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27.07.2021 · IWW-Abrufnummer 223719

Hessisches Finanzgericht: Gerichtsbescheid vom 31.05.2021 – 10 K 1597/20

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


Hessisches Finanzgericht
10. Der Senat

31.05.2021


Tenor

Der geänderte Einkommensteuerbescheid für 2015 vom 18.04.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 18.11.2020 wird dahingehend abgeändert, dass ein Betrag von … € nicht als laufender Arbeitslohn bei den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit gemäß § 19 Abs. 1 Einkommensteuergesetz erfasst, sondern als Entschädigung gemäß §§ 24 Nr. 1a, 34 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 Einkommensteuergesetz ermäßigt besteuert wird.

Die Ermittlung der neu festzusetzenden Einkommensteuer wird dem Beklagten aufgegeben.

Die Revision wird zugelassen.

Der Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Das Urteil ist hinsichtlich der erstattungsfähigen Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der erstattungsfähigen Kosten abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in dieser Höhe leistet.

Tatbestand

Zwischen den Beteiligten ist streitig, inwieweit Zahlungen des (ehemaligen) Arbeitgebers im Streitjahr 2015 ermäßigt zu besteuern sind.

Die Klägerin wird für das Streitjahr einzeln zur Einkommensteuer veranlagt. Sie erzielte im Streitjahr Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Sie arbeitete vom 01.01 bis 10.08.2015 für die Zusatzversorgungskasse des Baugewerbes AG (als Stammarbeitgeber) sowie für die Urlaubs-und Lohnausgleichskasse der Bauwirtschaft (Bl. 21-46 Einkommensteuerakten) und danach ab dem 01.09.2015 bei der R+V Allgemeine Versicherungs-AG.

Mit Aufhebungsvertrag vom 23.06.2015 vereinbarten die Klägerin und die ehemaligen Arbeitgeber (im Folgenden als „der Arbeitgeber“ bezeichnet) die Aufhebung des seit dem 01.08.1990 bestehenden Arbeitsverhältnisses aus gesundheitlichen Gründen bei der Klägerin zum 31.03.2016 (Bl. 3-5 bzw. 48-50 Einkommensteuerakten). Im ersten Vertragsentwurf des Arbeitgebers war dagegen als Aufhebungsgrund noch die Umstrukturierung der Hauptabteilung IT und der Wegfall einer Stelle in der Gruppe der Klägerin als Grund genannt worden; zudem sollte das Arbeitsverhältnis bereits zum 30.11.2015 enden (Bl. 86 Einkommensteuerakten). Die Vertragsparteien vereinbarten in Ziffer 2. des Aufhebungsvertrags, dass die Klägerin als Ausgleich für den Verlust des Arbeitsplatzes eine Abfindung i.H.v. … €, fällig mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses, erhalten sollte. Ergänzend wurde der Klägerin das Recht eingeräumt, das Arbeitsverhältnis vorzeitig mit einer Frist von 4 Wochen zum Monatsende zu kündigen. Für diesen Fall sollte die Klägerin für jeden vollen Monat der vorzeitigen Beendigung 75 % des laufenden Bruttomonatsgehaltes als zusätzliche Abfindung erhalten. Weiterhin wurde die Klägerin mit sofortiger Wirkung von der Arbeitsleistung freigestellt.

Mit Schreiben vom 01.07.2015 wandte die Klägerin sich an ihren Arbeitgeber und erklärte: „Des Weiteren rechnen Sie mich bitte bis zum 15.08.2015 komplett mit Abfindungsleistung bis zum 31.03.2016 ab.“. Auf Nachfrage des Arbeitgebers vom 09.07.2015 erklärte sie, zum 15.08.2015 aus dem Unternehmen ausscheiden zu wollen (Bl. 85 Einkommensteuerakten). Schließlich kündigte die Klägerin mit Schreiben vom 23.07.2015 unter Bezugnahme auf die Aufhebungsvereinbarung vom 23.06.2015 ausdrücklich zum 10.08.2015 (Bl. 47 Einkommensteuerakten). Auf Grundlage der Aufhebungsvereinbarung erhielt die Klägerin … € im Streitjahr ausbezahlt (vgl. Bl. 57 Einkommensteuerakten).

Im Rahmen der Veranlagung zur Einkommensteuer 2015 behandelte der Beklagte von dem Gesamtbetrag von … € lediglich … € als ermäßigt zu besteuernde Abfindung. Den Differenzbetrag von … € rechnete er dem laufenden Arbeitslohn zu und erließ einen entsprechenden Einkommensteuerbescheid 2015 vom 30.01.2018 (Bl. 31-35 Finanzgerichtsakten)

Dagegen legte die Klägerin am 07.02.2018, Eingang beim Beklagten am 08.02.2018, Einspruch ein (Bl. 61 Einkommensteuerakten). Zur Begründung machte sie geltend, die Zahlungen im Zusammenhang mit der vorzeitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses stellten sozialversicherungsrechtlich und steuerlich kein Arbeitsentgelt dar, sondern eine zusätzliche Abfindung als Ausgleich für den Verlust des Arbeitsplatzes. Zudem sei der Behindertenpauschbetrag noch zu berücksichtigen. Daraufhin erging am 18.04.2018 ein Teilabhilfebescheid, mit dem der Beklagte den Behindertenpauschbetrag gewährte (Bl. 36-40 Finanzgerichtakten).

Im Rahmen des Einspruchsverfahrens erläuterte die Klägerin im Weiteren, dass sie zu 50 % schwerbehindert sei. Eine Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses sei daher nur mit Zustimmung des Integrationsamtes möglich gewesen, was wiederum ein ärztliches Attest voraussetzte. Dies sei der Hintergrund für das ärztliche Attest des Neurologen/Psychiaters vom 26.06.2015, wonach sie seit längerem in nervenärztlicher Behandlung sei und eine Trennung von ihrem damaligen Arbeitgeber medizinisch angezeigt sei (Bl. 84 Einkommensteuerakten). Telefonisch führte sie aus, Hintergrund der Problematik sei gewesen, dass sie aufgrund von Fehlzeiten umgesetzt werden sollte und sie dieser Umsetzung widersprochen habe.

Der Beklagte verwies für seine Auffassung, dass ein Teilbetrag von … € nicht ermäßigt zu besteuern sei, auf die Entscheidung des Niedersächsischen Finanzgerichts, Urteil vom 08.02.2018 1 K 279/17, Entscheidungen der Finanzgerichte - EFG - 2018, 644. Nachdem der Bundesfinanzhof (BFH) mit Beschluss vom 07.09.2018 IX B 34/18, nicht veröffentlicht (neutralisierter Abdruck Bl. 123 ff. Einkommensteuerakten), die Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts zurückgewiesen hatte, erließ der Beklagte schließlich eine Einspruchsentscheidung.

Der Einspruch blieb erfolglos. Der Beklagte wies den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 18.11.2020 als unbegründet zurück (Bl. 128A-131B Einkommensteuerakten). Lediglich die … € stellten eine Entschädigung dar. Die zusätzlich gezahlten … € seien erst im Anschluss an die Kündigung an die Klägerin gezahlt worden. Zu der Auflösung des Arbeitsverhältnisses sei hier ein neues schadenstiftendes Ereignis hinzugetreten. Die daraus resultierende Abfindungszahlung sei getrennt von der Grundabfindung zu beurteilen. Diese Zahlung stelle keine Entschädigung im Sinn von § 24 Nr. 1a Einkommensteuergesetz (EStG) dar, sondern es handele sich um Erfüllungsleistungen aufgrund des bisherigen Arbeitsverhältnisses und somit um laufenden Arbeitslohn. Die Klägerin habe mit ihrer Kündigung selbst die vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses herbeigeführt, während es insoweit an rechtlichem, wirtschaftlichem oder tatsächlichem Druck auf die Klägerin gefehlt habe. Zudem sei die Klägerin ab 23.08.2015 freigestellt gewesen, so dass auch das ärztliche Attest keine andere Beurteilung rechtfertige. Sie habe bereits 2 Wochen später und damit fast nahtlos eine neue Arbeitsstelle angetreten, was den Schluss nahelege, dass bereits im Zeitpunkt der Kündigung die berufliche Zukunft der Klägerin gesichert erschien.

Zudem liege auch keine Entschädigung im Sinn von § 24 Nr. 1b EStG vor. Es handele sich nicht um eine Entschädigung für die Aufgabe oder Nichtausübung einer Tätigkeit, denn der Grund für die Abfindung sei ein Personalabbau in der Abteilung der Klägerin gewesen.

Die Einspruchsentscheidung wurde mit einfachem Brief am 19.11.2020 zur Post gegeben.

Mit ihrer Klage vom 21.12.2020 begehrt die Klägerin weiterhin die ermäßigte Besteuerung für den Gesamtbetrag von … €. Der Beklagte berufe sich zu Unrecht auf die im Einspruchsverfahren angeführten Entscheidungen des Finanzgerichts und des BFH. Beide Urteile gäben zutreffend die Rechtsprechung des BFH für die Annahme einer Entschädigung im Sinne des § 24 Nr. 1a EStG wieder. Das Niedersächsische Finanzgericht habe lediglich im konkreten Sachverhalt die Drucksituation verneint, weil der Arbeitgeber dort ohnehin auch bei vorzeitiger Kündigung 100 % des Bruttoarbeitslohns bis zum vereinbarten Aufhebungszeitpunkt zahlen musste. Dabei habe das Finanzgericht jedoch verkannt, dass der Arbeitgeber immer ein Interesse an einer derartigen Lösung habe, weil er dadurch die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung sparen könne. Im Fall der Klägerin habe die Leistung zudem nur 75 % des Bruttoarbeitslohns betragen. Für diesen Fall habe der Arbeitgeber jedenfalls ein erhebliches Interesse an der vorzeitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses und die Klägerin habe die Auflösung nicht aus eigenen Antrieb herbeigeführt. Unter Berücksichtigung der Ausführungen des BFH in seinem Beschluss vom 07.09.2018 handele es sich bei dem vom Niedersächsischen Finanzgericht beschiedenen Fall um einen Ausnahmefall. Zudem seien beide Entscheidungen falsch. Sie berücksichtigten nicht, dass der Arbeitgeber ein besonderes Interesse an der Auflösung habe, um Sozialversicherungsbeiträge zu sparen. Das sei von beiden Gerichten nicht gewürdigt worden. Allenfalls wenn der Arbeitgeber auch die eingesparten Sozialversicherungsbeiträge an den Arbeitnehmer auskehre, könne man der Auffassung des Niedersächsischen Finanzgerichts folgen. Aber selbst dann sei eine Drucksituation weiterhin vorstellbar; der Arbeitgeber, der einen entsprechenden Ausgleichsbetrag zahle, habe ein besonderes Interesse an der vorzeitigen Auflösung des Arbeitsverhältnisses. Dann sei mit der Rechtsprechung des BFH aber auch von einer Drucksituation auszugehen. Der Fall der Klägerin liege sogar noch einfacher, da der Arbeitgeber nur 75 % des Bruttoarbeitslohns zahlen musste und der Arbeitgeber deshalb und wegen der entfallenden Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung ein erhebliches finanzielles Interesse gehabt habe und deshalb den zusätzlichen Ausgleichsbetrag gezahlt habe. Damit sei aber nach der Rechtsprechung des BFH die erforderliche Drucksituation ohne weitere tatsächliche Feststellungen gegeben.

Die Drucksituation ergebe sich für die Klägerin zudem aus ihrer Erkrankung und der ausdrücklichen ärztlichen Empfehlung, das Arbeitsverhältnis schnellst möglich zu beenden.

Die Klägerin beantragt (sinngemäß),

den geänderten Einkommensteuerbescheid 2015 vom 18.04.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 18.11.2020 dahingehend abzuändern, dass weitere … € als Entschädigung gemäß §§ 24 Nr. 1a EStG, 34 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 2 Einkommensteuergesetz ermäßigt besteuert werden.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Beklagte verweist zur Begründung seines Abweisungsantrags auf seine Einspruchsentscheidung vom 18.11.2020.

Dem Gericht lag ein Band Einkommensteuerakten 2015 vor.

Entscheidungsgründe

Das Gericht erachtet es für sachgerecht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, § 90a Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO).

Die Klage ist begründet. Der maßgebliche Einkommensteuerbescheid für 2015 vom 18.04.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 18.11.2020 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO. Der Beklagte hat zu Unrecht … € als laufenden Arbeitslohn gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 EStG erfasst. Dieser Betrag zählt vielmehr zu den ermäßigt zu besteuernden außerordentlichen Einkünften, §§ 24 Nr. 1a, 34 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 EStG.

Nach der Rechtsprechung des BFH, der sich der Senat anschließt, ist eine Entschädigung i.S. von § 24 Nr. 1a EStG eine Leistung, die „als Ersatz für entgangene oder entgehende Einnahmen“ gewährt wird, d.h. an die Stelle weggefallener oder wegfallender Einnahmen tritt. Bei Arbeitnehmern muss die Zahlung unmittelbar durch den Verlust von steuerbaren Einnahmen bedingt sowie dazu bestimmt sein, diesen Schaden auszugleichen, und auf einer neuen Rechts- oder Billigkeitsgrundlage beruhen (zuletzt etwa BFH, Urteil vom 13.03.2018 IX R 16/17, Bundessteuerblatt - BStBl - II 2018, 709, Rz. 9; Urteil vom 12.03.2019 IX R 44/17, BStBl II 2019, 574, Rz. 10; jeweils m.w.N.).

Eine Entschädigung i.S. von § 24 Nr. 1a EStG i.V.m. § 34 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 EStG setzt weiterhin voraus, dass der Ausfall der Einnahmen entweder von dritter Seite veranlasst wurde oder, soweit er vom Steuerpflichtigen selbst oder mit dessen Zustimmung herbeigeführt worden ist, dass dieser unter rechtlichem, wirtschaftlichem oder tatsächlichem Druck stand; der Steuerpflichtige darf das schadenstiftende Ereignis nicht aus eigenem Antrieb herbeigeführt haben (BFH in BStBl II 2018, 709, Rz. 9). Zahlt allerdings der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer im Zuge der (einvernehmlichen) Auflösung des Arbeitsverhältnisses eine Abfindung, ist regelmäßig davon auszugehen, dass der Arbeitnehmer die Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht allein aus eigenem Antrieb herbeigeführt hat. Wäre dies der Fall, hätte der Arbeitgeber keine Veranlassung, eine Abfindung zu leisten. Stimmt der Arbeitgeber demgegenüber einer Abfindungszahlung an den Arbeitnehmer zu, kann im Regelfall angenommen werden, dass dazu auch eine rechtliche Veranlassung bestand. Insofern kann ohne Weiteres auch angenommen werden, dass der Arbeitgeber zumindest auch ein erhebliches eigenes Interesse an der Auflösung des Arbeitsverhältnisses hatte. Dass der Arbeitnehmer unter solchen Umständen bei Abschluss des Vertrags über die Auflösung seines Arbeitsverhältnisses unter einem nicht unerheblichen tatsächlichen Druck stand, bedarf dann keiner weiteren tatsächlichen Feststellungen mehr (BFH in BStBl II 2018, 709, Rz. 14).

Zu den tarifbegünstigten außerordentlichen Einkünften i.S. von § 34 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 EStG gehört eine Entschädigung i.S. des § 24 Nr. 1a EStG, wenn sie in einem Veranlagungszeitraum zu erfassen ist und wenn durch die Zusammenballung von Einkünften eine erhöhte steuerliche Belastung entsteht. Eine Zusammenballung von Einkünften ist nur gegeben, wenn der Steuerpflichtige unter Einschluss der Entschädigung infolge der Beendigung des Arbeitsverhältnisses in dem jeweiligen Veranlagungszeitraum insgesamt mehr erhält, als er bei ungestörter Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses, also bei normalem Ablauf der Dinge, erhalten hätte (vgl. z.B. BFH in BStBl II 2018, 709, Rz. 10).

Von diesen Grundsätzen ausgehend zählt nach Auffassung des Senats auch der Betrag von … € zu den ermäßigt zu besteuernden Einkünften i.S. von §§ 24 Nr. 1a, 34 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 EStG. Die Leistung des ehemaligen Arbeitgebers der Klägerin ist ebenfalls als Entschädigung nach § 24 Nr. 1a EStG zu qualifizieren.

Ihren Rechtsgrund findet diese Abfindung - wie auch die zwischen den Beteiligten unstreitige Abfindung über … € - in der Aufhebungsvereinbarung vom 23.06.2015. Die Vertragsparteien haben dort in Ziffer 2 neben der Auflösung des Arbeitsverhältnisses zum 31.03.2016 und Zahlung der Abfindung von … € vereinbart, dass die Klägerin kurzfristig durch Kündigungserklärung das Arbeitsverhältnis vorzeitig beenden kann und im Gegenzug für jeden vollen Monat der vorzeitigen Beendigung 75% des laufenden Bruttomonatsgehalts als zusätzliche Abfindung erhält. Arbeitsrechtlich wird eine derartige Vereinbarung in einem Aufhebungsvertrag auch als „Sprinterklausel“ bezeichnet (vgl. etwa BAG, Urteil vom 23.02.2021 5 AZR 314/20, Juris, Rz. 27; LAG Hamm, Urteil vom 13.05.2020 6 Sa 1940/19, Juris, Rz. 58 f.; Holthausen, beck-online Personal-Lexikon, Edition 32 2021, Aufhebungsvertrag ‒ Sprinterklausel/vorzeitiges Ausscheiden; Aszmons, Der Betrieb - DB - 2017, 2227; Besgen, Zeitschrift für Betrieb und Personal - B+P - 2021, 91, 93). Die Klägerin hat diese Sprinterklausel genutzt und das Arbeitsverhältnis vorzeitig beendet; die Vertragsparteien sind einvernehmlich von einer Beendigung zum 10.08.2015 ausgegangen.

Steuerrechtlich wird die Frage, ob die im Zusammenhang mit der Ausübung einer derartigen Sprinterklausel gezahlte Abfindung als Entschädigung i.S. des § 24 Nr. 1a EStG zu behandeln ist, nicht einheitlich beantwortet.

Das Niedersächsische Finanzgericht sieht in seinem Urteil in EFG 2018, 644 die Voraussetzungen des § 24 Nr. 1a EStG als nicht erfüllt an. Es stellt entscheidend darauf ab, dass alleine der Arbeitnehmer entscheidet, ob er das Kündigungsrecht aus der Sprinterklausel ausübt. Die tatsächliche Ausübung des Kündigungsrechts sei dann als neues schadenstiftendes Ereignis zu werten. Die vorgezogene Beendigung des Arbeitsverhältnisses habe der Arbeitnehmer aus eigenem Antrieb herbeigeführt. Die (anteilige) Zahlung der Gehälter als Abfindung erfolge dann nicht mehr auf Grundlage der Aufhebungsvereinbarung, sondern aufgrund der Kündigung. Damit fehle zumindest in dem entschiedenen Fall der erhebliche rechtliche, wirtschaftliche oder tatsächliche Druck auf den Arbeitnehmer (zustimmend Vorbeck, EFG 2018, 646; Imping/Mader/Perach/Voss, ABC des Lohnbüros 2021, Rz. 2002; Mader, B+P 2021, 117, 117 f.)

Demgegenüber bejaht das Finanzgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 16.12.2003 6 K 1800/03, Deutsches Steuerrecht Entscheidungsdienst - DStRE - 2004, 307 die Voraussetzungen des § 3 Nr. 9 EStG (in der bis zum 31.12.2005 geltenden Fassung) und des § 24 Nr. 1a EStG. Maßgeblich sei, dass die Vereinbarung der Sprinterklausel Bestandteil des vor dem Arbeitsgericht geschlossenen Vergleichs über die Auflösung des Arbeitsverhältnisses sei. Die Sprinterklausel sei Teil eines Gesamtpakets. Der Vergleich gehe auf eine arbeitgeberseitige Kündigung zurück. Auch die Freistellung des Arbeitnehmers belege die Interessen des Arbeitgebers an einer vorzeitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses.

Die Literatur, die sich ausdrücklich mit Sprinterklauseln auseinandersetzt, geht davon aus, dass eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses aufgrund der Sprinterklausel steuerunschädlich ist und die kapitalisierten noch offenen Gehälter als Abfindung der ermäßigten Besteuerung unterliegen (Aszmons, DB 2017; 2127, 2130; Besgen, B+P 2021, 91, 93; Regh in Grobys/Panzer-Heemeier, StichwortKommentar Arbeitsrecht, 3. Auflage, Edition 16 2021, <Abfindung> Rz. 31).

Das soll zumindest dann gelten, wenn hinreichend deutlich wird, dass auch die vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses im Interesse des Arbeitgebers liegt (Regh in Hümmerich/Lücke/Mauer, Arbeitsrecht, 9. Auflage 2018, § 4 Beendigung von Arbeitsverhältnissen, 24. Sprinterprämie, Rz. 643), so etwa durch die erfolgte Freistellung des Arbeitnehmers (Esskandari in Grobys/Panzer-Heemeier, StichwortKommentar Arbeitsrecht, 3. Auflage, Edition 16 2021, <Freistellung>, Rz. 28).

Der Senat vermag sich der Auffassung des Niedersächsischen Finanzgerichts nicht anzuschließen. Dessen Ansicht verkürzt die Kausalkette und berücksichtigt nicht hinreichend, dass eine Sprinterklausel Teil der Gesamtvereinbarung über die Auflösung eines Arbeitsverhältnisses ist. Die Sprinterklausel ist ausschließlich im Kontext dieser Vereinbarung zu sehen. Ohne die Auflösungsvereinbarung bestünde für den Arbeitgeber keine Veranlassung, mit der Sprinterklausel dem Arbeitnehmer zusätzlich ein Gestaltungsrecht einzuräumen und dem Arbeitnehmer für die vorzeitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses zusätzlich einen Geldbetrag zu zahlen. Mit der Kündigungserklärung übt der Arbeitnehmer dann lediglich sein in der Auflösungsvereinbarung eingeräumtes Recht zur vorgezogenen Beendigung des Arbeitsverhältnisses aus. Die Ausübung des Gestaltungsrechts verändert nicht die getroffene Vereinbarung, sondern beruht auf ihr (BAG, Urteil vom 17.12.2015 6 AZR 709/14, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht - NZA - 2016, 361, Rz. 43 bei Juris). Die Kündigungserklärung zieht nur den Zeitpunkt der Beendigung des Arbeitsverhältnisses vor. Dieser Gesamtkontext überlagert nach Auffassung des Senats die Tatsache, dass die Kündigung einseitig vom Arbeitnehmer ausgeht.

Von diesen Überlegungen ausgehend ist auch der der Klägerin zugeflossene Betrag von … € den ermäßigt zu besteuernden außerordentlichen Einkünften zuzurechnen. Dieser Betrag ist als Entschädigung im Sinne des § 24 Nr. 1a EStG zu erfassen.

Im Streitfall endete das Arbeitsverhältnis nicht - wie vereinbart ‒ erst am 31.03.2016, sondern bereits am 10.08.2015. Damit endete auch der Anspruch der Klägerin auf reguläre Gehaltszahlungen, die als laufender Arbeitslohn

§ 19 Abs. 1 Nr. 1 EStG unterfielen. Die Zahlung der zusätzlichen Abfindung von … € erfolgte als Ausgleich für die wegen der vorgezogenen Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr entstehenden Gehaltsansprüche der Monate September 2015 bis März 2016. Damit handelte es sich gerade nicht um die Erfüllung entstandener oder entstehender Gehaltsansprüche, sondern um die Entschädigung entgehender Einnahmen. Die Zahlung durch den ehemaligen Arbeitgeber steht im unmittelbaren Zusammenhang mit der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und hat ihre neue rechtliche Grundlage in Ziffer 2 der Auflösungsvereinbarung vom 23.06.2015, aber nicht mehr im Arbeitsvertrag.

Die Zahlung dieser zusätzlichen Abfindung geht ursächlich auf die Auflösung des Arbeitsverhältnisses auf Veranlassung des Arbeitgebers zurück. Die Sprinterklausel ist - wie oben dargelegt - im Gesamtkontext der Auflösungsvereinbarung zu sehen. Der Beklagte hat die Darstellung der Klägerin zu den Hintergründen der Auflösungsvereinbarung nicht in Zweifel gezogen. Der Sachverhalt bietet nach Aktenlage ebenfalls keine Anhaltspunkte dafür, diese Angaben infrage zu stellen. Bereits die Zahlung der ursprünglichen Abfindung und der - streitigen - zusätzlichen Abfindung lassen darauf schließen, dass die Klägerin die Auflösung des Arbeitsverhältnisses nicht aus eigenem Antrieb herbeigeführt hat. Hinzu kommt das Interesse des Arbeitgebers, das Arbeitsverhältnis bereits vor dem 31.03.2016 zu beenden. Die Tatsache, dass die Klägerin gemäß Ziffer 3 der Auflösungsvereinbarung mit sofortiger Wirkung freigestellt wurde, belegt das Interesse der Arbeitgeberseite, das Dienstverhältnis schnellstmöglich zu beenden. Zudem musste der Arbeitgeber nur noch 75 % des monatlichen Bruttogehaltes leisten. Des Weiteren entfiel zusätzlich die Verpflichtung, den Arbeitgeberanteil an den Beiträgen zur Sozialversicherung zu erbringen (vgl. BSG, Urteil vom 21.02.1990 12 RK 20/88, BSGE 66, 219; Urteil vom 07.03.2007 B 12 KR 4/06 R, Juris, Rz. 15 f.).

Die beiden Entschädigungsleistungen an die Klägerin sind einheitlich zu behandeln; sie wurden beide als Ersatz für entgangene oder entgehende Einnahmen gezahlt (vgl. BFH, Urteil vom 11.05.2010 IX R 39/09, Sammlung der Entscheidungen des Bundesfinanzhofs - BFH/NV - 2010, 1801; Urteil vom 09.01.2018 IX R 34/16, BStBl II 2018, 582).

Beide Leistungen wurden im Kalenderjahr 2015 an die Klägerin erbracht, wie die elektronisch übermittelten Daten des ehemaligen Arbeitgebers belegen (Bl. 57 Einkommensteuerakten). Auch im Übrigen liegen die Voraussetzungen für die Annahme tarifbegünstigte außerordentlicher Einkünfte im Sinn von § 34 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 2 EStG unstreitig vor.

Die Übertragung der Ermittlung des festsetzenden Steuerbetrags auf den Beklagten beruht auf § 100 Abs. 2 Satz 2 FGO.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO und die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

Die Revision war gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO zuzulassen.

RechtsgebietEStGVorschriften§ 24 Nr. 1a EStG, § 34 Abs. 1 und 2 Nr. 2 EStG

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