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30.04.2012 · IWW-Abrufnummer 121348

Oberlandesgericht Köln: Beschluss vom 20.03.2012 – III-1 RBs 65/12

Stützt das Tatgericht seine Überzeugung vom Vorliegen eines qualifizierten Rotlichtverstoßes (hier: länger als 1 Sekunde Rot) auf die Entfernungsschätzungen von Zeugen (hier: Polizeibeamte), bedarf es in der Regel einer wertenden Auseinandersetzung mit Grundlagen und Beweiswert dieser Schätzung.


OBERLANDESGERICHT Köln

BESCHLUSS

In der Bußgeldsache

gegen xxx

wegen Verkehrsordnungswidrigkeit

hat der 1. Senat für Bußgeldsachen des Oberlandesgerichts Köln in der Besetzung mit einem Richter

auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen gegen das Urteil des Amtsgerichts Köln vom 1. Dezember 2011

nach Anhörung der Generalstaatsanwaltschaft gemäß § 79 Abs. 3, 5 OWiG

am 20. März 2012
beschlossen:

Das angefochtene Urteil wird mit seinen Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde - an das Amtsgericht Köln zurückverwiesen.

G r ü n d e

I.

Das Amtsgericht hat den Betroffenen „wegen einer fahrlässigen Ordnungswidrigkeit gemäß §§ 37 Abs. 2, 49 StVO, 24 StVG“ zu einer Geldbuße von 300,00 Euro verurteilt und ihm für die Dauer von einem Monat verboten, Kraftfahrzeuge aller Art zu führen.

Zum Schuldspruch hat das Amtsgericht festgestellt:

„Der Betroffene befuhr am 15.2.2011, 6:38 Uhr in Ko. am Steuer des PKW mit dem amtlichen Kennzeichen K MY 199 die S.-Straße aus Richtung N.-Straße kommend und bog an der Einmündung S.-Straße/N.-Damm nach links in Richtung stadtauswärts auf den N.-Damm ein. Dabei zeigte die im Einmündungsbereich angebrachte Lichtzeichenanlage bei Überfahren der Haltelinie durch den Betroffenen seit mindestens 1 Sekunde Rotlicht an.“

Zur Beweiswürdigung hat das Amtsgericht ausgeführt:

„Der Betroffene bestreitet die ihm vorgeworfene Ordnungswidrigkeit.
Er sei auf dem Weg zur Arbeit nach dem Durchfahren des o.g. Einmündungsbereichs durch Polizeibeamte angehalten worden, die ihm einen Rotlichtverstoß vorgeworfen hätten. Er habe aber kein Rotlicht bemerkt. Im Dienst habe ihm ein Kollege, der Zeuge T., mit dem er über den Vorfall gesprochen habe, gesagt, dass die Ampel zurzeit fehlerhaft funktioniere. Er sei dann abends dorthin gefahren und habe die Ampelschaltung beobachtet. Dabei habe er festgestellt, dass die Ampel nach jedem Fahrzeug von Rotlicht auf Grünlicht gesprungen sei und umgekehrt.

Nach einer dienstliche Auskunft des Zeugen D. vom Amt für Straßen und Verkehrstechnik der Stadt Ko. vom 20.6.2011 (BI. 35 BA), die verlesen wurde, war am Kontrollort eine Störung der Lichtsignalanlage 50012 N.-Damm/S.-Straße für den Tatzeitpunkt nicht bekannt. Es sei auch keine Reparatur der Lichtzeichenanlage wegen eines solchen Fehlers in Auftrag gegeben worden.

Der Zeuge PK X. hat angegeben, er habe keine konkrete Erinnerung an den Vorfall mehr.
Nach Vorhalt der Verkehrsordnungswidrigkeitenanzeige, BI. 6 bis 9 BA, und Einsichtnahme in die Anzeige gab er an, diese Anzeige persönlich am Tattag um 8:57 Uhr gefertigt zu haben. Er versicherte die Korrektheit seiner in der Anzeige enthaltenen Angaben, die auf den vor Ort gefertigten Notizen und seiner damals noch konkreten Erinnerung beruhten. Übertragungsfehler schloss er aus. Entsprechend seinen „Bemerkungen" auf Seite 1 der Anzeige habe es sich um eine gezielte Rotlichtkontrolle gehandelt. Dabei werde der Funkstreifenwagen neben einer zwischen dem N.-Damm und der S.-Straße befindlichen freien Fläche auf dem linken Gehweg des N.-Damms aus Fahrtrichtung des Betroffenen gesehen rechts von der S.-Straße aufgestellt. Er und sein Kollege hätten mit freier Sicht in die S.-Straße im Funkstreifenwagen gesessen. Von dort hätten sie die Streuscheibe der für den Betroffenen geltenden LZA seitlich einsehen können und hätten den aus der S.-Straße ankommenden Verkehr bei Rotlicht der LZA gezielt beobachtet. Der Zeuge fertigte eine Skizze der Örtlichkeit, die in Augenschein genommen wurde. Auf den Inhalt der Skizze, BL 17 d.A. wird verwiesen. Der Zeuge gab weiter an, die LZA habe bei der Kontrolle auch einwandfrei funktioniert. Sonst hätten sie die Überwachung abgebrochen. Wenn er in der Anzeige angegeben habe, dass die Lichtzeichenanlage für den Betroffenen beim Passieren der Haltelinie durch diesen seit mehr als einer Sekunde Rotlicht gezeigt habe und sich der Betroffene beim Phasenwechsel von Gelb- auf Rotlicht mindestens 17 m vor der Haltelinie befunden habe, so entspreche dies seinen damaligen Beobachtungen und treffe in jedem Fall zu. Soweit er die Rotlichtdauer mit mehr als einer Sekunde angegeben habe, habe er nicht auf die Uhr geschaut oder gezählt. Es handele sich hier um einen Rückschluss aus der seit Rotlichtbeginn durch den Betroffenen zurückgelegten Strecke und die Einschätzung der benötigten Zeit. Die Strecke schätze er nach Fahrzeuglängen, wobei er eine Fahrzeuglänge jeweils mit 3,50 bis 4 m ansetze. Die Schätzung sei großzügig zu Gunsten des Betroffenen vorgenommen worden.
Der Zeuge POK Y. gab an, Erinnerung an den Einsatz zu haben, nicht jedoch an den vorliegenden Einzelfall. Nach Vorhalt der Verkehrsordnungswidrigkeitenanzeige, BI. 6 bis 8 BA, und Einsichtnahme hierein, gab er an, er habe die von seinem Kollegen abgefasste Anzeige zeitnah durchgelesen. Da er die Anzeige abgezeichnet habe, könne er versichern, dass die Angaben seines Kollegen in der Anzeige seinen damaligen Feststellungen entsprochen haben. Sonst hätte er die Anzeige nicht abgezeichnet. Soweit die Rotlichtdauer in der Anzeige mit mehr als einer Sekunde angegeben worden sei, sei dies zutreffend und sicher. Die Rotlichtdauer hätten sie nach dem Feststellen des Verstoßes aus dem Abstand des Fahrzeugs von der Haltlinie bei Rotlichtbeginn und der Dauer der Fahrt von dort bis zur Haltelinie geschätzt. Bei der Angabe des Abstandes in Metern hätten sie Fahrzeuglängen zugrunde gelegt und sich dabei an geparkten Fahrzeugen orientiert. Bei Ihrer Schätzung seien sie zugunsten des Betroffenen sehr großzügig verfahren.
Von Standpunkt des Funkstreifenwagens aus hätten sie freie Sicht in die S.-Straße und auf die Streuscheibe der für den Betroffenen geltenden Lichtzeichenanlage gehabe. Diese habe während des ganzen Einsatzes einwandfrei funktioniert. Sonst hätten sie den Einsatz abgebrochen und die Störung gemeldet.

Der Zeuge T. gab an, er sei ein Kollege des Betroffenen und habe von diesem von der Rotlichtkontrolle erfahren. Er habe die fragliche Strecke damals häufig befahren. Es habe damals dort eine Baustelle gegeben. Dabei sei ihm mehrfach aufgefallen, dass die Lichtzeichen der Ampelanlage hin und her gesprungen seien. Ein Datum seiner Beobachtungen konnte der Zeuge nicht angeben.

Die Angaben der Zeugen X. und Y. sind glaubhaft. Aufgrund der Beweisaufnahme besteht kein Anlass, an der Glaubwürdigkeit und Zuverlässigkeit der Zeugen zu zweifeln. Die Zeugen machten Ihre Beobachtungen bei einer gezielten Rotlichtkontrolle.
Der Zeuge X. legte seine Beobachtungen in unmittelbarem zeitlichem Zusammenhang in seiner Anzeige nieder. Es besteht kein Anlass an der Ordnungsgemäßheit der Übertragung seiner Beobachtungen in die Anzeige zu zweifeln. Dies gilt umso mehr, als sie vom Zeugen Y. durch seine Abzeichnung zeitnah als korrekt und seinen eigenen Beobachtungen entsprechend bestätigt wurden. Angesichts der Angabe der Zeugen X. und Y. im Zusammenhang mit der dienstlichen Auskunft des Zeugen D. vom Amt für Straßen und Verkehrstechnik der Stadt Ko. vom 20.6.2011 ist auch die ordnungsgemäße Funktion der betroffenen Lichtzeichenanlage glaubhaft erwiesen.
Die Bekundungen des Zeugen T. stehen dem nicht gleichwertig gegenüber, da seine Angaben im Hinblick auf den konkreten Tatzeitpunkt unbestimmt verblieben.

Nach den Bekundungen des Zeugen X. und Y. steht zur Überzeugung des Gerichts auch fest, dass die für den Betroffenen geltende Lichtzeichenanlage zu dem Zeitpunkt, als sie die Halteline überfuhr, seit länger als eine Sekunden Rotlicht zeigte.“

Mit der Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird die Verletzung materiellen Rechts gerügt.

II.

Die Rechtsbeschwerde hat bereits mit der Sachrüge (vorläufigen) Erfolg. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Amtsgericht.

Die Feststellung des Amtsgericht, dass die Rotphase der Wechsellichtzeichenanlage beim Passieren der Haltelinie bzw. der Ampel bereits länger als eine Sekunde andauerte (sog. qualifizierter Rotlichtverstoß), findet in den Urteilsgründen keine zureichend tragfähige Grundlage. Die Ausführungen des Amtsgerichts zur Würdigung des Beweisergebnisses sind insoweit unvollständig und lassen besorgen, dass seine Überzeugung nicht frei von rechtsfehlerhaften Erwägungen gebildet worden ist.

Der Tatrichter muss für das Rechtsbeschwerdegericht nachprüfbar darlegen, dass seine Überzeugung auf tragfähigen tatrichterlichen Erwägungen beruht (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur SenE v. 07.09.2004 - 8 Ss-OWi12/04 - = NJW 2004,3439 = NZV 2004, 651 = DAR 2005, 50 = VRS 107, 384).
Wegen der erheblichen Auswirkungen im Rechtsfolgenausspruch muss insbesondere auch die Feststellung, dass das Rotlicht – im maßgebenden Zeitpunkt des Überfahrens der Haltelinie - länger als eine Sekunde andauerte, vom Tatrichter nachvollziehbar aus der Beweiswürdigung hergeleitet werden (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur Senat a.a.O.).
Damit die Feststellungen eines von einem Zeugen beobachteten qualifizierten Rotlichtverstoßes eine tragfähige Grundlage für die Überprüfung durch das Rechtsbeschwerdegericht bilden, ist es erforderlich, dass der Tatrichter in den Urteilsgründen die von dem Zeugen angewandte Messmethode darstellt und sie hinsichtlich ihrer Beweiskraft bewertet (SenE v. 06.11.2006 – 83 Ss-OWi 81/06; vgl. auch BayObLG DAR 2002, 520 = NZV 2002, 518 = NStZ-RR 2002, 345 = VRS 103, 449). Soll durch Zeugenbeweis - ohne technische Hilfsmittel - ein qualifizierter Rotlichtverstoß bewiesen werden, so ist eine kritische Würdigung des Beweiswertes der Aussagen geboten (SenE a.a.O.).

Diesen Anforderungen genügt die Beweiswürdigung im angefochtenen Urteil nicht.

Das Tatgericht hat seine Überzeugung vom Vorliegen eines qualifizierten Rotlichtverstoßes auf die Entfernungsschätzungen der Polizeibeamten X. und Y. gestützt. Entfernungsangaben, die nicht auf Messungen, sondern ausschließlich auf visuellen Beobachtungen (Schätzungen) beruhen, sind jedoch in der Regel mit einem erheblichen Fehlerrisiko behaftet. Infolgedessen bedarf es in einem solchen Fall einer wertenden Auseinandersetzung mit den Grundlagen dieser Schätzung.

Eine solche hat hier ausweislich der Urteilgründe nicht zureichend stattgefunden.
Die Urteilsgründe lassen befürchten, dass sich das Tatgericht bei seiner Überzeugungsbildung auf die Schätzung des Polizeibeamten verlassen hat, ohne diese einer kritischen Überprüfung (s.o.) zu unterziehen.

Die S.-Straße mündet im stumpfen Winkel in die Straße N.-Damm ein (vgl. zur Beachtung offenkundiger Tatsachen durch das Rechtsbeschwerdegericht, Meyer-Goßner, StPO, 54. Auflage, § 337 Rn. 25, § 244 Rn. 50, 51), so dass mangels anderer Anhaltspunkte nicht ausgeschlossen werden kann, dass der Betroffene unmittelbar vor dem Passieren der Haltelinie noch mit der innerorts zulässigen Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h gefahren ist. Bei 50 km/h legte das Fahrzeug des Betroffenen in einer Sekunde 13,88 m zurück. Ein qualifizierter Rotlichtverstoß läge danach nur dann vor, wenn der Betroffene beim „Umspringen“ der Ampel von Gelblicht auf Rotlicht noch mehr als 13,88 m von der Haltelinie entfernt gewesen wäre (vgl. dazu, dass den Betroffenen bei der Berechnung der Rotlichtzeit eine Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit nicht entlasten würde: OLG Ko. VM 1984, 92; OLG Bremen VRS 79, 38).
Nach den Aussagen der Polizeibeamten X. und Y. soll das der Fall gewesen sein. Ihre Entfernungsangabe von 17 m liegt aber noch so dicht an dem Wert von 13,88 m (Differenz: 3,12 m), dass die Annahme eines qualifizierten Rotlichtverstoßes einer eingehenden Auseinandersetzung mit der Zuverlässigkeit der Schätzungen der Zeugen bedurft hätte.
Diese erübrigte sich nicht etwa deshalb, weil der Zeuge X. angegeben hat, er habe die Strecke nach Fahrzeuglängen geschätzt, wobei er eine Fahrzeuglänge jeweils mit 3,50 m bis 4 m angesetzt habe. Dass der Zeuge in der Lage war, (gedachte) Fahrzeuglängen so in die S.-Straße zu projizieren, dass sich eine zuverlässige Schätzung ergab, versteht sich jedenfalls nicht von selbst. Daran ändert auch nichts die Bekundung des Zeugen, er habe die Schätzung „großzügig zu Gunsten des Betroffenen vorgenommen“. Was der Zeuge unter „großzügig“ versteht, lässt sich den Urteilgründen nicht entnehmen.
Soweit der Zeuge Y. bekundet hat, sie hätten Fahrzeuglängen zugrunde gelegt „und sich dabei an geparkten Fahrzeugen orientiert“, ist unklar, ob es sich um tatsächlich vorhandene Fahrzeuge oder um fiktive Fahrzeuge gehandelt hat, wobei für letzteres die Aussage des Zeugen X. spricht, der parkende Fahrzeuge nicht erwähnt hat, und auch die „Google Maps mit Street View“ zu entnehmende Örtlichkeit, die keine Parkmöglichkeiten für Fahrzeuge erkennen lässt. Soweit der Zeuge bekundet hat, „bei ihrer Schätzung seien sie zugunsten des Betroffenen sehr großzügig verfahren“, gilt das zuvor Angeführte.

Der aufgezeigte Mangel in der Beweiswürdigung führt zur Aufhebung des Urteils insgesamt, obwohl die Feststellungen zwar keinen qualifizierten, wohl aber einen einfachen Verstoß gegen § 37 Abs. 2 StVO belegen. Denn die Frage der Rotlichtdauer betrifft den Schuldumfang und die hierzu getroffenen Feststellungen sind untrennbar mit den Schuldfeststellungen verknüpft (ständige Senatsrechtsprechung, vgl. nur Senat NJW 2004, 3439).
Dass noch Feststellungen getroffen werden können, die einen qualifizierten Verstoß belegen, vermag der Senat nicht auszuschließen.

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