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  • · Fachbeitrag · Interview

    „Die Klimakrise verändert unser Rechtssystem bereits heute deutlich“

    | Die Sorge um unseren Planeten beschäftigt auch die „Lawyers for Future“. Sie stammen alle aus juristischen Berufsgruppen und haben sich als Verein organisiert, um sich parteiunabhängig und überinstitutionell für den Klimaschutz einzusetzen. Dr. Tessa Hillermann ist Juristin in einer öffentlichen Stiftung in Berlin und zweite Vorstandsvorsitzende von Lawyers for Future. Ursula Katthöfer fragte sie nach den Zielen der Organisation. |

     

    Frage: Die Lawyers for Future wollen das Recht klimafreundlich gestalten. Was müsste dazu geschehen?

     

    Antwort: Eine unserer zentralen Forderungen ist, die ‒ von uns als unzureichend erachteten ‒ Reduktionsziele des Klimaschutzgesetzes (KSG) des Bundes und der entsprechenden Klimagesetze der Bundesländer so anzupassen, dass Deutschland die 1,5° C-Marke aus dem Pariser Klimaabkommen tatsächlich erreichen kann. Daher fordern wir die sofortige rechtliche Umsetzung aller Gesetzesvorhaben, die zur Erreichung von Treibhausgasneutralität bzw. „Nettonull” bis 2035 erforderlich sind. Dazu gehört neben dem Kohleausstieg bis 2030, dass alle Politikbereiche (z. B. Finanz-, Verkehrs- und Arbeitsmarktpolitik) rechtlich so ausgestaltet werden, dass sie ökologische Transformation fördern. Klimaschädliche Subventionen und Vergaben müssten unterbleiben. Zudem ist zentral, dass der von der Bundesregierung angekündigte Klimacheck für alle neuen Gesetzesentwürfe kommt.

     

    Frage: Wie wird die Klimakrise unser Rechtssystem verändern?

     

    Antwort: Sie verändert unser Rechtssystem schon jetzt weit über das Umwelt- und Klimaschutzrecht hinaus. Klimarelevante Aspekte stecken etwa im Kauf-, Verbraucherschutz- (Green Washing), Straf- (Umweltstraftaten, Ökozid), Arbeits- (Mitbestimmung), Schul- und Beamt:innen-, Vergabe-, Steuer- (Pendlerpauschale) und sogar Gesellschaftsrecht. Im Gebäude-Energiegesetz, dem Klimaanpassungsgesetz oder bei der geplanten Reform des StVG spielen Klimaschutz und Klimaanpassung die entscheidende oder mindestens eine große Rolle.

     

    Gleichzeitig sehen wir im Zuge von Klimaprotesten eine verfassungsrechtlich bedenkliche Einschränkung von Grundrechten im Versammlungs- oder Polizeirecht. Die Zahl gerichtlicher Verfahren, die mit dem Klimawandel in Verbindung stehen, steigt. Mit sog. Klimaklagen wird überall auf der Welt vor Gerichten ein ambitionierter Klimaschutz eingefordert, der in der Praxis oft noch nicht passiert. Die Klimaentscheidung des BVerfG hat aber auch schon viele neue Maßstäbe gesetzt (24.3.21, 1 BvR 2656/18 u. a.).

     

    Frage: Ihr Zeugnis für die Bundesregierung: Hält sie sich an das KSG?

     

    Antwort: Der Expertenrat für Klimafragen hat der Bundesregierung in seiner Stellungnahme zum Entwurf des Klimaschutzprogramms im August 2023 bescheinigt, dass das vorgelegte Klimaschutzprogramm 2023 nicht die Anforderung des KSG an ein Klimaschutzprogramm erfüllt. Es bleibe eine Zielerreichungslücke bis 2030. Dementsprechend hält sich die Bundesregierung noch nicht einmal an die von ihr selbst gesetzten Ziele.

     

    Frage: Sie solidarisieren sich mit Fridays for Future und fordern, dass deren Bedeutung auch im Recht anerkannt wird. Wie könnte das geschehen?

     

    Antwort: Der legitime Protest der Aktivist:innen von Fridays for Future wird aktuell insbesondere durch das Schulrecht mehr erschwert als gefördert. Nach geltendem Schulrecht dürfen Schüler:innen in der Regel z. B. nicht zu einem Streik aufrufen: Sie haben ‒ anders als Erwachsene ‒ kein Streikrecht. Das Wahlrecht ab 16 wäre ein wichtiges Mittel, um jungen Menschen im politischen Diskurs eine Stimme zu geben.

     

    Frage: Wie stehen Sie zu Organisation wie Extinction Rebellion und Letzte Generation, die mittels zivilem Ungehorsam Klimaschutz durchsetzen wollen?

     

    Antwort: In einem gemeinsamen Brief mit mehreren weiteren juristischen Vereinen und Verbänden drängen wir auf die Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Umgang mit der „Letzten Generation” (siehe unter iww.de/s8784 ). Anlass waren Ermittlungen der StA Neuruppin gegen die Letzte Generation wegen des Vorwurfs der „Bildung einer kriminellen Vereinigung“ nach § 129 StGB. Gerichte und StA haben die wertungsoffenen juristischen Fragen der Verwerflichkeit und eines rechtfertigenden Klimanotstands unterschiedlich beantwortet. Protestierende wurden vereinzelt freigesprochen. Das KG hat im August entschieden, dass zur Feststellung der Verwerflichkeit eine umfassende Beweiswürdigung notwendig ist, die die Motive der Demonstrant:innen berücksichtigt.

     

    Frage: Wie einfach oder schwierig ist es, andere Juristinnen und Juristen für ein Engagement bei den Lawyers for Future zu begeistern?

     

    Antwort: Viele Jurist:innen engagieren sich privat für Klimaschutz ‒ letztlich kann niemand, der evidenzbasiert arbeitet, die Klimakrise einfach ignorieren. Mittlerweile unterstützen viele die Forderungen der Lawyers for Future öffentlich. Je sichtbarer die Folgen des Klimawandels durch Flutkatastrophen, Hitze und Wasserknappheit werden, umso mehr Anwält:innen, Richter:innen und Verwaltungsjurist:innen werden mobilisiert. Allerdings möchte ich nicht verschweigen, dass es auch Jurist:innen gibt, die in vermeintlichen Fachartikeln unter dem Deckmantel der Rechtswissenschaft aktiv gegen Klimaschutzrecht wettern. Wenn Tatsachen und wissenschaftliche Erkenntnisse falsch dargestellt und Gegenpositionen mit Begriffen, wie „Aktionismus“, „Agitation“ oder „Klageindustrie“ herabgewertet werden, ist das nicht nur eine Gefahr für den Klimaschutz, sondern für den rechtswissenschaftlichen Diskurs als solchen. Da müssen wir als Jurist:innen wachsam sein.

     

    Vielen Dank, Frau Dr. Hillermann!

    Quelle: Ausgabe 12 / 2023 | Seite 213 | ID 49737782