorten flexibel einsetzbar zu sein. Das Exekutivkommitee habe mit Beschluss Nr. 201 vom 20.02.2020 in Übereinstimmung mit den internen Richtlinien die Entscheidung getroffen, den Kläger künftig als Angestellten beim Präsidium für Bodenoperationen an den Standort in I/Türkei zu versetzen. Diese Maßnahme sei sowohl nach türkischem als auch nach deutschem Recht wirksam.

Das Arbeitsgericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen D, Ö und T. Hinsichtlich der Einzelheiten der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift des Arbeitsgerichts vom 18.01.2022 (Bl. 395 ff. d.A.) Bezug genommen.

Mit Urteil vom 18.01.2022 hat das Arbeitsgericht der Klage hinsichtlich der Kündigungen vom 09.04.2020 sowie der Versetzungen vom 06.01.2020 und 24.02.2020 stattgegeben und die Beklagte zur Weiterbeschäftigung des Klägers verurteilt; im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Zur Begründung hat das Arbeitsgericht im Wesentlichen ausgeführt, seine internationale Zuständigkeit folge aus Art. 20 Abs. 2, 21 Abs. 2, Abs. 1 b) Ziff. i) EuGVVO, da die Beklagte einen "Wohnsitz" bzw. Niederlassung in Deutschland habe. Die Zuständigkeit der deutschen Gerichte sei auch vertraglich nicht wirksam abbedungen worden, da die vor Entstehung der Streitigkeit getroffene Gerichtsstandsvereinbarung nach Art. 23 Abs. 5 EuGVVO unwirksam sei. Die Prüfung der Rechtswirksamkeit der Kündigungen vom 09.04.2020 richte sich - trotz der vereinbarten Anwendung türkischen Rechts - nach deutschem Recht, da das deutsche Kündigungsschutzrecht als für den Arbeitnehmer als günstiger zu bewerten sei. Hiervon ausgehend sei das Arbeitsverhältnis durch die Kündigungen vom 09.04.2020 nicht aufgelöst worden. Hinsichtlich der außerordentlichen Kündigungen sei bereits die Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB nicht eingehalten; hinsichtlich der ordentlichen Kündigungen fehle es an einem kündigungsrelevanten Verhalten des Klägers. Auch nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe zur Überzeugung der Kammer nicht fest, dass der Kläger den Zeugen D wahrheitswidrig der Beleidigung und Tätlichkeit beschuldigt habe.

Auch die streitgegenständlichen Versetzungen seien - sowohl nach türkischem als auch nach deutschem Recht - unwirksam. Denn das türkische Recht sehe - ebenso wie der Arbeitsvertrag des Klägers - gerade keine einseitige Möglichkeit zur Änderung der Arbeitsbedingungen vor. Im Falle der Anwendung deutschen Rechts seien die Grenzen des arbeitgeberseitigen Direktionsrechts überschritten. Dagegen stehe dem Kläger kein Anspruch auf Schmerzensgeld zu, da die gegenüber dem Zeugen D erhobenen Vorwürfe nicht hätten festgestellt werden können.

Gegen das ihr am 08.03.2022 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 10.03.2022 Berufung eingelegt, die sie am 09.05.2022 begründet hat. Sie ist der Ansicht, das Arbeitsverhältnis sei durch die außerordentlichen, jedenfalls aber hilfsweise fristgerecht ausgesprochenen Kündigungen vom 09.04.2020 beendet worden. Entgegen der Wertung des Arbeitsgerichts habe die durchgeführte Beweisaufnahme ergeben, dass die vom Kläger erhobenen Vorwürfe der groben Beleidigung und der körperlichen Angriffe frei erfunden seien. Der Zeuge D habe den Kläger nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme weder auf die Brust, noch mit der Faust ins Gesicht geschlagen, noch ihn beleidigt. Auch der Kläger selbst habe im Rahmen seiner informellen Befragung eingeräumt, von Herrn D nicht ins Gesicht geschlagen worden zu sein. Dass der Kläger seine unberechtigten Vorwürfe gegenüber den Einsatzkräften des Rettungswagens, der Polizei, dem behandelnden Facharzt für Neurologie, dem behandelnden Hausarzt sowie gegenüber der Unternehmensleitung der Beklagten in I vorgebracht und zudem eine Strafanzeige gegen seinen Vorgesetzen wegen Köperverletzung erstattet habe, habe seinem Verhalten eine besonders hohe Intensität und Reichweite verliehen. Jede der Anschuldigungen stelle bereits für sich ein kündigungsrelevantes Verhalten des Klägers dar. Dies gelte umso mehr, als bereits leichtfertig falsche Anschuldigungen zur Kündigung berechtigen würden.

Die Beklagte meint weiter, jedenfalls sei der nunmehr gestellte Auslösungsantrag begründet. Denn vor dem Hintergrund, dass der Kläger gegen seinen Vorgesetzten D eines Strafanzeige erstattet habe, mit dem frei erfunden Vorwurf, dieser habe ihn mit der Faust ins Gesicht geschlagen und aus dem Büro aus den Flur geschmissen, sei eine weitere, den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit nicht zu erwarten Erschwerend sei zu berücksichtigen, dass der Kläger seine wahrheitswidrigen Behauptungen auch gegenüber der Zentrale in I sowie gegenüber weiteren Stellen erhoben habe.

Die Beklagte beantragt,

1. das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 18.01.2022 - 6 Ca 1367/20 - abzuändern und die Klage abzuweisen; 2. hilfsweise für den Fall des Unterliegens mit dem Antrag zu 1, das Arbeitsverhältnis gegen Zahlung einer Abfindung, deren Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, die aber 29.088,78 € brutto nicht übersteigen sollte, zum Ablauf des 30.07.2020 aufzulösen.

Der Kläger beantragt,

die Berufung einschließlich des hilfsweise gestellten Auflösungsantrags zurückzuweisen.

Er verteidigt unter Wiederholung und Vertiefung seines erstinstanzlichen Vorbringens das angefochtene Urteil. Er vertritt die Auffassung, das Arbeitsgericht sei zu Recht von der Unwirksamkeit der streitgegenständlichen Kündigungen ausgegangen. Denn die durchgeführte Beweisaufnahme habe nicht ergeben, dass der Kläger seinen Vorgesetzten D falsch beschuldigt habe. Auch habe er selbst entgegen den Behauptungen der Beklagten nicht eingeräumt, tatsächlich nicht geschlagen worden zu sein. Richtig sei vielmehr, dass der Kläger vom Zeugen D vom Stuhl gezogen, am Kragen gepackt und aus dem Büro geschmissen worden sei. Beim Schütteln am Kragen und Ziehen Richtung Tür hätten ihn Faustschläge auf die Brust und am Kiefer getroffen. Dass er diesen Sachverhalt gegenüber verschiedenen Stellen geschildert habe, sei durch seine berechtigten Interessen gedeckt, da er die Möglichkeit haben müsse, seine Recht wahrzunehmen und sich zu verteidigen. Auch der Auflösungsantrag der Beklagten könne keinen Erfolg haben, da der Kläger den Zeugen Dn nicht wahrheitswidrig beschuldigt habe und eine gedeihliche Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses weiterhin zu erwarten sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf den Inhalt der erst- und zweitinstanzlichen Schriftsätze nebst Anlagen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, sowie auf die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Entscheidugsgründe

Die Berufung ist hinsichtlich der Weisungen vom 24.02.2020 und 06.01.2020 sowie hinsichtlich der außerordentlichen Kündigungen vom 09.04.2020 unzulässig; im Übrigen ist sie zulässig und hinsichtlich des Weiterbeschäftigungsantrags begründet, im Übrigen ist sie unbegründet.

I. Die Berufung ist statthaft (§§ 8 Abs. 2, 64 Abs. 1 und 2 Buchstabe c) ArbGG), und form- sowie fristgerecht eingelegt worden (§§ 66 Abs. 1 Satz 1, 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, 519, ZPO, § 46g ArbGG). Sie ist, soweit sie sich dagegen richtet, dass das Arbeitsgericht dem gegen die außerordentlichen Kündigungen vom 09.04.2020 gerichteten Kündigungsschutzantrag zu 4. sowie den auf die Feststellung der Unwirksamkeit der Weisungen vom 24.02.2020 und 06.01.2020 gerichteten Anträgen zu 1. und zu 2. stattgegeben hat, jedoch nicht ausreichend begründet worden.

1. Nach § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG iVm. § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO muss die Berufungsbegründung die Umstände bezeichnen, aus denen sich die Rechtsverletzung durch das angefochtene Urteil und deren Erheblichkeit für das Ergebnis der Entscheidung ergeben. Erforderlich ist eine hinreichende Darstellung der Gründe, aus denen sich die Rechtsfehlerhaftigkeit der angefochtenen Entscheidung ergeben soll. Die zivilprozessuale Regelung soll gewährleisten, dass der Rechtsstreit für die Berufungsinstanz durch eine Zusammenfassung und Beschränkung des Rechtsstoffs ausreichend vorbereitet wird. Dabei dürfen im Hinblick auf die aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Rechtsschutzgarantie zwar keine unzumutbaren Anforderungen an den Inhalt von Berufungsbegründungen gestellt werden. Die Berufungsbegründung muss aber auf den Streitfall zugeschnitten sein und im Einzelnen erkennen lassen, in welchen Punkten rechtlicher oder tatsächlicher Art und aus welchen Gründen das angefochtene Urteil fehlerhaft sein soll (BAG 27. Januar 2021 - 10 AZR 512/18 - Rn. 15; BAG, Urteil vom 15. Dezember 2022 - 2 AZR 117/22 -, Rn. 5, juris). Bei mehreren Streitgegenständen muss die Berufung für jeden von der Anfechtung betroffenen Streitgegenstand oder Streitgegenstandsteil besonders gerechtfertigt werden (MüKoZPO/Rimmelspacher, 6. Aufl. 2020, ZPO § 520 Rn. 45; Sächsisches LAG, Urteil vom 7. November 2022 - 2 Sa 282/21 -, Rn. 29, juris.)

2. Nach Maßgabe dieser Grundsätze ist die Berufung hinsichtlich der Anträge zu 1., 2. und 4. unzulässig, da sie sich nicht hinreichend mit dem angegriffenen Urteil des Arbeitsgerichts Köln auseinandersetzt.

a) Das Arbeitsgericht hat hinsichtlich der fristlosen Kündigungen vom 09.04.2020 ausgeführt, die Rechtswirksamkeit der Kündigungen richte sich nach deutschem Kündigungsschutzrecht, das trotz der vereinbarten Anwendbarkeit türkischen Rechts auf Grund des Günstigkeitsvergleichs Anwendung finde, da es ein höheres Schutzniveau als das türkisches Kündigungsschutzrecht biete. Die fristlosen Kündigungen vom 09.04.2020 hätten das Arbeitsverhältnis nicht auflösen können, da sie nicht innerhalb der zweiwöchigen Kündigungserklärungsfrist des § 626 Abs. 2 BGB ausgesprochen worden seien. Denn die Beklagte habe spätestens mit Erhebung der Klage auf Zahlung von Schmerzensgeld, die der Beklagten am 18.03.2020 zugestellt worden war, Kenntnis von den vom Kläger gegenüber dem Zeugen D erhobenen Vorwürfen erlangt. Warum sie die streitgegenständlichen Kündigungen erst am 09.04.2020, dem Kläger zugegangen am 15.04.2020 ausgesprochen habe, habe sie nicht nachvollziehbar erklären können.

Mit diesen, die Entscheidung des Arbeitsgerichts tragenden Gründen, setzt sich die Beklagte mit ihrer Berufungsbegründung nicht auseinander. Diese beinhaltet hinsichtlich der fristlosen Kündigungen vom 09.04.2020 weder Ausführungen zu der Frage des anwendbaren Rechts noch zur Einhaltung der Zwei-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB, sondern rügt die Fehlerhaftigkeit des Urteils im Einzelnen ausschließlich im Hinblick auf die materiellen Kündigungsgründe.

b) Zu den Weisungen vom 06.01.2020 und 24.02.2020 hat das Arbeitsgericht ausgeführt, beide Versetzungen seien sowohl nach türkischem als auch nach deutschem Recht unwirksam. Weder die Regelungen des Arbeitsvertrags noch das türkische Recht sähen die einseitige Möglichkeit zur Änderung der Arbeitsbedingungen vor; vielmehr könnten solche Änderungen vom Arbeitnehmer abgelehnt werden, was im Falle des Klägers auch geschehen sei. Auch nach deutschem Recht seien die Versetzungen unwirksam, weil bei beiden Zuweisungen die Grenzen des arbeitgeberseitigen Direktionsrechts überschritten worden seien. Dies ergebe sich bei der Weisung, als Sachbearbeiter am Verkaufsschalter am Flughafen K/B tätig zu werden bereits daraus, dass es sich um eine geringerwertigere Tätigkeit handele; die Versetzung nach I entspreche jedenfalls nicht billigem Ermessen, da nicht ersichtlich sei, ob und ggf. inwieweit überhaupt eine Interessenabwägung vorgenommen worden sei. Während der Kläger aufgrund dessen, dass er bisher nur in Deutschland gearbeitet habe, wo sich auch sein Lebensmittelpunkt befinde und seine Ehefrau als Beamtin im öffentlichen Dienst tätig sei, ein hohes Interesse daran habe, weiterhin in Deutschland eingesetzt zu werden, habe die Beklagte nicht dargelegt, welche Interessen sie mit der Versetzung des Klägers nach I verfolge.

Auch mit diesen Erwägungen des Arbeitsgerichts setzt sich die Berufungsbegründung nicht hinreichend auseinander. Die Beklagte rügt auf Seite 41 lediglich pauschal: "Anders als das Arbeitsgericht Köln erstinstanzlich meinte, überschreiten die Versetzungen nicht das arbeitgeberseitige Direktionsrecht". Dabei fehlt es an einer Darlegung dessen, aus welchen Gründen das vom Arbeitsgericht gewonnene Ergebnis, d.h. die Überschreitung der Grenzen des Direktionsrechts, fehlerhaft sein soll.

II. Die im Übrigen zulässige Berufung ist hinsichtlich der Verurteilung zur Weiterbeschäftigung des Klägers begründet; im Übrigen bleibt sie - auch im Hinblick auf den zweitinstanzlich hilfsweise gestellten Auflösungsantrag - in der Sache ohne Erfolg.

1. Das Arbeitsgericht hat dem Kündigungsschutzantrag hinsichtlich der ordentlichen Kündigungen der Beklagten vom 09.04.2020 zu Recht und mit zutreffender Begründung stattgegeben.

a) Der Kündigungsschutzantrag ist zulässig; insbesondere sind die deutschen Gerichte trotz der arbeitsvertraglich vereinbarten Zuständigkeit der Gerichte in B (Türkei) international zuständig.

Die internationale Zuständigkeit der deutschen Gerichte ergibt sich aus Art. 20 Abs. 2, 21 Abs. 2, Abs. 1 b) Ziff. i) der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 (EUGVVO). Auf die zutreffende Begründung des Arbeitsgerichts und die dort mitgeteilten und zitierten Rechtsgrundsätze wird im Übrigen Bezug genommen. Die Beklagte hat sich im Rahmen der Berufungsbegründung mit der internationalen Zuständigkeit nicht mehr auseinandergesetzt.

b) Der Kündigungsschutzantrag ist auch begründet. Das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis ist nicht durch die ordentlichen Kündigungen der Beklagten vom 09.04.2020 aufgelöst worden.

aa) Auf das Arbeitsverhältnis findet deutsches Kündigungsschutzrecht Anwendung. Auf die zutreffenden, ausführlichen und von der Berufung nicht mehr angegriffenen Ausführungen des Arbeitsgerichts wird insoweit Bezug genommen.

bb) Die ordentlichen Kündigungen vom 09.04.2020 sind unwirksam, weil sie sozial ungerechtfertigt sind (§ 1 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 KSchG). Sie sind insbesondere nicht durch Gründe, die im Verhalten des Klägers liegen, bedingt.

(1) Eine Kündigung ist iSv. § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG durch Gründe im Verhalten des Arbeitnehmers bedingt und damit nicht sozial ungerechtfertigt, wenn dieser seine vertraglichen Haupt- oder Nebenpflichten erheblich und in der Regel schuldhaft verletzt hat, eine dauerhaft störungsfreie Vertragserfüllung in Zukunft nicht mehr zu erwarten steht und dem Arbeitgeber eine Weiterbeschäftigung des Arbeitnehmers über die Kündigungsfrist hinaus in Abwägung der Interessen beider Vertragsteile nicht zumutbar ist. Auch eine erhebliche Verletzung der den Arbeitnehmer gem. § 241 Abs. 2 BGB treffenden Pflicht zur Rücksichtnahme auf die Interessen des Arbeitgebers kann eine Kündigung rechtfertigen (BAG 19. November 2015 - 2 AZR 217/15 - Rn. 24; 3. November 2011 - 2 AZR 748/10 - Rn. 20). Eine Kündigung scheidet dagegen aus, wenn schon mildere Mittel und Reaktionen von Seiten des Arbeitgebers - wie etwa eine Abmahnung - geeignet gewesen wären, beim Arbeitnehmer künftige Vertragstreue zu bewirken (BAG 19. November 2015 - 2 AZR 217/15 - aaO; 31. Juli 2014 - 2 AZR 434/13 - Rn. 19). Einer Abmahnung bedarf es nach Maßgabe des auch in § 314 Abs. 2 iVm. § 323 Abs. 2 BGB zum Ausdruck kommenden Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes nur dann nicht, wenn bereits ex ante erkennbar ist, dass eine Verhaltensänderung auch nach Ausspruch einer Abmahnung nicht zu erwarten oder die Pflichtverletzung so schwerwiegend ist, dass selbst deren erstmalige Hinnahme durch den Arbeitgeber nach objektiven Maßstäben unzumutbar und offensichtlich (auch für den Arbeitnehmer erkennbar) ausgeschlossen ist (BAG, Urteil vom 16. Dezember 2021 - 2 AZR 356/21 -, Rn. 12; BAG, Urteil vom 5. Dezember 2019 - 2 AZR 240/19 - Rn. 75; juris; BAG, Urteil vom 15. Dezember 2016 - 2 AZR 42/16 -, Rn. 11, juris).

Hierbei kommen bereits leichtfertig falsche Anschuldigungen gegenüber Vorgesetzten und Kollegen als Grund für eine ordentliche Kündigung in Betracht (BAG, Urteil vom 11. Juli 2013 - 2 AZR 994/12 -, Rn. 43, juris). Dies gilt erst Recht für die Aufstellung bewusst unwahrer, ehrenrührige Tatsachenbehauptungen (BAG, Urteil vom 16. Dezember 2021 - 2 AZR 356/21 -, Rn. 16, 37 , juris).

(2) Dass es sich bei den gegenüber verschiedenen Stellen (Einsatzkräfte des Rettungswagens, Polizei, behandelnde Ärzte, Unternehmensleitung der Beklagten in I) abgegebenen Erklärungen des Klägers, der Zeuge D habe ihn am 11.12.2019 tätlich angegriffen, beleidigt und aus seinem Büro "geschmissen" um falsche Anschuldigungen handelt, ist indes nicht feststellbar.

(a) Die primäre Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen falscher Anschuldigungen als kündigungsbegründender Tatsache, trifft die Beklagte.

An dem Grundsatz, dass den Arbeitgeber nicht nur die primäre Darlegungs-, sondern ggf. auch die Beweislast für den von ihm behaupteten Kündigungs- bzw. Auflösungsgrund trifft, ändert es nichts, dass das fragliche Verhalten des Arbeitnehmers zugleich den Tatbestand der üblen Nachrede iSv. § 186 StGB erfüllen könnte (vgl. BAG 27. September 2012 - 2 AZR 646/11 - Rn. 28 und 43; ErfK/Niemann 22. Aufl. BGB § 626 Rn. 236; aA Ascheid Beweislastfragen im Kündigungsschutzprozess S. 140 ff.; ErfK/Oetker KSchG § 1 Rn. 208). Dies gilt nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts schon deshalb, weil die strafrechtliche Beurteilung des inkriminierten Verhaltens für die kündigungs- bzw. auflösungsrechtliche Bewertung nach § 1 Abs. 2, § 9 Abs. 1 KSchG ohne Belang ist (vgl. BAG 31. Januar 2019 - 2 AZR 426/18 - Rn. 75, BAGE 165, 255; 23. August 2018 - 2 AZR 235/18 - Rn. 44; BAG, Urteil vom 16. Dezember 2021 - 2 AZR 356/21 -, Rn. 30, juris).

Die Beweislast verschiebt sich auch nicht deshalb, weil es um den Beweis einer negativen Tatsache geht. Eine solche Beweisführung unterliegt zwar für die beweisbelastete Partei im Allgemeinen besonderen Anforderungen. Doch ist den Schwierigkeiten, denen sich die Partei gegenübersieht, die das Negativum (das Nichtvorliegen einer Tatsache) beweisen muss, im Rahmen des Zumutbaren regelmäßig dadurch zu begegnen, dass sich der Prozessgegner auf die bloße Behauptung des Negativen durch den primär Darlegungs- und Beweispflichtigen seinerseits nicht mit einem einfachen Bestreiten begnügen darf, sondern im Rahmen einer sekundären Darlegungslast vortragen muss, welche tatsächlichen Umstände für das Vorliegen des Positiven sprechen. Dem Beweispflichtigen obliegt sodann (nur) der Nachweis, dass diese Darstellung nicht zutrifft (vgl. BAG 26. Juni 2019 - 5 AZR 178/18 - Rn. 15, BAGE 167, 144; BGH 15. August 2019 - III ZR 205/17 - Rn. 19; 7. März 2019 - IX ZR 221/18 - Rn. 31; 4. Oktober 2018 - III ZR 213/17 - Rn. 15; 24. Juli 2018 - II ZR 305/16 - Rn. 11). Dieser Nachweis kann von der beweisbelasteten Partei auch mithilfe von Indizien erbracht werden (BAG, Urteil vom 16. Dezember 2021 - 2 AZR 356/21 -, Rn. 31, juris m.w.N.)

(b) Nach Maßgabe dieser Grundsätze hat das Arbeitsgericht zu Recht angenommen, dass die Beklagte hinsichtlich der Behauptung, der Zeuge D habe den Kläger nicht geschlagen und beleidigt, beweisfällig geblieben ist.

(i) Nach § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG iVm. § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist das Berufungsgericht grundsätzlich an die Tatsachenfeststellungen des ersten Rechtszuges gebunden. Diese Bindung entfällt aber, wenn konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit entscheidungserheblicher Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten (LAG Rheinland-Pfalz 04. Dezember 2018 - 8 Sa 37/18 - Rn. 75, zitiert nach juris). Konkrete Anhaltspunkte, welche die Bindung des Berufungsgerichts an die vorinstanzlichen Feststellungen entfallen lassen, können sich u.a. aus Fehlern ergeben, die dem Eingangsgericht bei der Feststellung des Sachverhalts unterlaufen sind (vgl. BGH 21. März 2018 - VII ZR 170/17 - Rn. 15 mwN, zitiert nach juris). Konkrete Anhaltspunkte in diesem Sinn sind alle objektivierbaren rechtlichen oder tatsächlichen Einwände gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Sie können sich auch aus Vortrag der Parteien, vorbehaltlich der Anwendung von Präklusionsvorschriften, in der Berufungsinstanz ergeben (BGH 21. März 2018 - VII ZR 170/17 - aaO). Entsprechende Anhaltspunkte können sich insbesondere aus Verfahrensfehlern ergeben, die dem Eingangsgericht bei der Feststellung des Sachverhalts unterlaufen sind. Ein solcher Verfahrensfehler liegt namentlich vor, wenn die Beweiswürdigung in dem erstinstanzlichen Urteil den Anforderungen nicht genügt, die von der Rechtsprechung zu § 286 Abs. 1 ZPO entwickelt worden sind. Dies ist der Fall, wenn die Beweiswürdigung unvollständig oder in sich widersprüchlich ist oder wenn sie gegen Denkgesetze oder Erfahrungssätze verstößt (LAG Baden-Württemberg 11. Dezember 2019 - 3 Sa 30/19 - Rn. 70, mwN, juris; Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 7. Dezember 2022 - 6 Sa 47/22 -, Rn. 39, juris).

(ii) Nachdem die Beklagte behauptet hat, der Zeuge D habe den Kläger nicht tätlich angegriffen und beleidigt, hat der Kläger in Rahmen seiner sekundären Darlegungslast im Einzelnen vorgetragen, dass der Zeuge D ihn am 11.12.2019 im Rahmen einer Auseinandersetzung in dessen Büro zunächst am Arm und sodann an seinem V-Kragen-Pullover gepackt und hochgezogen habe, hierbei habe er den Kläger hin- und her gerüttelt und auf die Brust geschlagen, als er ihn am Kragen gepackt habe, habe er ihn zudem mit der Faust im Kinnbereich getroffen; des Weiteren habe der Zeuge D ihn mit den Worten: "Fick dich/verpiss dich, geh raus" und "du Kind jener Fotze, die ich ficke", beleidigt.

Die folgerichtig durchgeführte Beweisaufnahme hat beim Arbeitsgericht keine dahingehende Überzeugung begründen können, dass der Kläger den Zeugen D unter Vortäuschen falscher Tatsachen der Beleidigung und einer Tätlichkeit beschuldigt hat. Die erstinstanzliche Beweiswürdigung ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht zu beanstanden. Eine Wiederholung der Zeugenvernehmung ist im Rahmen des der Berufungskammer zustehenden Ermessens nach § 398 Abs. 1 Abs. 1 ZPO nicht geboten.

Der Zeuge D hat bei seiner Vernehmung bekundet, der Kläger sei während des Gesprächs am 11.12.2019 - das die Einmischung des Klägers beim Urlaub des Zeugen Ö zum Gegenstand gehabt habe - sehr aufgeregt gewesen, habe laut geredet und sich nicht mehr beruhigt. Er habe ihn wiederholt aufgefordert, das Zimmer zu verlassen, woraufhin der Kläger letztlich auch einfach gegangen sei. Er selbst habe eigentlich die ganze Zeit am Schreibtisch an seinem Schreibtisch gesessen. Lediglich am Ende sei er, wie auch der Kläger und der Zeuge Öir, aufgestanden und habe sich etwas von seinem Stuhl wegbewegt. Er habe den Kläger überhaupt nicht angefasst; auch wechselseitige Beleidigungen habe es nicht gegeben. Der Zeuge Ö hat bekundet, der Kläger sei, als er auch seine Einmischung auf die Urlaubsplanung angesprochen worden sei, "ausgerastet" und habe den Zeugen D und ihn verbal attackiert. Dabei sei er sehr laut gewesen, habe sich immer weiter gesteigert und sei nicht zu beruhigen gewesen. Es habe sich das Mundwerk nicht verbieten und nicht rausschmeißen lassen wollen. Der Zeuge D sei, nachdem er den Kläger mehrfach erfolglos aufgefordert habe, den Raum zu verlassen, aufgestanden, sei zum Kläger gegangen, habe ihn unter dem Arm gehakt/gepackt, damit er aufstehe, und zur Tür gezogen oder geschoben, wobei es auch wechselseitige verbale Attacken gegeben habe. Zu Beleidigungen und Tätlichkeiten sei es aber nicht gekommen. Danach befragt, inwieweit der Zeuge D Gewalt bzw. Energie aufgebracht habe, um den Kläger zum Aufstehen zu bewegen, hat der Zeuge Ö bekundet, nach seiner Wahrnehmung sei der Kläger selbst aufgestanden. Er habe dann die Hände hinter dem Rücken verschränkt und das Kinn hervorgereckt, was ein bisschen wie eine Einladung ausgesehen habe bzw. als ob der Kläger einen Schlag habe provozieren wollen. Auf weiteres Befragen hat der Zeuge Ö erklärt, der Zeuge D habe den Kläger bis zur Tür geschoben und dann von ihm abgelassen, um diese zu öffnen. Er selbst habe dabei - quasi als "Airbag" - zwischen den beiden gestanden, weswegen eigentlich er sich beschweren sollte. Auf die Nachfrage, warum er zwischen dem Kläger und dem Zeugen D gestanden habe, hat der Zeuge Ö erklärt, dieses sei darauf zurückzuführen, dass er ja auch aufgestanden und zur Tür gegangen sei, um dem Raum zu verlassen.

Das Arbeitsgericht hat mit umfassender, ausführlicher und widerspruchsfreier Begründung dargelegt, dass es zur Überzeugung der Kammer feststehe, dass es bei dem Gespräch am 11.12.2019 zwischen den Kläger und dem Zeugen D "hoch her" gegangen sei und sich ein heftiges Streitgespräch entwickelt habe. Die Kammer habe aber Zweifel daran, dass dem Kläger in körperlicher Hinsicht nichts angetan worden sei. Die Zeugen D und Ö zum Hintergrund des Zusammentreffens im Büro und den dortigen Umständen seien aufgrund ihrer jeweils detaillierten, lebensnahen und im Wesentlichen übereinstimmenden Schilderungen, ebenso wie die des Klägers, glaubhaft. Zum Kern des Streits - nämlich ob der Zeuge D den Kläger zunächst am Arm und dann heftig am Kragen gepackt und ihn dabei mit den Fäusten und Brust und Kinn getroffen hat, hätten die Zeugen indes teilweise unterschiedliche Angaben gemacht. Zwar habe keiner der Zeugen Faustschläge gegen die Brust oder das Kinn bestätigt. Der Zeuge D habe jedoch behauptet, den Kläger gar nicht angefasst zu haben und sei bei dieser Einlassung auch geblieben, nachdem er mit den Angaben des Zeugen Ö konfrontiert worden sei, dass er den Kläger jedenfalls am Arm gepackt habe. Die Situation, wie der Zeuge D aufgestanden, sich zum Kläger begeben und diesen am Arm gefasst habe, seien vom Zeugen Ö und dem Kläger im Wesentlichen übereinstimmend geschildert worden. Die Schilderungen des Zeugen Ö, der die Situation ebenso wieder Kläger, auch plastisch demonstriert habe, seien lebensnah und detailliert. Die Schilderungen des Zeugen D, der weiterhin behauptet habe, den Kläger nicht angefasst zu habe und auf Nachfrage ohne Nennung weiterer Details lediglich erklärt habe, dass der Kläger nach diversen Aufforderungen "einfach gegangen" sei, gäben aufgrund der unterschiedlichen Qualität der Aussagen im Hinblick auf ihre Glaubhaftigkeit Anlass zu Zweifeln. Auch sei zu berücksichtigen, dass der Zeuge Ö keine Belastungstendenzen gegenüber dem Zeugen D habe erkennen lassen, sondern vielmehr versucht habe, das Verhalten des Zeugen D zu relativieren.

Dagegen seien die Schilderungen des Zeugen Ö zum weiteren Geschehensablauf nicht schlüssig und nicht überzeugend. Nachdem er sich zunächst angegeben habe, sich nicht zu erinnern, habe er dann auf weiteres Befragen geäußert, der Zeuge D habe den Kläger am Arm zur Tür gezogen und dort von ihm "abgelassen", wobei er quasi als "Airbag" zwischen den beiden gestanden habe; zugleich habe der Zeuge Ö wenig überzeugend geäußert, der Zeuge D sei "sehr vorsichtig" mit dem Kläger umgegangen. Die vom Zeugen Ö gewählten Formulierungen, der Zeuge D habe vom Kläger "abgelassen" und er selbst sei wie ein "Airbag" zwischen beiden gewesen, legten vielmehr nahe, dass es zwischen dem Zeugen D und dem Kläger mehr als ein Herausbegleiten mit der Hand auf dem Arm gegeben habe. Der Zeuge Ö habe auch nicht plausibel erklären können, warum er sich plötzlich zwischen beiden Streitenden befunden und sich wie in Airbag gefühlt habe; seine Schilderungen seien an dieser Stelle eher diffus geblieben. Dieser Eindruck werde durch die glaubhaften Angaben des Zeugen T zum Zustand des Klägers nach dem Streit im Büro gestützt. Dieser habe - im Wesentlichen überstimmend mit den Angaben des Klägers - geschildert, dass der Kläger zunächst Versuche, ihn zu beruhigen, abgewehrt und alle aus seinem Büro geworfen habe. Nachdem man ein Geräusch aus seinem Zimmer gehört und nachgeschaut habe, habe man den Kläger auf dem Boden gefunden; dieser habe gezittert, sei nicht ganz bei sich und auch nicht in der Lage gewesen, zu sprechen. Es habe ausgesehen wie bei einem epileptischen Anfall. Aus diesem Grunde habe man sicherheitshalber den Krankenwagen gerufen. Das Telefon habe mit noch offener Leitung auf dem Boden neben dem Kläger gelegen. Die Kammer habe keine Veranlassung, an den schlüssigen und widerspruchsfreien Angaben des Zeugen T zu zweifeln. Nach Überzeugung der Kammer habe der Kläger jedenfalls unter dem Eindruck der Vorkommnisse im Büro des Zeugen D gestanden, wobei es ihm offenkundig schlecht gegangen sei.

Im Ergebnis können die Kammer auch nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nicht feststellen, was genau sich zwischen dem Zeugen D und dem Kläger abgespielt habe. Sie habe sich auf Grundlage der Zeugenaussagen nicht das notwendige Maß an Gewissheit verschaffen können, dass der Kläger den Zeugen D unter Vorspiegelung falscher Tatsachen wahrheitswidrig der Beleidigung und eines Angriffs beschuldigt habe. Die Kammer sei insbesondere nicht überzeugt, dass der Streit zwischen dem Kläger und dem Zeugen D nur mit viel Aufregung und lauter Stimme aber ohne Beleidigungen und ohne körperliche Übergriffe stattgefunden habe; es bestehe - auch wenn der Kläger bei der Schilderung der Tätlichkeiten in Form von Faustschlägen beim Rütteln und Ziehen am Kragen durch den Zeugen D - übertrieben haben möge - nach dem Gesamteindruck der Kammer keine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger den Zeugen D wahrheitswidrig beschuldigt habe.

(iii) Die in der Berufungsbegründung angeführten Bedenken der Beklagten gegen diese vollständige, umfassende und sorgfältige Beweiswürdigung des Arbeitsgerichts greifen nicht durch.

Soweit die Beklagte in der Berufungsbegründung darauf verweist, dass der Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung vor dem Arbeitsgericht bei seiner informellen Befragung selbst eingeräumt, von Herrn D nicht ins Gesicht geschlagen worden zu sein, ist dieses nicht feststellbar. Nach den Ausführungen des Arbeitsgerichts in seinem Urteil vom 18.01.2022 hat der Kläger im Termin zur Beweisaufnahme der Kammer geschildert, wie er zunächst am Arm vom Stuhl gezogen worden und sodann am Kragen gepackt und geschüttelt worden sei, wobei er Faustschläge des zeugen D auf die Brust (beim Schütteln) und an den Kiefer (beim Zur-Tür-Zerren) abbekommen habe. Dem lässt sich ein Einräumen, tatsächlich nicht geschlagen worden zu sein, nicht entnehmen. Die Beklagte hat auch nicht dargelegt, dass - und ggf. mit welchem Inhalt - der Kläger tatsächlich hiervon abweichende Erklärungen abgegeben haben soll.

Soweit die Beklagte mit der Berufungsbegründung einwendet, das Arbeitsgericht habe bei seiner Beweiswürdigung verkannt, dass gerade keiner der Zeugen eine Tätlichkeit oder Beleidigung durch den Zeugen D gegenüber dem Kläger bestätigt habe, trifft dieses ebenfalls nicht zu. Das Arbeitsgericht hat die Zeugenaussagen vielmehr zutreffend und mit den protokollierten Aussagen übereinstimmend dahingehend wiedergegeben, dass keiner der Zeugen bestätigt habe, dass es zu Beleidigungen und Faustschlägen gegen Brust und Kinn des Klägers gekommen sei. Es hat im Rahmen der Beweiswürdigung sodann widerspruchsfrei und überzeugend begründet, warum die Kammer auf Grund der Zeugenaussagen dennoch keine Überzeugung im Sinne des § 286 Abs. 1 ZPO davon gewinnen konnte, dass der Kläger den Zeugen D fälschlicherweise beschuldigt hat, d.h. es tatsächlich weder zu Beleidigungen noch körperlichen Übergriffen gegenüber dem Kläger gekommen ist. Die Berufungsbegründung enthält zwar wiederholt die Behauptung, die Beweisaufnahme habe erwiesen, dass der Kläger von dem Zeugen D nicht beleidigt und nicht geschlagen worden sei. Hierbei stellt sie jeweils (nur) auf den Inhalt der getätigten Zeugenaussagen ab - die auch vom Arbeitsgericht zutreffend erfasst und wiedergegeben wurden -, ohne sich weiter damit auseinanderzusetzen, dass ein Beweis nicht bereits dann erbracht ist, wenn die zu beweisende Behauptung durch eine (oder mehrere) Zeugenaussage(n) bestätigt wurden, sondern es des Weiteren einer Überzeugung des Gerichts von der Wahrheit der zu beweisenden Tatsachen i.S.d. § 286 Abs. 1 ZPO bedarf. Die nachvollziehbaren Ausführungen des Arbeitsgerichts, aus welchen Gründen bei ihm auch nach Durchführung der Beweisaufnahme Zweifel verblieben sind und die Zeugenaussagen, auch wenn sie Schläge und Beleidigungen des Zeugen D nicht bestätigt habe, dennoch nicht zur Bildung einer hinreichenden Überzeugung davon geführt haben, dass es tatsächlich nicht zu Beleidigungen und körperlichen Übergriffen des Zeugen D gegenüber dem Kläger gekommen ist, sind von der Beklagten nicht substantiiert angegriffen worden.

(iv) Die Berufungsbegründung rügt des Weiteren zu Unrecht, dass das Arbeitsgericht die Gewichtung im Rahmen seiner rechtlichen Würdigung auf das planvolle Vortäuschen falscher Tatsachen, die "Inszenierung" seines Zustands nach Verlassen des Büros und/oder eine Schädigungsabsicht des Klägers gesetzt habe, obschon der Kündigungsvorwurf auf den falschen Anschuldigungen gegen den Zeugen D gefußt habe und jede einzelne der gegenüber mehreren Stellen erhobenen wahrheitswidrigen Vorwürfe zur Kündigung berechtigte, ohne dass es auf eine planvolles Handeln, eine Schädigungsabsicht oder eine Inszenierung des Zustands des Kläger ankomme.

Die Entscheidungsgründe des Arbeitsgerichts lassen entgegen der Darstellung der Beklagten jedoch zweifelsfrei erkennen, dass es sich bei dem überprüften Kündigungsgrund, der Gegenstand der Beweisaufnahme und Beweiswürdigung war, nicht um die Frage handelte, ob der Kläger planvoll oder mit Schädigungsabsicht vorging oder ob er seinen Zustand nach Verlassen des Büros des Zeugen D vorgetäuscht hat, sondern darum, ob der Kläger falsche Vorwürfe gegen den Zeugen D erhoben hat. Das Gericht hat hierbei entgegen den Angriffen der Berufungsbegründung auch berücksichtigt, dass der Kläger die streitgegenständlichen Äußerungen gegenüber mehreren Stellen abgegeben hat. So heißt es auf Seite 14 des Urteils unter B. I. 3. b.) (bb) (2) (bbb), es stehe nach der Würdigung der Zeugenaussagen nicht zur Überzeugung der Kammer fest, dass der Kläger den Zeugen D gegenüber den Rettungskräften, seinen Vorgesetzten, sowie durch die Strafanzeige und das hiesige Klageverfahren wahrheitswidrig falsch beschuldigt habe. Die Kammer könne auf Grundlage der Zeugenaussagen nicht mit dem notwendigen Maß an Gewissheit feststellen, dass der Kläger keinen Beleidigungen und keinem körperlichen Übergriff ausgesetzt war, er beim Herauskomplementieren aus dem Büro nicht doch deutlich robuster handelt wurde, als von der Beklagten behauptet und der Kläger dementsprechend den Zeugen D wahrheitswidrig der Beleidigung und eines tätlichen Angriffs beschuldigt habe.

2. Der hilfsweise gestellte Auflösungsantrag der Beklagten ist unbegründet. Das Arbeitsverhältnis ist nicht gemäß § 9 Abs. 1 S. 2 KSchG aufzulösen, da Gründe, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen den Parteien nicht erwarten lassen, nicht vorliegen.

aa) Der Antrag ist als Eventualantrag für den Fall, dass die Beklagte mit dem auf Abweisung der Klage gerichteten Hauptantrag keinen Erfolg hat, gestellt.

bb) Stellt das Gericht im Falle einer außerordentlichen Kündigung fest, dass diese unwirksam sind - wie hier im Falle der außerordentlichen Kündigungen vom 09.04.2020 - steht die Möglichkeit, eine Auflösung des Arbeitsverhältnisses zu beantragen, nach § 13 Abs. 1 Satz 3 KSchG ausschließlich dem Arbeitnehmer zu (BAG, Urteil vom 29. August 2013 - 2 AZR 419/12 -, Rn. 25 juris; ErfK/Kiel, 23. Aufl. 2023, KSchG § 9 Rn. 10). Eine analoge Anwendung des § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG kommt bereits nach dem eindeutigen Wortlaut des § 13 Abs. 1 Satz 3 KSchG nicht in Betracht (BAG, Urteil vom 15. März 1978 - 5 AZR 831/76 - Rn. 47, juris; Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 6. April 2022 - 7 Sa 181/21 -, Rn. 125, juris).

cc) Der Arbeitgeber kann die gerichtliche Auflösung im Hinblick auf die Sozialwidrigkeit einer ordentlichen Kündigung gem. § 9 Abs.1 Satz 2 KSchG aber dann beantragen, wenn er neben der außerordentlichen Kündigung noch eine vorsorgliche ordentliche Kündigung erklärt hat, die sozial ungerechtfertigt ist (vgl. BAG, Urteil vom10. November 1994 - 2 AZR 207/94 - Rn. 26 mwN., juris; Landesarbeitsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 6. April 2022 - 7 Sa 181/21 -, Rn. 126, juris).

(1) Als Auflösungsgründe für den Arbeitgeber iSv. § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG kommen Umstände in Betracht, die das persönliche Verhältnis zum Arbeitnehmer, eine Wertung seiner Persönlichkeit, Leistung oder Eignung für die ihm übertragenen Aufgaben und sein Verhältnis zu den übrigen Mitarbeitern betreffen. Die Gründe, die eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit zwischen den Vertragspartnern nicht erwarten lassen, müssen nicht im Verhalten, insbesondere nicht im schuldhaften Verhalten des Arbeitnehmers liegen. Entscheidend ist, ob die objektive Lage bei Schluss der mündlichen Verhandlung in der Tatsacheninstanz die Besorgnis rechtfertigt, eine weitere gedeihliche Zusammenarbeit sei gefährdet (BAG 19. November 2015 - 2 AZR 217/15 - Rn. 60; BAG, Urteil vom 24. Mai 2018 - 2 AZR 73/18 -, BAGE 163, 36-46, Rn. 16). In diesem Sinne als Auflösungsgrund geeignet sind etwa Beleidigungen, sonstige ehrverletzende Äußerungen oder persönliche Angriffe des Arbeitnehmers gegen den Arbeitgeber, Vorgesetzte oder Kollegen (BAG, Urteil vom 9. September 2010 - 2 AZR 482/09 -, Rn. 11, juris; LAG Köln, Urteil vom 30. August 2022 - 4 Sa 803/21 -, Rn. 50, juris).

Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen der von ihm behaupteten Auslösungsgründe trägt der Arbeitgeber. Die gilt auch dann, wenn es um den Beweis einer negativen Tatsache geht (BAG, Urteil vom 16. Dezember 2021 - 2 AZR 356/21 -, Rn. 31). Zur Darlegung, weshalb eine den Betriebszwecken dienliche weitere Zusammenarbeit nicht zu erwarten sei, genügen pauschale Wendungen und schlagwortartige Formulierungen ebenso wenig wie eine Verweisung auf die vorgetragenen Kündigungsgründe. Vielmehr muss der Arbeitgeber präzise darlegen und ggf. beweisen, welche Tatsachen zur Begründung der Auflösung herangezogen werden und warum sich daraus die fehlende Basis für eine weitere Zusammenarbeit ergibt (BAG 19. November 2015 - 2 AZR 217/15 - Rn. 60; ErfK/Kiel, 23. Aufl. 2023, KSchG § 9 Rn. 23; Gallner/Mestwerdt/Nägele , Kündigungsschutzrecht, KSchG § 9 Rn. 74, beck-online). Dabei muss der Vortrag des Arbeitgebers so beschaffen sein, dass sich das Gericht, wollte es die Auflösung des Arbeitsverhältnisses auf dieses Vorbringen stützen, nicht in Widerspruch zu seiner Beurteilung des Kündigungsgrundes als unzureichend setzen müsste (BVerfG 15. Dezember 2008 - 1 BvR 347/08 - Rn. 14, BVerfGK 14, 507; 22. Oktober 2004 - 1 BvR 1944/01 - zu II 3 b cc der Gründe, BAG, Urteil vom 24. Mai 2018 - 2 AZR 73/18 -, BAGE 163, 36-46, Rn. 19).

(2) Unter Berücksichtigung dieser Anforderungen hat die Beklagte keine Gründe dargelegt bzw. bewiesen, die zur Annahme einer nicht mehr zu erwartenden den Betriebszwecken dienlichen weiteren Zusammenarbeit führen können.

Die Beklagte hat sich zur Begründung ihres Auflösungsantrags auf die vom Kläger am 11.12.2019 gegen den Zeugen D erstattete Strafanzeige sowie auf die Behauptung gestützt, der Kläger habe gegenüber der Zentrale in I, den Einsatzkräften des Rettungsdienstes, den Polizeibeamten, den Ärzten, der Staatsanwaltschaft Köln und den Mitarbeitern der Beklagten falsche Beschuldigungen erhoben. Die Behauptung wahrheitswidriger Beschuldigungen war auch Gegenstand des Kündigungsvorwurfs. Dass der Kläger den Zeugen D wahrheitswidrig beschuldigt hat, d.h. es zu körperlichen Übergriffen und den behaupteten Beleidigungen tatsächlich nicht gekommen ist, hat die erstinstanzlich durchgeführte Beweisaufnahme indes nicht ergeben. Wegen der weiteren diesbezüglichen Einzelheiten wird auf die obigen Ausführungen unter b) bb) (2) Bezug genommen. Anderweitige Auflösungsründe als den der wahrheitswidrigen Beschuldigung des Zeugen Dn gegenüber verschiedenen Stellen hat die Beklagte nicht geltend gemacht.

3. Die Berufung ist, soweit sie sich gegen die Verurteilung zur Weiterbeschäftigung des Klägers wendet, begründet, da die Beklagte mit Datum vom 25.01.2022 eine weitere Kündigung gegenüber dem Kläger ausgesprochen hat, die Gegenstand eines weiteren, beim Arbeitsgericht Köln anhängigen, Kündigungsschutzverfahrens ist.

Die Grundsätze für einen Weiterbeschäftigungsanspruch außerhalb der engen Voraussetzungen des § 102 Abs. 5 BetrVG für den Zeitraum zwischen Ablauf der Kündigungsfrist bzw. Zugang der außerordentlichen Kündigung und der rechtskräftigen Entscheidung des Kündigungsschutzprozesses hat der Große Senat des BAG in seiner Entscheidung vom 27.02.1985 (BAG, Beschluss vom 27. Februar 1985 - GS 1/84 -, BAGE 48, 122-129) aufgestellt. Hiernach bedarf es jeweils einer Wertung, ob der Arbeitgeber ein überwiegendes Interesse an der Nichtbeschäftigung des Arbeitnehmers hat oder ob das Interesse des Arbeitnehmers an seiner Beschäftigung höher zu bewerten ist. Insofern kann der Bestand des Weiterbeschäftigungsanspruches während des Kündigungsrechtsstreites wechseln. Bis zu einem der Kündigungsschutzklage stattgebenden erstinstanzlichen Urteil begründet grundsätzlich die Ungewissheit über den Ausgang des Kündigungsprozesses ein schutzwertes Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung des gekündigten Arbeitnehmers. Nach einem der Kündigungsschutzklage stattgebenden Urteil ändert sich die Interessenlage. Allein die verbleibende Ungewissheit des Prozessausgangs kann nunmehr für sich allein ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung nicht mehr begründen. Spricht der Arbeitgeber, nachdem ein Gericht ihn zur Weiterbeschäftigung verurteilt hat, wie hier, eine weitere Kündigung aus, so beendet diese den Weiterbeschäftigungsanspruch, wenn sie auf einen neuen Lebenssachverhalt gestützt ist, der es möglich erscheinen lässt, dass die erneute Kündigung eine andere rechtliche Beurteilung erfährt. Der Weiterbeschäftigungsanspruch entfällt hingegen nicht, wenn die neue Kündigung offensichtlich unwirksam ist oder auf dieselben Gründe gestützt wird wie die erste Kündigung (BAG, Beschluss vom 27. Februar 1985 - GS 1/84 -, BAGE 48, 122-129; Landesarbeitsgericht Köln, Urteil vom 6. September 2018 - 6 Sa 64/18 -, Rn. 43 - 44, juris).

Eine offensichtliche Unwirksamkeit der neuerlichen Kündigung der Beklagten ist mangels dementsprechender Anhaltspunkte nicht feststellbar. Der Weiterbeschäftigungsanspruch endete daher mit der Kündigung vom 25.01.2022.

III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 64 Abs. 6 ArbGG i.V.m. § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO.

IV. Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht gegeben, da die Entscheidung auf den Umständen des vorliegenden Einzelfalls beruht.

VorschriftenArt. 3 Abs. 3 Rom I-VO, § 626 Abs. 1 BGB, § 626 Abs. 2 BGB, Art. 20 Abs. 2, 21 Abs. 2, Abs. 1 b) Ziff. i) EuGVVO, Art. 23 Abs. 5 EuGVVO, §§ 66 Abs. 1 Satz 1, 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, § 46g ArbGG, § 64 Abs. 6 Satz 1 ArbGG, § 520 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 ZPO, Abs. 1 b) Ziff. i) der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012, § 1 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 KSchG, § 1 Abs. 2 Satz 1 KSchG, § 241 Abs. 2 BGB, § 323 Abs. 2 BGB, § 186 StGB, § 1 Abs. 2, § 9 Abs. 1 KSchG, § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO, § 286 Abs. 1 ZPO, § 398 Abs. 1 Abs. 1 ZPO, § 9 Abs. 1 S. 2 KSchG, § 13 Abs. 1 Satz 3 KSchG, § 9 Abs. 1 Satz 2 KSchG, § 9 Abs.1 Satz 2 KSchG, § 102 Abs. 5 BetrVG, § 64 Abs. 6 ArbGG, § 92 Abs. 1 Satz 1 ZPO