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Urteil vom 16.03.2023 · IWW-Abrufnummer 237524

Landesarbeitsgericht Köln - Aktenzeichen 8 Sa 728/22

Einzelfallentscheidung zur Frage der Erschütterung des Beweiswertes einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (hier verneint)


Tenor: 1. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 22.09.2022 - 17 Ca 2239/22 - wird zurückgewiesen. 2. Die Kosten des Berufungsverfahrens hat die Beklagte zu tragen. 3. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten über Entgeltfortzahlungsansprüche aus einem beendeten Arbeitsverhältnis.

Wegen des erstinstanzlichen streitigen und unstreitigen Vorbringens sowie der erstinstanzlich gestellten Anträge wird gemäß § 69 Abs. 2 ArbGG auf den Tatbestand des angefochtenen Urteils vom 22.09.2022 Bezug genommen. Mit diesem Urteil hat das Arbeitsgericht die Beklagte zur Zahlung von Entgeltfortzahlung für den Monat Januar 2022 in Höhe von 1.371,43 Euro brutto nebst Zinsen sowie zur Zahlung einer Urlaubsabgeltung in Höhe von 147,69 Euro brutto nebst Zinsen verurteilt. Wegen der Begründung im Einzelnen wird auf die Entscheidungsgründe des vorgenannten Urteils vom 22.09.2022 Bezug genommen. Gegen dieses ihr am 29.09.2022 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 25.10.2022 Berufung eingelegt und diese zugleich begründet.

Die Beklagte wendet gegenüber der erstinstanzlichen Entscheidung ein, das Arbeitsgericht habe der Klage hinsichtlich der geltend gemachten Entgeltfortzahlung zu Unrecht stattgegeben. Denn die Beklagte habe Umstände vorgetragen, aus denen sich Zweifel an der Erkrankung der Klägerin im Zeitraum vom 05.01.2022 bis 17.01.2022 ergäben. Zweifel seien bereits auf Grund der Dauer der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung begründet, die vom 05.01.2022, d.h. zwei Tage nach Übergabe der Kündigung, bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 17.01.2022 reiche und somit passgenau die noch verbleibende Dauer des Arbeitsverhältnisses abdecke. Die Dauer der Arbeitsunfähigkeit sei auch vor dem Hintergrund der Diagnose "Migräne" zweifelhaft, da ein Migräneanfall regelmäßig nur ein bis drei Tage dauere. Erhebliche Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit ergäben sich auch daraus, dass die Klägerin am 04.01.2022 ihre I -Tasse, die sie normalerweise in der Teeküche aufbewahrt habe, bereits am 04.01.2022, und somit noch vor der Krankmeldung, mit nach Hause genommen habe und augenscheinlich selbst davon ausgegangen sei, dass sie nicht mehr zur Arbeit erscheinen werde. Die von der Klägerin vorgelegte Bescheinigung vom 04.02.2022 führe zu einer Verstärkung der Zweifel, da der Klägerin bescheinigt werde, dass sie nach eigenen Angaben bereits seit vier Tagen an schweren Kopfschmerzen litt, obwohl die Klägerin am 03.01.2022 und 04.01.2022 noch zur Arbeit erschienen sei, ohne über Beschwerden zu klagen und entsprechende Beschwerden auf Nachfrage sogar verneint habe. Weitere Zweifel seien begründet, weil die Klägerin am Abend des 04.01.2022 noch ein Video auf I eingestellt habe, in dem sie über Unwohlsein auf Grund einer "Saftkur", nicht aber über Kopfschmerzen geklagt habe und am gleichen Abend noch einen Chat mit ihren Followern durchgeführt habe. Dafür, dass der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keine tatsächliche Erkrankung zu Grunde gelegen habe spreche auch die Aussage der Klägerin gegenüber ihrer Ärztin, wonach die Arbeitsplatzsituation angespannt gewesen sei, obwohl tatsächlich keinerlei Konflikte oder auch nur angespannte Situationen am Arbeitsplatz aufgetreten seien. Angesichts dieser Umstände sei der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert; weitere Umstände dafür, dass die Klägerin tatsächlich erkrankt gewesen sei, habe diese nicht dargelegt.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Arbeitsgerichts Köln vom 22.09.2022 - 17 Ca 2239/22 - teilweise abzuändern und die Klage hinsichtlich des Urteilstenors zu 1. (Verurteilung zur Zahlung von 1.371,43 Euro brutto an die Klägerin) abzuweisen.

Die Klägerin beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie verteidigt unter Wiederholung und Vertiefung ihres erstinstanzlichen Vorbringens das angefochtene Urteil.

Wegen den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die erst- und zweitinstanzlich gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, sowie auf die Sitzungsniederschriften Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I. Die Berufung der Beklagten ist zulässig, weil sie statthaft (§ 64 Abs. 1 und 2 ArbGG) und frist- sowie formgerecht eingelegt und begründet worden ist (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 S. 1 ArbGG, 519, 520 ZPO).

II. Das Rechtsmittel bleibt jedoch in der Sache ohne Erfolg. Das Arbeitsgericht hat der Klage zu Recht und mit zutreffender Begründung hinsichtlich der geltend gemachten Entgeltfortzahlungsansprüche stattgegeben.

Die Klägerin hat für den Zeitraum vom 05.01.2022 bis zum 17.01.2022 einen Anspruch auf Zahlung von Entgeltfortzahlung gem. § 3 Abs. 1 Satz 1, 4 Abs. 1 EFZG i.V.m. § 611a Abs. 2 BGB in Höhe von 1.371,43 Euro brutto, da sie durch Arbeitsunfähigkeit infolge Krankheit an ihrer Arbeitsleistung verhindert war, ohne dass sie ein Verschulden traf.

1. Nach allgemeinen Grundsätzen trägt der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für die Anspruchsvoraussetzungen des § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG (BAG v. 11. Dezember 2019 - 5 AZR 505/18 - Rn. 16, BAGE 169, 117). Der Beweis krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit wird in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung iSd. § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG geführt. Der ordnungsgemäß ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kommt aufgrund der normativen Vorgaben im Entgeltfortzahlungsgesetz ein hoher Beweiswert zu. Darum kann der Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit regelmäßig als erbracht angesehen, werden, wenn der Arbeitnehmer im Rechtsstreit eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorlegt (ständige Rechtsprechung, vgl. nur BAG, Urteil vom 8. September 2021 - 5 AZR 149/21 -, Rn. 12, juris m.w.Nw.). Allerdings kann der Arbeitgeber den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dadurch erschüttern, dass er tatsächliche Umstände darlegt und im Bestreitensfall beweist, die Zweifel an der Erkrankung des Arbeitnehmers ergeben mit der Folge, dass der ärztlichen Bescheinigung kein Beweiswert mehr zukommt (BAG, Urteil vom 8. September 2021 - 5 AZR 149/21 -, Rn. 13, juris). Da die Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung keine gesetzliche Vermutung oder eine Beweislastumkehr auslöst, dürfen an den Vortrag des Arbeitgebers, der ihren Beweiswert erschüttern will, keine - unter Berücksichtigung seiner eingeschränkten Erkenntnismöglichkeiten - überhöhten Anforderungen gestellt werden. Der Arbeitgeber muss gerade nicht, wie bei einer gesetzlichen Vermutung, Tatsachen darlegen, die dem Beweis des Gegenteils zugänglich sind (BAG, Urteil vom 8. September 2021 - 5 AZR 149/21 -, BAGE 175, 358-366, Rn. 14); ernsthafte Zweifel können sich auch aus einer zeitlichen Koinzidenz zwischen bescheinigter Arbeitsunfähigkeit sowie Beginn und Ende der Kündigungsfrist ergeben (BAG, Urteil vom 8. September 2021 - 5 AZR 149/21 -, BAGE 175, 358-366, Rn. 19).

2. Diesen Grundsätzen folgend hat die Klägerin durch Vorlage der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vom 06.01.2022 den Beweis für ihre krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit im streitgegenständlichen Zeitraum erbracht. Die von der Beklagten dargelegten Umstände sind nicht geeignet, den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern.

a) Ernsthafte Zweifel an der Erkrankung der Klägerin ergeben sich nicht bereits aus der teilweisen zeitlichen Überschneidung zwischen bescheinigter Arbeitsunfähigkeit (05.01.2022 bis 17.01.2022) und Kündigungsfrist (02.01.2022 bis 17.01.2022). Dies gilt insbesondere im Hinblick darauf, dass - anders als in Fällen, in denen die bescheinigte Arbeitsunfähigkeit mit Ablauf der Kündigungsfrist endet und der Arbeitnehmer am folgenden Tag "gesundet" eine neue Beschäftigung aufnimmt - im Falle der Klägerin gerade keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich sind, dass sie am 18.01.2022 (wieder) arbeitsfähig war. Die Klägerin hat insoweit nachvollziehbar dargelegt, dass die Bescheinigung der Arbeitsunfähigkeit bis zu 17.01.2022 vor dem Hintergrund erfolgte, dass für den Zeitraum ab 18.10.2022 kein Bedarf für die Ausstellung einer weitergehenden Arbeitsunfähigkeit bestand bzw. insoweit an einem Adressaten fehlte, da sich unmittelbar kein neues Arbeitsverhältnis anschloss und sie auch keine Leistungen der Agentur für Arbeit oder anderer öffentlicher Stellen bezog. Zudem hat sich die Klägerin nicht bereits mit Ausspruch der Kündigung vom 02.01.2022 krankgemeldet, sondern war bis einschließlich 04.01.2022 noch für die Beklagte tätig.

b) Hinreichende Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin ergeben sich ferner nicht aus der Diagnose "Migräne" in Verbindung mit der Dauer der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit von 12 Tagen. Selbst wenn es zutreffen sollte, dass - wie es die Beklagte behauptet - ein Migräneanfall "regelmäßig ein bis drei Tage" dauert, kann hieraus nicht der Schluss gezogen werden, dass im Einzelfall nicht auch Anfälle über längere Zeiträume auftreten und einschließlich ihrer Folgewirkungen Arbeitsunfähigkeitszeiten der hier streitgegenständlichen Dauer begründen können. Zudem ist zu berücksichtigen, dass es sich insoweit nicht um ein neues Krankheitsbild handelt, sondern die Klägerin, bei der bereits am 10.08.2020 fachärztlich eine gesicherte Migräne mit Aura (Klassische Migräne) diagnostiziert worden war, hinsichtlich der von der Beklagten angegriffenen Diagnose eine längere Krankheitsgeschichte nachweisen konnte.

c) Erhebliche Zweifel sind weiter nicht auf Grund der Tatsache begründet, dass die Klägerin am 04.01.2022 ihre I -Kaffeetasse mit nach Hause genommen hat. Denn die Klägerin hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung plausibel geschildert, dass sie die Tasse mit nach Hause genommen habe, da sie im Laufe des Arbeitsverhältnisses festgestellt habe, dass die Tasse im Büro ungenutzt bleibe, weil sie dort keinen Kaffee konsumiere, und sie ihr zu Hause gefehlt habe. Für die Annahme, dass die Klägerin die Tasse am 04.01.2022 tatsächlich mitgenommen hat, weil sie nicht vorhatte, hiernach noch einmal zu Arbeit zu erscheinen, sind keine Anhaltspunkte ersichtlich.

d) Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit der Klägerin ergeben sich auch nicht aus der ärztlichen Bescheinigung vom 04.02.2022 bzw. der dortigen Angabe, dass die Klägerin bei Aufsuchen der Praxis am 06.01.2022 bereits seit vier Tagen an schwerer Kopfschmerzsymptomatik gelitten habe, in Verbindung mit der Tatsache, dass die Klägerin am 03.01.2022 und 04.01.2022 ihrer Tätigkeit bei der Beklagten nachgegangen ist, ohne über Beschwerden zu klagen. Denn die Klägerin war, soweit sie vor der Krankschreibung mit bereits bestehenden Kopfschmerzen, die aber die Erbringung ihrer Arbeitsleistung noch zuließen, weder gegenüber der Beklagten noch gegenüber Kolleginnen oder Kollegen verpflichtet, diese zu offenbaren.

Die ärztliche Bescheinigung vom 04.02.2022 begründet auch vor dem Hintergrund keine Zweifel, dass in ihr eine - von der Beklagten bestrittene - angespannte Arbeitsplatzsituation angegeben wird. Insbesondere kann aus dem Umstand, dass weder Personalgespräche geführt wurden, es zu keinen offenen Konflikten kam und auch keine anderweitigen angespannten Situationen von der Beklagten wahrgenommen wurden nicht abgeleitet werden, dass sich die Arbeitsplatzsituation für die Klägerin subjektiv nicht als angespannt dargestellt hat. Die Klägerin hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung hierzu nachvollziehbar angegeben, sie habe sich, ohne dass hierzu ein Anlass von Dritten begründet worden oder es zu Konflikten gekommen sei, selbst "Stress gemacht" und "unter Druck gesetzt", was schließlich, ohne dass sie eine neue Beschäftigung gefunden hatte, zur Eigenkündigung geführt habe. Dass sich solchermaßen inneren Vorgänge, ebenso wie Kopfschmerzen, nicht nach außen manifestieren und der Wahrnehmung von Dritten entziehen, liegt in der Natur der Sache begründet.

e) Schließlich ist auch das am 04.01.2022 auf der Social-Media-Plattform I gepostete Video der Klägerin nicht geeignet, ernsthaftete Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit zu begründen. Dies gilt auch dann, wenn das fragliche Video erst am selben Tag produziert worden ist, da die Klägerin am 04.01.2022 - auch wenn sie nach eigenen Angaben schon an Kopfschmerzen litt - unstreitig noch nicht arbeitsunfähig erkrankt war und auch ihrer Tätigkeit bei der Beklagten nachgekommen ist.

2. Der Anspruch beläuft sich der Höhe nach auf rechnerisch unstreitige 1.371,43 Euro brutto.

3. Der Zinsanspruch ist aus den §§ 286 Abs. 1 Satz 1 und 2, Nr. 1, 288 Abs. 1 BGB begründet.

III. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 64 Abs. 6 ArbGG, 97 Abs. 1 ZPO; als unterliegende Partei hat die Beklagte die Kosten ihrer Berufung zu tragen.

IV. Gründe für die Zulassung der Revision sind nicht gegeben, da die Entscheidung auf den Umständen des vorliegenden Einzelfalls beruht.

Vorschriften§ 69 Abs. 2 ArbGG, § 64 Abs. 1, 2 ArbGG, §§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 S. 1 ArbGG, 519, 520 ZPO, § 3 Abs. 1 Satz 1, 4 Abs. 1 EFZG, § 611a Abs. 2 BGB, § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG, § 5 Abs. 1 Satz 2 EFZG, §§ 286 Abs. 1 Satz 1, 2, Nr. 1, 288 Abs. 1 BGB, §§ 64 Abs. 6 ArbGG, 97 Abs. 1 ZPO