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14.06.2023 · IWW-Abrufnummer 235771

Landesarbeitsgericht Sachsen: Urteil vom 17.03.2023 – 4 Sa 78/22

Kritische Berichterstattung in sozialen Medien ist Betriebsratsmitgliedern durchaus gestattet und stellt keinen Kündigungsgrund dar.


In dem Rechtsstreit
...
...
- Berufungskläger / Kläger -
Prozessbevollm.:
Rechtsanwalt ...
...
gegen
... AG
vertreten durch den Vorstand ... (Vors.) u.a. Werk ..., Werkleiter ...
...
- Berufungsbeklagte und Berufungsklägerin / Beklagte -
Prozessbevollm.:
...
...
hat das Sächsische Landesarbeitsgericht - Kammer 4 - durch den Richter am Landgericht ... als Vorsitzenden und die ehrenamtlichen Richter Herr ... und Herr ... auf die mündliche Verhandlung vom 17. März 2023
für Recht erkannt:

Tenor:

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Leipzig vom 03.02.2022 -1 Ca 2830/20- abgeändert.

1. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die außerordentliche fristlose Kündigung der Beklagten vom 14.10.2020 nicht aufgelöst worden ist.2. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die außerordentliche fristlose Kündigung der Beklagten vom 22.10.2020 aufgelöst worden ist.3. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzrechtsstreits zu unveränderten Bedingungen als Fachkraft Produktion ... weiter zu beschäftigen.

II. Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits I. und II. Instanz.

III. Die Revision ist nicht zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten in der Berufungsinstanz weiterhin über die Rechtmäßigkeit von zwei ausgesprochenen außerordentlichen Kündigungen und vorläufige Weiterbeschäftigung.

Der Kläger ist seit dem 07.10.1991 bei der Beklagten beschäftigt. Die Beklagte betreibt .... Der Kläger war im Bereich Produktion ... tätig. Seit dem 01.04.2018 ist der Kläger ordentliches Mitglied des Betriebsrates des im Betrieb der Beklagten in ... gewählten Betriebsrates. Die Zusammensetzung des Betriebsrats erfolgte über Wahlvorschläge verschiedener Gewerkschaften, die unterschiedliche Interessen vertreten. Der Kläger wurde über die Liste der Vereinigung "Zentrum ...l" in den Betriebsrat gewählt.

Am 31.08.2020 fand eine Sitzung des Betriebsrates statt, an welcher der Kläger teilnahm. Zwischen den Parteien besteht Streit, ob der Kläger in dieser Betriebsratssitzung unerlaubt Videoaufzeichnungen vom Betriebsratsvorsitzenden angefertigt hat.

Am 05.10.2020 fand eine Anhörung des Klägers zur Frage der Anfertigung von Videoaufzeichnungen in der Betriebsratssitzung am 31.08.2020 statt. Im Nachgang zu dieser Anhörung wurde vor dem Betriebsgelände der Beklagten ein Video der Vereinigung "Zentrum ..." aufgenommen, in welchem der Kläger und sein Prozessbevollmächtigter zu den erhobenen Vorwürfen Stellung nahmen.

Am 13.10.2020 postete der Kläger auf seiner Facebook-Seite den Link zu diesem Video der "Zentrum ..." auf YouTube. Auf der Facebook-Seite des Klägers steht die Aufforderung das Video zu teilen. d.h. es weiteren Personen zu senden.

Das Standbild des Videos zeigt den Kläger vor dem Betriebslogo der Beklagten im Hintergrund. Die Beklagte hat das Standbild des Videos mit der Anlage B 18 vorgelegt. In Fettdruck heißt es dort in der Überschrift:

"Politische Kündigung?"

Im Untertitel heißt es:

»Komplott unter der Gürtellinie. Will ...-Hersteller mit Lügen Betriebsrat kündigen?

In der Anlage B 19 hat die Beklagte Textauszüge aus dem Video vorgelegt. Zur besseren Verständlichkeit werden diese hier wiedergegeben.

»Komplott unter der Gürtellinie« Will ...-Hersteller mit Lügen Betriebsrat kündigen? Zentrum ... • 13. 10.2020

Die Funktionäre der etablierten Gewerkschaften wissen sich nicht mehr anders zu helfen: ... von der alternativen Gewerkschaft Zentrum ist Betriebsrat bei ... ... und der mächtigen IGMetall ein Dorn im Auge.

Jetzt haben Funktionäre ihn mit Lügen und haltlosen Behauptungen beim Arbeitgeber denunziert, sein Kopf soll rollen und er schnellstmöglich gekündigt werden.

Der Skandal nimmt seit Wochen Fahrt auf: Unklare Tatvorwürfe, widersprüchliche Zeugenaussagen, plötzlich wie vom Himmel fallende neue Zeugen, rechts- und datenschutzwidrige Vorgänge.

Für jeden Betrachter ist klar, dass dieser Fall kein arbeitsrechtlicher, sondern ein politischer Fall ist - Es in Komplott gegen Andersdenkende und gegen alternative Gewerkschaftsstrukturen.

Doch jetzt geht es erstmal um ...s Existenz und die Verhinderung weiterer Intrigen: Verbreitet ...s Geschichte und zeigt euren Kollegen, mit welchen miesen Tricks und Lügen die Funktionäre der großen Gewerkschaften arbeiten!"

Die Beklagte kündigte das Arbeitsverhältnis des Klägers mit Schreiben vom 14.10.2020, Zugang am selben Tage, außerordentlich fristlos. Gegen diese Kündigung hat der Kläger am 20.10.2020, Eingang beim Arbeitsgericht Leipzig am 04.11.2020 Kündigungsschutzklage erhoben.

Mit weiterem Schreiben vom 22.10.2020, Zugang am selben Tage, kündigte die Beklagte das Arbeitsverhältnis erneut außerordentlich fristlos. Mit Klageerweiterung vom 31.10.2020, Eingang beim Arbeitsgericht Leipzig am 02.11.2020, hat der Kläger gegen diese Kündigung ebenfalls Kündigungsschutzklage erhoben.

Mit Klageerweiterung vom 18.12.2020, Eingang bei Gericht am 28.12.2020 hat der Kläger vorläufige Weiterbeschäftigung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Kündigungsrechtsstreit beantragt (Bl. 180 der erstinstanzlichen Akte).

Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf den Tatbestand des Urteils des Arbeitsgerichts Leipzig vom 03.02.2021 - 1 Ca 2830/20 - Bezug genommen, § 69 Abs.2,3 Arbeitsgerichtsgesetz. Die Wiedergabe des Tatbestandes im erstinstanzlichen Urteil ist vollständig und umfassend. Tatbestandsrügen wurden nicht erhoben.

Das Arbeitsgericht Leipzig hat mit Urteil vom 03.02.20 festgestellt, dass die außerordentliche fristlose Kündigung der Beklagten vom 14.10.2020 das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht aufgelöst hat. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Die Veröffentlichung des Videos auf der Facebook - Seite des Klägers sei nicht mehr von der Meinungsfreiheit geschützt.

Das Urteil des Arbeitsgerichts Leipzig vom 03.02.2022 wurde beiden Parteien am 01.03.2022 zugestellt. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil ging beim Sächsischen Landesarbeitsgericht am 21.03.2022, die Berufung der Beklagten am 01.04.2022 beim Sächsischen Landesarbeitsgericht ein. Nach entsprechender Fristverlängerung begründete der Kläger die Berufung am 31.05.2022, die Beklagte am 02.06.2022.

Der Kläger greift das Urteil des Arbeitsgerichts Leipzig an, soweit seinem Klageantrag nicht entsprochen wurde. Der Kläger wiederholt und vertieft seinen erstinstanzlichen Vortrag.

Der Kläger beantragt,

I. Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Leipzig vom 03.02.2022 -1 Ca 2830/20- abgeändert.

1. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis durch die außerordentliche fristlose Kündigung der Beklagten vom 14.10.2020 nicht aufgelöst worden ist.

2. Es wird festgestellt, dass das zwischen den Parteien bestehende Arbeitsverhältnis nicht durch die außerordentliche fristlose Kündigung der Beklagten vom 22.10.2020 aufgelöst worden ist.

3. Die Beklagte wird verurteilt, den Kläger bis zum rechtskräftigen Abschluss des Kündigungsschutzrechtsstreits zu unveränderten Bedingungen als Fachkraft Produktion ... weiter zu beschäftigen.

Die Beklagte beantragt:

Auf die Berufung der Beklagten wird das am 24.02.2022 verkündete Urteil des Arbeitsgerichts Leipzig, Az. 1 Ca 2830/20, abgeändert und die Klage insgesamt abgewiesen.

Die Beklagte greift das Urteil des Arbeitsgerichts Leipzig an, soweit festgestellt wurde, dass die außerordentliche Kündigung vom 14.10.2022 das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht aufgelöst hat. Die Beklagte wiederholt und vertieft ihren erstinstanzlichen Vortrag.

Das Landesarbeitsgericht hat den Kläger informatorisch angehört. Bezüglich des Inhalts der Anhörung wird auf das Protokoll der Berufungsverhandlung vom 02.12.2022 Bezug genommen. Das Landesarbeitsgericht hat aufgrund des Beweisbeschlusses vom 02.12.2022 eine Beweisaufnahme durchgeführt. Bezüglich des Inhalts der Beweisaufnahme wird auf das Protokoll der mündlichen Verhandlung vom 17.03.2023 Bezug genommen.

Bezüglich der weiteren Einzelheiten wird auf den Vortrag der Parteien in der 2. Instanz nebst Anlagen sowie die Protokolle der mündlichen Verhandlungen vom 02.12.2022 und vom 17.03.2023 Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

I.

a)

Die Berufung des Klägers ist statthaft und zulässig.

Berufung ist statthaft gemäß § 64 Abs. 2 c) Arbeitsgerichtsgesetz. Die Parteien streiten über den Bestand eines Arbeitsverhältnisses. Der Kläger hat innerhalb eines Monats nach Zustellung des Urteils Berufung eingelegt und diese nach entsprechender Verlängerung begründet, § 66 Abs. 1, Abs.6 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO.

b)

Die Berufung der Beklagten vom 01.04.2022 ist statthaft und zulässig.

Die nach § 64 Abs. 2 c) statthafte Berufung wurde innerhalb eines Monats nach Urteilszustellung eingelegt und nach entsprechender Fristverlängerung begründet, § 66 Abs.1., Abs.6 Arbeitsgerichtsgesetz, §§ 519, 25 ZPO.

II.

A.

Die Berufung der Beklagten hatte keinen Erfolg.

Das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien endete nicht aufgrund der außerordentlichen fristlosen Kündigung vom 14.10.2020.

a)

Stützt der Arbeitgeber den wichtigen Grund i.S.v. § 15 Abs 1 KSchG, § 626 Abs 1 BGB bei einem Betriebsratsmitglied auf dessen Verhalten, muss dieses sich als Verletzung von Pflichten aus dem Arbeitsverhältnis darstellen. Verstößt es sowohl gegen eine Amts- als auch gegen eine für alle Arbeitnehmer gleichermaßen geltende vertragliche Pflicht, liegt - jedenfalls auch - eine Vertragspflichtverletzung vor (BAG 19.07.2012 -2 AZR 989/11 -Rn.39).

Der heimliche Mitschnitt eines Personalgesprächs ist "an sich" geeignet, eine außerordentliche Kündigung zu rechtfertigen. Dabei kommt es nicht entscheidend auf die strafrechtliche Würdigung an (vgl. § 201 StGB). Maßgeblich ist die mit diesem Verhalten verbundene Verletzung der dem Arbeitnehmer nach § 241 Abs. 2 BGB obliegenden Pflicht zur Rücksichtnahme auf die berechtigten Interessen des Arbeitgebers. Dieser hat seine Mitarbeiter bei der Ausübung ihrer Tätigkeit auch im Hinblick auf die Vertraulichkeit des Wortes zu schützen. Das nicht öffentlich gesprochene Wort eines anderen darf - auch im Betrieb - nicht heimlich mitgeschnitten werden (BAG aaO.Rn.40)

Der Arbeitgeber hat die Tatsachen zu beweisen, die die Kündigung bedingen, § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG. Die Beklagte vermochte nicht den Nachweis zu führen, dass in der Betriebsratssitzung am 31.08.2020 tatsächlich eine Videoaufnahme des Betriebsratsvorsitzenden durch den Kläger in unzulässiger Weise angefertigt worden ist.

b)

Nach Durchführung der Beweisaufnahme vermochte sich das Landesarbeitsgericht keine Überzeugung davon zu bilden, dass der Kläger tatsächlich am 31.08.2022 innerhalb der Betriebsratssitzung eine Videoaufzeichnung angefertigt hat.

Das Landesarbeitsgericht hat im Rahmen der Beweisaufnahme am 17.03.2023 insgesamt acht Zeugen vernommen. Übereinstimmend haben alle Zeugen, bis auf den Zeugen ..., bekundet, dass der Kläger sein Handy vor den Oberkörper gehalten hat. Dieser Sachverhalt steht nach Durchführung der Beweisaufnahme zur Überzeugung der Kammer fest. Zu der - erheblichen - Frage, ob der Videomodus nicht nur geöffnet, sondern auch tatsächlich betätigt, sprich auch eingeschaltet war, konnten die Zeugen keine überzeugenden Aussagen treffen.

Betätigt man bei einem iPhone den Videomodus, so bildet das Display, quasi als Bildschirm, das künftig aufzunehmende Bild bereits ab. Unten auf dem Display erscheint ein gut wahrzunehmender roter Punkt. Oben auf dem Display befindet sich eine Zeitleiste. Die weiße Zeitleiste "läuft" in diesem Betriebsmodus noch nicht. Sobald man den roten Punkt manuell betätigt, löst man den Aufnahmebeginn aus. Erst jetzt befindet sich das Handy in der eigentlichen Videofunktion. Diese Videofunktion wird angezeigt durch die Veränderung des roten Punktes hin zu einem kleineren, ebenfalls roten Viereck. Oben auf dem Display befindet sich nunmehr eine rote Zeitleiste, in welcher die Aufnahmedauer fortlaufend sekundengenau angezeigt wird. Diese Tatsache wird als allgemein bekannt angesehen. Die Kammer hat diese Funktionsweise an einem iPhone nachgeprüft. Die oben geschilderte Funktionsweise wurde bestätigt. Die Tatsache ist damit gerichtsbekannt.

Der Zeuge ... hat zu der entscheidenden Frage - tatsächliche Einschaltung der Aufnahmefunktion - keine Aussage getroffen.

Die Zeugin ... gibt an, dass sie den Videomodus auf dem Handy des Klägers sehen konnte. Auf Nachfrage teilte sie mit, dass sie eine rote Färbung wahrgenommen hat. Ob es sich dabei um einen roten Punkt oder um ein rotes Viereck gehandelt habe, könne sie nicht sagen (S. 4 des Protokolls der Berufungsverhandlung vom 17.03.2023).

Damit ist die Aussage der Zeugin letztlich unergiebig. Zu der entscheidenden Frage, ob bei eingeschaltetem Videomodus auch tatsächlich die Videofunktion betätigt war, also eine Aufnahme erfolgte, vermochte die Zeugin keine Aussage zu treffen. Somit war die Aussage für die Beweisfrage, der Anfertigung einer Videoaufnahme, unergiebig.

Die Zeugin ... gibt an, dass sie ein rotes Viereck auf dem Startbutton innerhalb des Videomodus gesehen hat. Sie hat festgestellt, dass die Zeitleiste an ist. Sie konnte nicht erkennen, ob die Zeitleiste lief (S. 5, Protokoll Berufungsverhandlung vom 17.03.2023). Auf Befragen gibt die Zeugin an, dass sie an der Zeitleiste keinen roten Punkt bemerkt hat. Auf weiteres Befragen gibt die Zeugin an, dass sie sich nicht mehr ganz sicher ist, ob sie ein rotes Viereck gesehen hat.

Die Zeugin schränkt ihre Aussage selbst ein. Zunächst gibt sie an, dass sie ein rotes Viereck gesehen hat, auf Nachfrage räumte sie ein, dass sie sich nicht mehr ganz sicher ist. Dieses Aussageverhalten ist sicherlich nach Ablauf einiger Jahre nachvollziehbar. Andererseits ist es nicht geeignet, zu einer Überzeugungsbildung der Kammer beizutragen. Die Zeugin selbst gibt an, dass Sie sich heute nicht mehr sicher ist. Das Gericht vermag auf dieser Basis zu keiner Überzeugungsbildung zu gelangen.

Zusätzlich tauchen Widersprüchlichkeiten im Rahmen ihrer Aussage auf. Die Zeitleiste ist sowohl im Videomodus als auch in der Aufnahmefunktion zu sehen. Im bloßen Videomodus ist die Zeitleiste in der Farbe weiß. Die Zeitanzeige "läuft" in diesem Modus nicht. Erst mit Betätigung der Aufnahmefunktion "läuft" die Zeitleiste. Die Zeitleiste färbt sich in dieser Funktion in die Farbe rot.

Einerseits gibt die Zeugin an, dass die Zeitleiste "an" ist. Andererseits erklärt sie, dass sie nicht erkennen konnte, ob die Zeitleiste lief. Unter "Ansein" versteht man gemeinhin, dass die Funktion eingeschaltet ist. Damit würde die Zeitanzeige aber "laufen". Genau dies konnte die Zeugin jedoch nicht feststellen. Der Inhalt der Zeugenaussage erscheint an dieser Stelle widersprüchlich.

Die Zeugin vermochte keine Aussage zu der unterschiedlichen Farbgebung der Zeitleiste im Videomodus und der Aufnahmefunktion zu treffen. Genau auf diesen Punkt dürfte die Frage des Beklagtenvertreters auf der S. 6 oben, im Protokoll der Beweisaufnahme, hinzielen. Zu den unterschiedlichen Farbdarstellungen der Zeitleiste in Abhängigkeit vom jeweiligen Betriebsmodus, hat die Zeugin keine klare Aussage getroffen. Auch an dieser Stelle der Zeugenaussage treten Widersprüchlichkeiten auf.

Da die Zeugin den Inhalt ihrer Aussage bereits selbst einschränkt, vermochte sich auch das Gericht keine sichere Überzeugung davon zu verschaffen, dass die Aufnahmefunktion tatsächlich betätigt war. Aufgrund der aufgezeigten Widersprüchlichkeiten innerhalb der Aussage ist das Gericht nicht von der Richtigkeit ihres Inhalts überzeugt.

Die Aussage der Zeugin ... ist zu der maßgeblichen Frage, ob die Aufnahmefunktion eingeschaltet war unergiebig. Die Zeugin konnte auf dem Display des Handys nichts erkennen.

Der Zeuge ... hat bekundet, dass er den Videomodus erkennen konnte. Er hat einen roten Punkt auf dem Handy gesehen. Der Zeuge stellt klar, dass er nicht erkennen konnte, ob die Aufnahmefunktion eingeschaltet war. Ob ein rotes Viereck zu sehen war, konnte der Zeuge nicht mitteilen. Damit ist auch die Aussage des Zeugen ... für die entscheidende Frage, ob die Aufnahmefunktion eingeschaltet war, unergiebig.

Die Aussagen der Zeugen ..., ... und ... sind hinsichtlich dieser Frage ebenfalls unergiebig. Die Zeugen haben hierzu keine eigenen Wahrnehmungen mitgeteilt.

Damit vermochte die beweispflichtige Beklagte nicht den Nachweis zu führen, dass der Kläger tatsächlich im Rahmen der Betriebsratssitzung vom 31.08.2020 eine unzulässige Videoaufnahme vom Betriebsratsvorsitzenden angefertigt hat. Der Arbeitgeber trägt gemäß § 1 Abs. 2 Satz 4 Kündigungsschutzgesetz die Beweislast für die Tatsachen, welche der Kündigung zugrunde liegen.

c)

Die Kündigung von 14.10.2020 ist nicht als Verdachtskündigung wirksam.

aa)

Eine Verdachtskündigung kommt aber nur in Betracht, wenn dringende, auf objektiven Tatsachen beruhende schwerwiegende Verdachtsmomente vorliegen und diese geeignet sind, das für die Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses erforderliche Vertrauen bei einem verständigen und gerecht abwägenden Arbeitgeber zu zerstören. Der Arbeitgeber muss alle zumutbaren Anstrengungen zur Auflösung des Sachverhalts unternommen, insbesondere dem Arbeitnehmer Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben haben (BAG 4. Juni 1964 - 2 AZR 310/63 - BAGE 16, 72; 30. Juni 1983 - 2 AZR 540/81 -; zuletzt 10. Februar 2005 - 2 AZR 189/04 - AP KSchG 1969 § 1 Nr. 79 = EzA KSchG § 1 Verdachtskündigung Nr. 3). Dabei sind an die Darlegung und Qualität der schwerwiegenden Verdachtsmomente besonders strenge Anforderungen zu stellen, weil bei einer Verdachtskündigung immer die Gefahr besteht, dass ein "Unschuldiger" betroffen ist (vgl. BAG schon 4. Juni 1964 - 2 AZR 310/63 - BAGE 16, 72; zuletzt 26. September 2002 - 2 AZR 424/01 - AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 37 = EzA BGB 2002 § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 1 mwN). Der notwendige, schwerwiegende Verdacht muss sich aus den Umständen ergeben bzw. objektiv durch Tatsachen begründet sein. Er muss ferner dringend sein, d.h., bei einer kritischen Prüfung muss eine auf Beweisanzeichen (Indizien) gestützte große Wahrscheinlichkeit für die erhebliche Pflichtverletzung (Tat) gerade dieses Arbeitnehmers bestehen (vgl. zu dem Maßstab und den Anforderungen: Senat 30. Juni 1983 - 2 AZR 540/81 -; 18. November 1999 - 2 AZR 743/98 - BAGE 93, 1; 26. September 2002 - 2 AZR 424/01 - aaO; 6. Dezember 2001 - 2 AZR 496/00 - AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 36 = EzA BGB 2002 § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 11; 6. November 2003 - 2 AZR 631/02 - AP BGB § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 39 = EzA BGB 2002 § 626 Verdacht strafbarer Handlung Nr. 2; zuletzt 6. September 2007 - 2 AZR 722/06 -) . Bloße auf mehr oder weniger haltbare Vermutungen gestützte Verdächtigungen reichen dementsprechend zur Rechtfertigung eines dringenden Tatverdachts nicht aus (BAG 30. Juni 1983 - 2 AZR 540/81 -; 10. Februar 2005 - 2 AZR 189/04 - AP KSchG 1969 § 1 Nr. 79 = EzA KSchG § 1 Verdachtskündigung Nr. 3). Schließlich muss der Arbeitgeber alles ihm Zumutbare zur Aufklärung des Sachverhalts getan haben (BAG 4. Juni 1964 - 2 AZR 310/63 - aaO und 10. Februar 2005 - 2 AZR 189/04 - aaO). Insbesondere muss er zunächst selbst eine Aufklärung des Sachverhalts unternommen haben. Möglichen Fehlerquellen muss er nachgehen. Der Umfang der Nachforschungspflichten richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles (BAG 29.11.2007 2 AZR 724/06 Rn. 30, vgl. Stahlhacke/Preis/Vossen-Preis Kündigung und Kündigungsschutz im Arbeitsverhältnis 9. Aufl. Rn. 761) .

bb)

Gemessen an den oben genannten Rechtsgrundsätzen liegen die Voraussetzungen für eine außerordentliche Verdachtskündigung nicht vor.

Der notwendige, schwerwiegende Verdacht muss sich aus den Umständen ergeben bzw. objektiv durch Tatsachen begründet sein. Dabei sind an die Darlegung und Qualität der schwerwiegenden Verdachtsmomente besonders strenge Anforderungen zu stellen, weil bei einer Verdachtskündigung immer die Gefahr besteht, dass ein "Unschuldiger" betroffen ist.

Hinreichend schwerwiegende Verdachtsmomente für das Anfertigen unzulässiger Videoaufzeichnungen liegen nicht vor. Der Beklagten standen zum Zeitpunkt der Anhörung zur Verdachtskündigung am 05.10.2020 ausschließlich Zeugenaussagen zur Begründung der Verdachtsmomente zur Verfügung. Andere objektive Anknüpfungstatsachen lagen nicht vor (z.B. technische Auslesung oÄ.). Bekanntlich sind Zeugenaussagen ein besonders schlechtes Beweismittel. Die Wahrnehmungen von Zeugen sind durch äußere Umstände besonders störanfällig (Knallzeugen). Der Inhalt von Zeugenaussagen ist häufig subjektiv geprägt (Beifahrer als Zeuge). Deshalb ist dem Inhalt von Zeugenaussagen mit besonderer Vorsicht zu begegnen.

Nach den obigen Feststellungen zur Tatkündigung bleibt festzuhalten, dass lediglich die Zeugin ... und die Zeugin ... konkrete Aussagen zur Betätigung des Videomodus getroffen haben. Es ist aber allein die Zeugin ... welche die Betätigung der Videofunktionen - das "rote Viereck" - wahrgenommen haben will. Auf Nachfrage wirkte die Zeugin unsicher und war sich schließlich selbst nicht mehr ganz sicher, ob sie wirklich die Betätigung der Aufnahmefunktion wahrgenommen hat.

Damit verbleibt letztlich eine einzige Zeugenaussage hinsichtlich des Pflichtvorwurfs gegenüber dem Kläger. Die Glaubhaftigkeit des Inhalts dieser Aussage erscheint aus den oben geschilderten Gründen fragwürdig. Die Zeugen aus der Gruppe der Ziff. 2 des Beweisbeschlusses unterliegenden ersichtlich einer "Gruppendynamik". Aufgrund der Haltung des Handys vor dem Oberkörper des Klägers "ging man davon" aus, dass Videoaufzeichnungen vorgenommen werden. Diese subjektive Haltung kommt in sämtlichen Zeugenaussagen dieser Gruppe zum Ausdruck. Dabei hatte allein die Zeugin ... festgestellt, dass die Videofunktion eingeschaltet war.

Bei der Bewertung der Zeugenaussagen spielt das jeweilige "Lager" der Zeugen eine wichtige Rolle. Die Zeugen der Gruppe aus Ziff. 3 des Beweisbeschlusses haben ersichtlich eine positivere Einstellung gegenüber dem Kläger. Demgegenüber haben die Zeugen aus der Gruppe aus Ziff. 2 des Beweisbeschlusses eher eine ablehnende Haltung gegenüber dem Kläger. Hintergrund dürfte eine unterschiedliche gewerkschaftliche Zugehörigkeit der Zeugen bzw. deren Zugehörigkeit zu der Vereinigung Zentrum ... sein.

Diese besondere Situation der Auseinandersetzungen innerhalb des Betriebsrates hatte auch die Beklagte bei der Bewertung der Zeugenaussagen zu berücksichtigen. Die Gefahr einer vorschnellen, subjektiv geprägten Zeugenaussage war unter diesen Umständen als besonders hoch einzustufen.

Allein eine einzige Zeugenaussage begründet unter den konkreten Umständen des Falls keine hinreichend schwerwiegenden Verdachtsmomente. Dies erscheint unter den gegebenen Umständen nicht ausreichend. Die Beklagte hatte den Zeugenaussagen aus der Gruppe der Ziff. 2 des Beweisbeschlusses von vornherein mit gewisser Zurückhaltung zu begegnen. Es bestand die ersichtliche Gefahr, dass sie zum Instrument der Auseinandersetzungen innerhalb des Betriebsrates gemacht wird. In Anbetracht dieser Vorbehalte und der mangelnden Stabilität der Zeugenaussagen waren keine Umstände begründet, welche einen schwerwiegenden Verdachtsmoment gegenüber dem Kläger ergaben.

Der Ausspruch einer Verdachtskündigung scheidet bereits aus diesem Grunde aus.

cc)

Darüber hinaus, und selbstständig tragend, ist allein der Verdacht der vorgeworfenen Pflichtwidrigkeit nicht ausreichend eine außerordentliche fristlose Kündigung zu rechtfertigen. Das Interesse des Klägers am Fortbestand des Arbeitsverhältnisses überwiegen das Interesse der Beklagten an deren sofortiger Beendigung. Dies hat das Arbeitsgericht Leipzig bereits zutreffend erkannt.

Zugunsten des Klägers streitet eine besonders lange Betriebszugehörigkeit von 29 Jahren. Diese lange Betriebszugehörigkeit verlief größtenteils beanstandungsfrei. Erst im Zuge der Betriebsratstätigkeit des Klägers ab dem Jahr 2018 traten Störungen - auch im Arbeitsverhältnis - auf. Dabei standen diese Störungen erkennbar im Zusammenhang mit dem Betriebsratsamt des Klägers. Dies stellt eine Sondersituation dar, welche im Rahmen der Interessenabwägung zu berücksichtigen ist. Zugunsten des Klägers darf angenommen werden, dass ohne seine Mitgliedschaft im Betriebsrat das Arbeitsverhältnis auch weiterhin beanstandungsfrei verlaufen wäre.

Zu berücksichtigen ist auch das fortgerückte Lebensalter des Klägers. Zum Zeitpunkt des Kündigungszugangs war der Kläger 55 Jahre alt. Bei einem Lebensalter von 55 Jahren sind die Chancen auf dem Arbeitsmarkt bereits eingeschränkt. Darüber hinaus ist der Kläger verheiratet und hat zwei unterhaltspflichtige Kinder. Diese Unterhaltspflichten sind zugunsten des Klägers zu berücksichtigen. Er ist auf seine Arbeitsvergütung auch aus diesem Grunde angewiesen.

Für ein Beendigungsinteresse der Beklagten spricht, dessen durch das unerlaubte Aufzeichnen von Gesprächen die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen berührt werden. Damit liegt ein Verstoß von einigem Gewicht vor.

Der vorgeworfene Pflichtverstoß betrifft einen rein betriebsratsinternen Vorgang. Zutreffend führt das Arbeitsgericht aus, dass der Pflichtverstoß im Zusammenhang mit dem Engagement des Klägers für den Verein "Zentrum ..." steht. Er berührt nicht die allgemeine Betriebsöffentlichkeit. Der Verweis auf die Ausschlussmöglichkeiten nach § 23 BetrVG erscheint insoweit folgerichtig.

Bei einer Gesamtabwägung aller relevanter Umstände überwiegen die Interessen des Klägers am Fortbestand seines Arbeitsverhältnisses die Interessen der Beklagten an der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses. Der vorgeworfene Pflichtverstoß berührt maßgeblich die Tätigkeit des Klägers innerhalb des Betriebsrats. Nach der bisherigen beanstandungsfreien Dauer der Durchführung des Arbeitsverhältnisses ist zu erwarten, dass nach Beendigung des Betriebsratsamtes künftig wieder mit einer ungestörten Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses gerechnet werden darf. Gemessen an der Gesamtbeschäftigungsdauer des Klägers von 29 Jahren fällt die zeitlich kurze Dauer der aufgetretenen Störungen im Zusammenhang mit der Betriebsratstätigkeit des Klägers nicht erheblich ins Gewicht.

Selbst bei Vorliegen eines schwerwiegenden Verdachtes erscheint es zumutbar, den Kläger bis zum Ablauf einer fiktiven ordentlichen Kündigungsfrist weiter zu beschäftigen. Die Verletzung einer Hauptleistungspflicht des Klägers aus dem Arbeitsvertrag ist nicht beanstandet worden. Der Pflichtvorwurf betrifft lediglich eine allgemeine Verhaltenspflicht. Damit geht es um die bloße Verletzung einer Nebenpflicht. Derartige Pflichtverletzungen von reinen Nebenpflichten sind nicht so schwerwiegend zu bewerten, wie die Verletzung von Hauptpflichten aus dem Arbeitsverhältnis.

Da lediglich die Verletzung einer Nebenpflicht im Raum steht, welche ihrerseits mit der Betriebsratstätigkeit des Klägers im Zusammenhang steht, die eigentliche Arbeitsleistung des Klägers aber nicht betroffen ist, erscheint in die Einhaltung der fiktiven 7-monatigen ordentlichen Kündigungsfrist gegenüber dem Kläger für die Beklagte zumutbar.

Die Voraussetzungen einer Verdachtskündigung liegen damit insgesamt nicht vor.

Es liegen keine ausreichenden schweren Verdachtsmomente gegen den Kläger vor. Die Interessenabwägung ergibt ferner ein überwiegendes Beschäftigungsinteresse des Klägers gegenüber der Beklagten.

B.

Die außerordentliche fristlose Kündigung vom 22.10.2020 hat das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht beendet. Das Veröffentlichen des Videos am 13.10.2020 auf der Facebook-Seite des Klägers wird von der Meinungsfreiheit gem. Art. 5 GG geschützt.

a)

Die Reichweite der mittelbaren Grundrechtswirkung hängt dabei von den jeweiligen Umständen des Einzelfalls ab. Maßgeblich ist, dass die Freiheitssphären der Bürgerinnen und Bürger in einen Ausgleich gebracht werden müssen, der die in den Grundrechten liegenden Wertentscheidungen hinreichend zur Geltung bringt. Dabei können insbesondere auch die Unausweichlichkeit von Situationen, das Ungleichgewicht zwischen sich gegenüberstehenden Parteien, die gesellschaftliche Bedeutung von bestimmten Leistungen oder die soziale Mächtigkeit einer Seite eine maßgebliche Rolle spielen (BVerfG 11.04.2018 BvR 3080/09 Rn. 33; vgl. BVerfGE 89, 214 [232 ff.]; 128, 226 [249 f.]).

Eine erhebliche Pflichtverletzung liegt regelmäßig vor, wenn der Arbeitnehmer über seinen Arbeitgeber, seine Vorgesetzten oder Kollegen bewusst wahrheitswidrige Tatsachenbehauptungen aufstellt, insbesondere wenn sie den Tatbestand der üblen Nachrede erfüllen. Auch eine bewusste und gewollte Geschäftsschädigung, die geeignet ist, bei Geschäftspartnern des Arbeitgebers Misstrauen in dessen Zuverlässigkeit hervorzurufen, kann einen wichtigen Grund zur Kündigung bilden. (BAG 31.07.2014 2 AZR 505/13 Rn.41)

Ein Arbeitnehmer kann sich für bewusst falsche Tatsachenbehauptungen nicht auf sein Recht auf freie Meinungsäußerung aus Art 5 Abs 1 GG berufen. Solche Behauptungen sind vom Schutzbereich des Grundrechts nicht umfasst. Anderes gilt für Äußerungen, die nicht Tatsachenbehauptungen, sondern ein Werturteil enthalten. (BAG a.a.O. Rn.42).

§ 241 Abs 2 BGB gehört zu den allgemeinen, das Grundrecht auf Meinungsfreiheit beschränkenden Gesetzen. Die Reichweite der Pflicht zur vertraglichen Rücksichtnahme muss ihrerseits unter Beachtung der Bedeutung des Grundrechts bestimmt, der Meinungsfreiheit muss dabei also die ihr gebührende Beachtung geschenkt werden und umgekehrt (BAG a.a.O. Rn.43).

Um der Meinungsfreiheit gerecht zu werden, dürfen Gerichte einer Äußerung keine Bedeutung beilegen, die sie objektiv nicht hat. Bei Mehrdeutigkeit dürfen Äußerungen wegen eines möglichen Inhalts nicht zu nachteiligen Folgen führen, ohne dass eine Deutung, die zu einem von der Meinungsfreiheit gedeckten Ergebnis führen würde, mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen worden ist (BAG a.a.O. Rn.46).

b)

Gemessen an diesen Rechtsgrundsätzen ist das "Posten" des Videos auf der Facebook-Seite des Klägers von der Meinungsfreiheit in Art. 5 GG geschützt.

Die Überschrift des Videos wirft die Frage auf, ob die Beklagte eine politische Kündigung gegenüber dem Kläger beabsichtigt. Hierbei wird in den Raum gestellt, ob ein Komplott gegen den Kläger vorliegt. Der Kläger solle als Betriebsratsmitglied gekündigt werden.

Sowohl die Überschrift als auch der Untertitel des Videos sind mit einem Fragezeichen gekennzeichnet. Durch die Verwendung des Fragezeichens wird deutlich, dass keine Tatsachenbehauptung aufgestellt wird, sondern eine Frage in den Raum gestellt wird. Der Kläger behauptet nicht, dass eine politische Kündigung bereits ausgesprochen worden ist. Im Untertitel heißt es konsequenterweise "will" der ... - Hersteller kündigen? Im Textbeitrag des Videos, vorgelegt als Anlage B 19, wird deutlich, dass sich der Kläger als Opfer der Funktionäre der großen Gewerkschaften ansieht. Diesen gegenüber erhebt er den Vorwurf, dass sie ihn mit Lügen und haltlosen Behauptungen beim Arbeitgeber denunziert hätten.

Der eigentliche Inhalt des Videos richtet sich damit gegen die Gewerkschaft IG Metall. Der Kläger wirft den Funktionären der IG-Metall vor, sie hätten ihn mit Lügen bei der Beklagten denunziert. Der Inhalt des Videos richtet nicht gegen die Beklagte. Dies räumt auch die Beklagte ein. Das Video selbst enthält keinen vorwerfbaren Pflichtverstoß gegenüber der Beklagten.

c)

Damit verbleibt lediglich der Inhalt der Anlage B 18, das Standbild des Videos, als möglicher noch verbleibender Vorwurf gegenüber dem Kläger.

Aus der Überschrift des Videos ergibt sich in Zusammenschau mit dem Untertitel lediglich, dass die Beklagte unter Umständen erwägt, den Kläger aus politischen Motiven zu kündigen. Dabei wird mitgeteilt, dass der Kläger Betriebsrat bei der Beklagten ist. Damit wird ein Bezug zu seiner Betriebsratstätigkeit hergestellt. Die Zuordnung der Auseinandersetzung erfolgt damit in das klassische Spannungsfeld zwischen Betriebsrat und dem Arbeitgeber.

Für eine zutreffende Abwägung ist entscheidend, den Sinn der Meinungsäußerung richtig zu erfassen. Maßgeblich ist weder die subjektive Absicht des sich Äußernden noch das subjektive Verständnis des von der Äußerung Betroffenen, sondern der Sinn, den sie nach dem Verständnis eines unvoreingenommenen und verständigen Publikums hat. Dabei ist stets vom Wortlaut der Äußerung auszugehen. Dieser legt ihren Sinn aber nicht abschließend fest. Er wird vielmehr auch von dem sprachlichen Kontext, in dem die umstrittene Äußerung steht und von den erkennbaren Begleitumständen, unter denen sie fällt, bestimmt (Linck, in Schaub, Arbeitsrechtshandbuch 19. Aufl. § 3 Rn. 29 mit weiteren Nachweisen).

Die Frage der politischen Kündigung des Klägers wird in den Zusammenhang mit seiner Betriebsratstätigkeit gestellt. Ein unvoreingenommener und verständiger Betrachter bekommt den Eindruck, dass es um Auseinandersetzungen zwischen dem Betriebsrat und dem Arbeitgeber in betriebsverfassungsrechtlichen Angelegenheiten geht. Der sprachliche Kontext - Kündigung eines Betriebsrats - verweist auf diesen Zusammenhang. Auch der Hinweis auf Lügen und eine beabsichtigte politische Kündigung deuten auf eine Auseinandersetzung zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber hin.

Der Kläger ist Betriebsratsmitglied. Unmittelbar vor Aufzeichnung des Videos wurde er zu einer beabsichtigten Verdachtskündigung angehört. Dem Kläger wird vorgeworfen unzulässige Videoaufzeichnungen in der Betriebsratssitzung vom 31.08.2020 angefertigt zu haben. Der Kläger bestreitet diesen Sachverhalt nachdrücklich. Zeugen aus der Betriebsratssitzung behaupten indes, dass der Kläger eine Videoaufzeichnung angefertigt hat.

Da der Kläger behauptet, dass er keine Videoaufzeichnung angefertigt hat, sagen die Zeugen zumindest aus seiner Sicht die Unwahrheit. Aus seiner Sicht ist es daher gerechtfertigt von "Lügen" zu sprechen. Da die Beklagte aufgrund dieser "Lügen" tatsächlich eine Kündigung beabsichtigt, kann sich dem Kläger nachvollziehbarerweise aufdrängen, dass es sich um eine politische Kündigung handelt. Der Arbeitgeber schenkt aus seiner Sichtweise allein den Zeugen der Gewerkschaft IG Metall Glauben. Der Kläger erkennt hierin ein Komplott gegenüber den Betriebsratsmitgliedern der Vereinigung "Zentrum ...".

Der Beklagten ist einzuräumen, dass die Verwendung der Begriffe "Politische Kündigung" und "Lügen" geeignet sind, die Beklagten in ein schlechtes Licht zu rücken. Allerdings darf man diese Schlagworte nicht für sich allein bewerten. Die Formulierungen werden zu Beschreibung des Videos vom 05.10.2020 verwendet. Der Inhalt dieser Schlagworte muss daher auch im Zusammenhang mit dem Inhalt des Videos betrachtet werden. Es ist nicht zulässig, die Schlagworte isoliert für sich allein zu betrachten. Maßgeblich sind der Zusammenhang und die Begleitumstände für die abgegebene Erklärung, sprich deren Kontext.

Zieht man den gesamten Kontext und die Begleitumstände der Erklärung heran, mit anderen Worten, schaut man sich das verlinkte Video an, so wird deutlich, dass der Kläger allein den Funktionären der Gewerkschaft Lügen vorwirft. Der Beklagten selbst wirft der Kläger keine Lügen vor. Als Vorwurf gegenüber der Beklagten bleibt lediglich, dass sie mit der Gewerkschaft IG Metall eng zulasten der Vereinigung "Zentrum ..." zusammenarbeite. Dies ist das "Komplott unter der Gürtellinie" bzw. die beabsichtigte "Politische Kündigung". Diese beiden Äußerungen sind jedoch von der Meinungsfreiheit des Klägers geschützt.

Die Meinung i.S.v. Art. 5 GG beinhaltet ein Element des Dafürhaltens. Sie stellt eine subjektive Bewertung äußerer Geschehnisse dar. Im Rahmen diese Definition liegt eine Meinungsäußerung des Klägers vor. Der Kläger glaubt eine gewisse Nähe zwischen der Beklagten und der IG-Metall zu erkennen. Die Beklagte schenke deshalb den Aussagen den Zeugen der IG-Metall aus dem Betriebsrat Glauben. Aus diesem "Komplott" ergebe sich letztlich die beabsichtigte Kündigung, mit dem erklärten Zweck, ihn als andersdenkenden Betriebsrat aus dem Betrieb zu drängen. Dies verbirgt sich letztlich hinter der Formulierung "Politische Kündigung".

Das Unternehmerpersönlichkeitsrecht aus Art. 2 GG schränkt die Meinungsfreiheit des Klägers nicht ein. Die Beklagte weist darauf hin, dass sie ein international agierender Konzern ist. Infolge dieser Größe des Konzerns fällt die Meinungsäußerung des Klägers, möge sie auch in einem scharfen Ton gestaltet sein, nicht schwerwiegend ins Gewicht. Aus dem Screenshot vom 19.10.2020 ergibt sich, dass das streitgegenständliche Video 28 mal geteilt wurde und 10 Kommentare dazu verfasst wurden. Die Anzahl von insgesamt 38 "Interessenten" fällt gegenüber einem international tätigen Konzern von der Größenordnung her, nicht nennenswert ins Gewicht.

Da die Veröffentlichung des Videos auf der Facebook- Seite des Klägers durch die Meinungsfreiheit aus Art. 5 GG geschützt wird, konnte die gleichwohl ausgesprochene Kündigung vom 22.10.2020 das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht wirksam beenden. Die ausgesprochene außerordentliche Kündigung vom 22.10.2020 ist unwirksam.

D.

Da sowohl die außerordentliche Kündigung vom 14.10.2020 als auch die außerordentliche Kündigung vom 22.10.2020 das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien nicht beendet haben, bestand es unverändert zu den bisherigen Bedingungen fort. Es war daher antragsgemäß festzustellen, dass der Kläger zu unveränderten Arbeitsbedingungen während des Kündigungsrechtsstreits weiter zu beschäftigen ist.

Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG 27.02.1985 - GS 1/84 - AP BGB § 611 Beschäftigungspflicht Nr. 14) hat der gekündigte Arbeitnehmer einen allgemeinen Beschäftigungsanspruch außer im Fall einer offensichtlich unwirksamen Kündigung mindestens dann, wenn der Arbeitnehmer im Kündigungsprozess ein obsiegendes Urteil erstreitet. Dieser Beschäftigungsanspruch ist abzuleiten aus den §§ 611, 613, 242 BGB, Art. 1 und 2 GG. Ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung des gekündigten Arbeitnehmers ist grundsätzlich nur bis zur Entscheidung der ersten Instanz im Kündigungsschutzprozess anzuerkennen. Diese Interessenlage ändert sich dann, wenn der Arbeitnehmer im Kündigungsschutzprozess ein obsiegendes Urteil erstreitet. In diesem Fall kann die Ungewissheit über den endgültigen Prozessausgang für sich allein ein überwiegendes Interesse des Arbeitgebers an der Nichtbeschäftigung des Arbeitnehmers nicht mehr begründen. Will der Arbeitgeber auch für diesen Fall die Beschäftigung verweigern, so muss er zusätzliche Gründe anführen, aus denen sich sein überwiegendes Interesse an der Nichtbeschäftigung des Arbeitnehmers ergibt.

Derartige zusätzliche Gründe hat die Beklagte nicht dargelegt. Nach obsiegender Kündigungsschutzklage war die Beklagte daher zur vorläufigen Weiterbeschäftigung des Klägers zu verurteilen.

E.

Die Berufung der Beklagten hatte aus den oben genannten Gründen keinen Erfolg. Weder die Kündigung vom 14.10.2022 noch die Kündigung vom 22.10.2022 haben das Arbeitsverhältnis zwischen den Parteien beendet. Das Arbeitsverhältnis bestand daher fort. Die Beklagte war zur Weiterbeschäftigung verpflichtet. Die Berufung des Klägers war erfolgreich.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 72 Abs. 2 ArbGG bestanden nicht. Das Gericht hat einen Einzelfall auf der Basis der obergerichtlichen Rechtsprechung entschieden. Das Urteil ist daher nicht mit einem Rechtsmittel angreifbar. Auf die Möglichkeit der Nichtzulassungsbeschwerde gemäß § 72a ArbGG wird hingewiesen.

Verkündet am 17.03.2023

Vorschriften§ 69 Abs.2, 3 Arbeitsgerichtsgesetz, § 64 Abs. 2 c) Arbeitsgerichtsgesetz, § 66 Abs. 1, Abs.6 ArbGG, §§ 519, 520 ZPO, § 66 Abs.1., Abs.6 Arbeitsgerichtsgesetz, 25 ZPO, § 15 Abs 1 KSchG, § 626 Abs 1 BGB, § 201 StGB, § 241 Abs. 2 BGB, § 1 Abs. 2 Satz 4 KSchG, § 1 Abs. 2 Satz 4 Kündigungsschutzgesetz, § 23 BetrVG, Art. 5 GG, Art 5 Abs 1 GG, § 241 Abs 2 BGB, Art. 2 GG, BGB § 611, §§ 611, 613, 242 BGB, Art. 1, 2 GG, § 72 Abs. 2 ArbGG, § 72a ArbGG

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