11.05.2011
Hessisches Landesarbeitsgericht: Urteil vom 16.09.2010 – 14 Sa 272/10
Tenor:
Auf die Berufung der Beklagten wird das Urteil des Arbeitsgerichts Offenbach vom 22.01.2009 - 6 Ca 324/09 abgeändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Der Kläger hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Die Parteien streiten darüber, ob eine tariflich geregelte Lohnerhöhung zu einer Lohnerhöhung führt.
Die Rechtsvorgängerin der Beklagten und Berufungsklägerin (im Folgen Beklagte) wurde als A im Jahre B in C gegründet. Daher befand sich der Firmensitz zunächst in C. Im Jahre 1965 wurde der Firmensitz nach D in E verlegt. Die Beklagte ist ein Hersteller von technischen Elektronikbauteilen für verschiedene Industriezweige.
Der Kläger und Berufungsbeklagte (im Folgenden Kläger) ist seit April 1991 für die Beklagte als Arbeitnehmer in Vollzeit tätig.
Zwischen den Parteien ist streitig, ob eine Tariferhöhung, die zwischen dem F und der G (im Folgenden Tarifvertrag) auf das Arbeitsverhältnis anzuwenden ist. Auf den Inhalt des Tarifvertrages (Anlage B 4) wird Bezug genommen. Dieser Tarifvertrag sieht eine Erhöhung der Tariflöhne in zwei Schritten vor. In einem ersten Schritt sollte mit Wirkung ab dem 01. Februar 2009 eine Vorweganhebung des Grundlohns in Höhe von 2,1% erfolgen, in einem zweiten Schritt eine weitere Gehaltserhöhung mit Wirkung ab dem 01. Mai 2009. Nachdem die Beklagte an ihre Mitarbeiter die erste Stufe der Tariflohnerhöhung weitergegeben hat, ist streitig, ob dies auch für die zweite Stufe zu erfolgen hat.
Mit der Rechtsvorgängerin der Beklagten, der A, schloss der damalige Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung unter dem 27. November 1963 ab, in dem es unter Ziffer 1 heißt:
"Betriebsüblich ist für das kaufmännische und für das gewerbliche Personal die Anwendung der jeweils gültigen Tarifverträge, die zwischen dem H und der G für die I abgeschlossen sind."
Auf den Inhalt der Betriebsvereinbarung (Bl. 18 d. A.) wird Bezug genommen. In einer weiteren Betriebsvereinbarung vom 14. März 1967 (Bl. 17 d. A.) heißt es unter Hinweis auf einen Nachtrag zur Betriebsvereinbarung vom 27. November 1963:
"Betriebsüblich ist für das kaufmännische und für das gewerbliche Personal die Anwendung der jeweils gültigen Tarifverträge, die zwischen dem J und der G für die I, Bezirksleitung K abgeschlossen sind.
Im Jahre 1999 wurde die Rechtsvorgängerin A von der Beklagten übernommen.
Im Arbeitsvertrag des Klägers, auf dessen Inhalt Bezug genommen wird (Bl. 25 d. A.), heißt es unter Absatz 4:
"Wir vereinbarten einen Bruttomonatslohn von DM 3.300,- der rückwirkend am Ende eines jeden Monats gezahlt wird. Dieser Betrag setzt sich wie folgt zusammen:
DM 3094,00 laut Tarif in Gruppe HL 09,
DM 206,00 freiwillige Zulage,
DM 3.300 brutto Monatslohn.
Wir behalten uns vor, die in Ihrem Entlohn enthaltene übertarifliche Zulage gegen eine evtl. Erhöhung des Tariflohns aufzurechnen."
Der Kläger erhielt in den Jahren seit seiner Einstellung bis zum Jahre 2004 alle zwischen den Tarifvertragsparteien vereinbarten Lohnerhöhungen zum tariflich vereinbarten Zeitpunkt und in der tariflich vereinbarten Höhe ausgezahlt.
In den Jahren 2005 bis 2008 kam es zwischen den Parteien zu Differenzen über die Weitergabe von Lohnerhöhungen. Die Beklagte gab diese Lohnerhöhungen zum Teil erst nach einer beim Arbeitsgericht anhängigen Klage weiter, wobei diese Verfahren durch Vergleich beendet wurden und im Vergleichstext jeweils nur die Zahlung der Erhöhung enthalten ist.
Streitig ist zwischen den Parteien die Zahlung der Lohnerhöhung von 2,1% für die Monate Mai bis Oktober 2009 in Höhe von zuletzt 63,31 Euro brutto monatlich. Für diese zweite Stufe sieht der Tarifvertrag in § 5 eine Öffnungsklausel vor. Diese lautet wie folgt:
"Durch freiwillige Betriebsvereinbarung kann der Beginn der Tarifperiode entsprechend der wirtschaftlichen Lage des Betriebes vom 01. Mai 2009 bis längstens zum 01. Dezember 2009 verschoben werden. In diesem Falle gelten die Lohn- und Gehaltstabellen sowie die Ausbildungsvergütungen vom 01. Februar 2009 bis zu dem in der Betriebsvereinbarung festgelegten Zeitpunkt weiter."
Die Beklagte schloss am 09. November 2009 mit dem Gesamtbetriebsrat eine Gesamtbetriebsvereinbarung zur Entgeltanpassung, auf die Bezug genommen wird (Anlage B 03). Hierin ist geregelt, dass die zweite Stufe der tariflich vorgesehenen Entgelterhöhung rückwirkend erst mit Wirkung ab dem 01. Oktober 2009 an die Mitarbeiter weitergegeben wird.
Die Beklagte gehört dem F als Mitglied ohne Tarifbindung an. Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte kraft betrieblicher Übungen an den Tarifvertrag gebunden ist.
Wegen des weiteren erstinstanzlichen Sachvortrags der Parteien wird auf Tatbestand und Entscheidungsgründe des Urteils des Arbeitsgerichts Offenbach vom 22. Januar 2010Bezug genommen. Das Arbeitsgericht Offenbach hat der Klage stattgegeben. Es hat ausgeführt, dass der Kläger einen Anspruch auf die Tariflohnerhöhung aus dem Gesichtspunkt der betrieblichen Übung habe. Dies ergebe sich aus der langjährigen Praxis der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängerin, wonach die jeweiligen Tariflohnerhöhungen an die Mitarbeiter weitergegeben worden sind. Hieraus lasse sich folgern, dass sich die Beklagte gegenüber den Mitarbeitern verpflichten wollte, die jeweiligen Tariflohnerhöhungen auch in Zukunft an den Kläger weiterzugeben. Dies folge des Weiteren auch aus der Betriebsvereinbarung vom 27. November 1967, da dort die Betriebsüblichkeit der Anwendung der jeweils gültigen Tarifverträge festgestellt werde. Diese Betriebsvereinbarung enthalte keine eigenständige Regelung, sondern stelle lediglich die Betriebsüblichkeit der Anwendung der Tarifverträge fest. Zudem habe die Beklagte die jeweiligen Tariflohnerhöhungen vorbehaltlos an die Mitarbeiter weitergegeben.
Das Arbeitsgericht hat ferner ausgeführt, dass eine wirksame Verschiebung der Tariflohnerhöhung durch die Gesamtbetriebsvereinbarung vom 09. November 2009 nicht erfolgt sei, da eine derartige Verschiebung nur vor Beginn der Lohnperiode vorgenommen werden könne, nicht jedoch danach. Dies folge aus dem Tarifwortlaut sowie aus Sinn und Zweck der Regelung.
Gegen dieses Urteil, das der Beklagten am 26. Januar 2010 zugestellt worden ist, hat die Beklagte mit Schriftsatz, der am 23. Februar 2010 beim Hessischen Landesarbeitsgericht eingegangen ist, Berufung eingelegt und diese nach rechtzeitiger Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis 26. April 2010 am 26. April 2010 im Einzelnen begründet.
Die Beklagte wiederholt und vertieft ihren Vortrag aus dem ersten Rechtszug. Sie vertritt die Auffassung, dass allein aus der bisherigen Handhabung der Weitergabe der Tariflohnerhöhungen eine betriebliche Übung nicht abgeleitet werden könne. Ebenso wenig könne dies aus der Gesamtbetriebsvereinbarung der Jahre 1963, und 1967 abgeleitet werden. Die dort enthaltene Regelung sei unwirksam, da derartige Betriebsvereinbarungen gegen § 77 Abs. 3 BetrVG verstießen. Der konstitutive Charakter dieser Betriebsvereinbarungen folge auch daraus, dass dort eine rückwirkende Geltung ab dem 01. Januar 1966 geregelt sei. Auch aus Sinn und Zweck sowie Systematik der Regelung der Betriebsvereinbarung folge, dass diese einen konstitutiven Rechtscharakter hätten. Zudem befasse sich die Betriebsvereinbarung nur mit der Regelung im Jahre 1967, eine betriebliche Übung könne jedoch nach der zum damaligen Zeitpunkt geltenden Rechtsprechung durch eine abweichende Übung abgeändert und beseitigt werden. Auch durch die Gesamtbetriebsvereinbarung sei die Tariferhöhung ausgeschlossen. Das Arbeitsgericht berücksichtige nicht, dass solche Betriebsvereinbarungen auch rückwirkend Wirksamkeit entfalten könnten. Ein Vertrauenstatbestand sei bei den Mitarbeitern nicht entstanden, da die Mitarbeiter bereits mit Schreiben vom 28. April 2009 (Anlage B 01) und 29. Juni 2009 (Anlage B 02) darüber informiert worden seien, dass eine Entscheidung über die Tariflohnerhöhung erst später erfolge und tatsächlich die Erhöhung nicht gezahlt worden sei.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Arbeitsgerichts Offenbach vom 22. Januar 2010, Az: 6 Ca 324/09, abzuändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger bittet um Zurückweisung der Berufung. Er verteidigt das angefochtene Urteil unter Wiederholung und Vertiefung seines Vortrages aus dem ersten Rechtszug. Der Kläger vertritt die Auffassung, dass bereits aus den Betriebsvereinbarungen der Jahre 1963 und 1967 eine betriebliche Übung dergestalt abgeleitet werden könne, dass auf Dauer die jeweils tarifvertraglich geregelten Tariflohnerhöhungen an die Mitarbeiter weitergegeben werden sollten. Dies folge auch aus den vorbehaltslosen Zahlungen der Tariflohnerhöhungen in der Vergangenheit. Zudem bestehe die Betriebsvereinbarung aus dem Jahr 1967 bis zum heutigen Zeitpunkt ungekündigt fort. Die Beklagte habe auch die Tariflohnerhöhungen jeweils vorbehaltlos weitergegeben.
Schließlich stehe der Forderung auch nicht die Gesamtbetriebsvereinbarung vom 09. November 2009 entgegen, da der Tarifvertrag lediglich eine Verschiebung der Tariflohnerhöhungen vorsehe, eine rückwirkende Regelung bereits entstandener Lohnansprüche sei daher nicht zulässig.
Wegen des weiteren Sachvortrages der Parteien wird auf den Inhalt der in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Schriftsätze der Parteien, insbesondere die Berufungsbegründung der Beklagten vom 26. April 2010 sowie ihren Schriftsatz vom 08. September 2010 sowie die Berufungserwiderung des Klägers vom 31. Mai 2010 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die gem. den §§ 8 Abs. 2 ArbGG, 511 ZPO sowie aufgrund der Zulassung der durch das Arbeitsgericht gem. § 64 Abs. 2 Buchstabe a statthafte Berufung ist fristgerecht und ordnungsgemäß eingelegt worden (§§ 66 Abs. 1, 64 Abs. 6 ArbGG, 519, 520 ZPO).
Die Berufung hat auch in der Sache Erfolg, da sie begründet ist. Zwar folgt das Gericht den Erwägungen der erstinstanzlichen Entscheidung, wonach im Betrieb der Beklagten eine betriebliche Übung besteht, die jeweiligen Entgelttarifverträge der L auf die Arbeitsverhältnisse anzuwenden. Damit fällt auch der Kläger unter den Anwendungsbereich dieser betrieblichen Übung. Entgegen der Auffassung des Arbeitsgerichts ergibt sich jedoch aus der Auslegung des Tarifvertrages, dass durch eine freiwillige Betriebsvereinbarung, die erst nach dem 01. Mai 2009 abgeschlossen wurde, wirksam der Beginn der Tarifperiode verschoben werden konnte. Im Einzelnen gilt Folgendes:
1. Zutreffend geht das Arbeitsgericht in seiner rechtlichen Beurteilung davon aus, dass dem Kläger grundsätzlich ein Anspruch auf eine Tariflohnerhöhung aufgrund betrieblicher Übung zusteht.
1.1 Unter einer betrieblichen Übung wird die regelmäßige Wiederholung bestimmter Verhaltensweisen des Arbeitgebers verstanden, aus denen die Arbeitnehmer schließen können, ihnen solle eine Leistung oder Vergünstigung auf Dauer gewährt werden. Dem Verhalten des Arbeitgebers wird eine konkludente Willenserklärung entnommen, die vom Arbeitnehmer gem. § 151 BGB angenommen werden kann. Folge ist ein vertragliches Schuldverhältnis, aus dem ein einklagbarer Einspruch auf die üblich gewordene Vergünstigung erwächst. Auf einen entsprechenden Verpflichtungswillen des Arbeitgebers kommt es nicht an (vgl. BAG, Urteil vom 28. Mai 2008 - 10 AZR 274/07 - juris unter Randziffer 15 ebenso BAG vom 25. Juni 2006 - 10 AZR 385/05 - juris jeweils mit weiteren Nachweisen).
1.2 Zutreffend kommt das Arbeitsgericht zu der Wertung, dass aufgrund der regelmäßigen Zahlungen der Beklagten im Anschluss an Tariflohnerhöhungen die zu diesem Zeitpunkt beschäftigten Arbeitnehmer davon ausgehen konnten, dass auf ihr Arbeitsverhältnis die Tarifverträge der L angewendet werden sollen, jedenfalls nachdem die Beklagte dies über einen längeren Zeitraum von mehr als zehn Jahren in der Folge praktiziert hat.
Das Gericht verkennt nicht, dass die bloße langjährige Anpassung der Gehälter an die jeweiligen tariflichen Entwicklungen sowie die Mitteilung hierüber allein keinen Anhaltspunkt liefert, um von einer betrieblichen Übung auszugehen. Dies gilt auch für die Einstufung in eine bestimmte Gehaltsgruppe eines Manteltarifvertrages (vgl. BAG Urteil v. 09.02.2005 - 5 AZR 284/04 - juris unter Randziffer 18). Eine derartige Verhaltensweise kann bei einem nicht tarifgebundenen Arbeitgeber wie der Beklagten eine betriebliche Übung nicht begründen, da grundsätzlich davon auszugehen ist, dass ein nicht tarifgebundener Arbeitgeber sich künftig nicht der Regelungsmacht der Verbände unterwerfen will. Entsprechend fordert das Bundesarbeitsgericht, dass allein aus einer regelmäßigen Tariflohnerhöhung eine Tarifbindung für die Zukunft nicht abgeleitet werden kann. Vielmehr bedarf es zusätzlicher Anhaltspunkte neben einer regelmäßigen Erhöhung, um von einer betrieblichen Übung auszugehen (vgl. BAG, Urteil vom 09. Februar 2005 unter Randziffer 24).
1.3 Diese von der Rechtsprechung geforderten zusätzlichen Anhaltspunkte liegen im Streitfall vor. Sie ergeben sich aus den Äußerungen der Beklagten im Zusammenhang mit den Abschlüssen von Betriebsvereinbarungen. Aus den Betriebsvereinbarungen der Jahre 1963 und 1967 wird deutlich, dass der Arbeitgeber jeweils eine betriebliche Übung voraussetzt, wonach die jeweils einschlägigen Tarifverträge auf die Arbeitsverhältnisse der Arbeitnehmer Anwendung finden sollen.
Grundsätzlich folgt allerdings aus der ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts, dass ein Anspruch aus betrieblicher Übung nur entstehen kann, wenn es an einer kollektiv- oder individualrechtlichen Grundlage für die Leistungsgewährung fehlt (BAG, Urteil vom 20. Juni 2007 - 10 AZR 410/06 - NZA 2007 Seite 1293, ferner Urteil vom 24. November 2004 - 10 AZR 202/04 - BAG-E113 Seite 29 (39)).
Zunächst fehlt es an einer individualrechtlichen Regelung. Im Arbeitsvertrag des Klägers ist lediglich auf eine bestimmte Eingruppierung in eine Lohngruppe abgestellt worden, was für sich genommen einen Anspruch nicht begründen kann. Gleiches gilt für Mitteilungen der jeweiligen Tariflohnerhöhungen, auch aus diesen lässt sich keine zwischen den Parteien getroffene konkludente vertragliche Vereinbarung ableiten.
Ein Anspruch folgt auch nicht direkt aus den in Bezug genommenen Betriebsvereinbarungen der Jahre 1963 und 1967, insbesondere haben sie entgegen der Rechtsauffassung der Beklagten keinen konstitutiven Charakter. Dies wird bereits aus der Betriebsvereinbarung vom 27. November 1963 deutlich. In Ziffer 1 wird nicht konstitutiv die Anwendbarkeit von Tarifverträgen für das Arbeitsverhältnis geregelt, sondern lediglich festgestellt, dass die Anwendung der jeweiligen Tarifverträge betriebsüblich sei. Gleiches gilt auch für Ziffer 2 der Betriebsvereinbarung, hier wird lediglich im Bereich der personellen Mitbestimmung auf gesetzliche Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes Bezug genommen wird. Auch hier wird man schwerlich einen Willen der Betriebsparteien ableiten können, wonach bestimmte Regelungen des Betriebsverfassungsgesetzes konstitutiv aufgrund der Betriebsvereinbarung Gültigkeit haben sollen, vielmehr wird nur auf die gesetzliche Regelung Bezug genommen. Nicht verkannt wird demgegenüber, dass andere Regelungen der Betriebsvereinbarung, so unter Ziffer 3 und 4 konstitutive Regelungen enthalten.
Gleiches gilt für die Auslegung der Betriebsvereinbarung vom 14. März 1967. Auch aus der Formulierung dieser Vereinbarung wird deutlich, dass nicht konstitutiv mit dem Abschluss der Betriebsvereinbarung die jeweiligen Tarifverträge gelten, sondern es wird lediglich deren betriebsübliche Anwendung festgestellt, diesmal aufgrund des Wechsels den neuen Tarifbereich der L. Die Arbeitgeberin macht mithin deutlich, dass sie ab dem 01. Januar 1966 diese Tarifverträge anwenden will.
Dieser Auslegung steht auch nicht entgegen, dass in § 1 der Betriebsvereinbarung eine "rückwirkende Änderung" sowie der Umstand erwähnt wird, dass aufgrund des zu damaligen Zeitpunkt erst kürzlich erfolgten Umzuges in ein anderes Tarifgebiet von einer längeren Praktizierung der entsprechenden Tarifverträge noch keine Rede sein kann. Ausreichend ist jedoch, dass durch diese Betriebsvereinbarungen deutlich wird, dass zusätzliche Anhaltspunkte neben den jeweiligen Tariflohnerhöhungen bestehen, wonach der Arbeitgeber die Tarifverträge der L künftig auf die Arbeitsverhältnisse anwenden will. Es kommt daher auch nicht darauf an, ob die Betriebsvereinbarungen ungekündigt weiter gelten oder ob dem Arbeitgeber die jeweiligen Betriebsvereinbarungen unbekannt waren. Deutlich wird vielmehr, dass jeweils in der Vergangenheit seit dem Jahre 1967 nicht allein nur die Tariferhöhungen an die Arbeitnehmer weiter gegeben wurden, sondern der Arbeitgeber insgesamt von der Anwendbarkeit der Tarifverträge aufgrund betrieblicher Übung ausgegangen ist. Damit steht dem Kläger grundsätzlich auch die Tariflohnerhöhung des hier streitigen Jahres 2009 zu.
2. Entgegen der Rechtsauffassung des Arbeitsgerichts ergibt jedoch die Auslegung des Tarifvertrages, dass durch eine Gesamtbetriebsvereinbarung, die auch erst zu einem späteren Zeitpunkt abgeschlossen wird, eine Verschiebung des Beginns der Tarifperiode möglich ist.
2.1 Von seinem rechtlichen Ausgangspunkt her gibt das Arbeitsgericht zutreffend die Kriterien für die Auslegung von Tarifverträgen wieder. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Soweit der Tarifwortlaut nicht eindeutig ist, ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mit zu berücksichtigen, soweit er in den tariflichen Vorschriften seinen Niederschlag gefunden hat. Dabei ist auf den tariflichen Gesamtzusammenhang abzustellen, da nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm erfasst werden können. Ohne Bindung an eine bestimmte Reihenfolge sind weitere Kriterien zu berücksichtigen wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, die praktische Tarifübung und die Praktikabilität der Auslegungsergebnisse. Insgesamt gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (vgl. BAG, Urteil vom 11. Februar 2009 - 10 AZR 264/08 - juris).
2.2 Zutreffend geht das Arbeitsgericht bei der Auslegung des Tarifvertrages zunächst vom Wortlaut aus, wobei an das Wort "verschieben" anzuknüpfen ist. Anders als das Arbeitsgericht lässt jedoch der Wortlaut die Möglichkeit offen, auch zu einem späteren Zeitpunkt über das Verschieben einer Lohnerhöhung jedenfalls dann zu entscheiden, wenn diese noch nicht an die Begünstigten weitergegeben worden ist. Dies setzt eine Rückwirkung der hierzu erforderlichen Betriebsvereinbarung voraus, die jedoch grundsätzlich rechtlich möglich ist, soweit nicht seitens der Beteiligten bereits ein Vertrauenstatbestand geschaffen wurde. Ein solcher liegt im Streitfall nicht vor, da die Beklagte durch verschiedene Schreiben deutlich gemacht hat, dass sie die Weitergabe der Tariflohnerhöhung an den Abschluss einer entsprechenden Betriebsvereinbarung knüpfen will. Auf die Überlegungen des Arbeitsgerichts zur Rückabwicklung bereits erfolgter Zahlungen können dahingestellt bleiben, da jedenfalls die Beklagte für die hier streitigen Monate keine Zahlungen geleistet hat, sodass auch insoweit ein Vertrauenstatbestand nicht entstehen konnte. Der Tarifvertrag selbst schließt die Möglichkeit einer nachträglichen Betriebsvereinbarung nach dem 01. Mai nicht aus. Jedenfalls hat die Beklagte vor dem Mai 2009 sowohl gegenüber dem Betriebsrat als auch gegenüber der Belegschaft ausreichend deutlich gemacht, dass sie die Tariflohnerhöhung zunächst nicht an die Arbeitnehmer weitergeben will, sondern eine entsprechende Vereinbarung über eine Verschiebung mit dem Betriebsrat treffen will. Nachdem auch den Tarifvertragsparteien die Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts zur möglichen Rückwirkung von Betriebsvereinbarungen bekannt ist (vgl. BAG, Urteil vom 19. September 1995 - 1 AZR 208/05 - juris), dies jedenfalls dann, wenn die Grundsätze des Vertrauensschutzes beachtet werden, war es den Betriebsparteien möglich, unter Beachtung der Grenzen einer möglichen Rückwirkung auch im November eine wirksame Vereinbarung über ein späteres Inkrafttreten der Lohnerhöhung abzuschließen.
3. Insgesamt erweist sich damit die Berufung als begründet. Der Kläger hat als unterlegene Partei die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Aufgrund der grundsätzlichen Fragen zur Auslegung des Tarifvertrages sowie entsprechender, auch in anderen Tarifverträgen enthaltenen Regelungen zum Hinausschieben möglicher Lohnerhöhungen durch Betriebsvereinbarung war die Revision zuzulassen.