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11.05.2021 · IWW-Abrufnummer 222298

Europäischer Gerichtshof: Urteil vom 15.04.2021 – C-868/19

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


URTEIL DES GERICHTSHOFS (Siebte Kammer)

15. April 2021(*)

„Vorlage zur Vorabentscheidung ‒ Mehrwertsteuer ‒ Richtlinie 2006/112/EG ‒ Art. 9 ‒ Steuerpflichtige ‒ Art. 11 ‒ Befugnis der Mitgliedstaaten, Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln (‚Mehrwertsteuergruppe‘) ‒ Begriff ‚durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden‘ ‒ Nationale Regelung, wonach es Personengesellschaften, deren Gesellschafter neben dem Organträger nicht nur Personen sind, die in das Unternehmen des Organträgers finanziell eingegliedert sind, verwehrt ist, einer Mehrwertsteuergruppe anzugehören ‒ Rechtssicherheit ‒ Maßnahmen zur Verhinderung von Steuerhinterziehungen oder ‑umgehungen ‒ Verhältnismäßigkeit ‒ Neutralität der Mehrwertsteuer“

In der Rechtssache C‑868/19

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Finanzgericht Berlin-Brandenburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 21. November 2019, beim Gerichtshof eingegangen am 27. November 2019, in dem Verfahren

M-GmbH

gegen

Finanzamt für Körperschaften Berlin

erlässt

DER GERICHTSHOF (Siebte Kammer)

unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten A. Kumin sowie der Richter T. von Danwitz und P. G. Xuereb (Berichterstatter),

Generalanwalt: G. Pitruzzella,

Kanzler: A. Calot Escobar,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

‒        der M-GmbH, vertreten durch D. Buß, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater,

‒        der deutschen Regierung, vertreten durch J. Möller und S. Eisenberg als Bevollmächtigte,

‒        der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Mantl und N. Gossement als Bevollmächtigte,

aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,

folgendes

Urteil

1

Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 11 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1, im Folgenden: Mehrwertsteuerrichtlinie).

2

Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der M-GmbH als Gesamtrechtsnachfolgerin der PD GmbH & Co. KG und dem Finanzamt für Körperschaften Berlin (Deutschland) (im Folgenden: Finanzamt) wegen der Mehrwertsteuerpflicht von PD für Dezember 2017.

Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht

3

Die Erwägungsgründe 4 und 7 der Mehrwertsteuerrichtlinie lauten:

„(4)      Voraussetzung für die Verwirklichung des Ziels, einen Binnenmarkt zu schaffen, ist, dass in den Mitgliedstaaten Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern angewandt werden, durch die die Wettbewerbsbedingungen nicht verfälscht und der freie Waren- und Dienstleistungsverkehr nicht behindert werden. Es ist daher erforderlich, eine Harmonisierung der Rechtsvorschriften über die Umsatzsteuern im Wege eines Mehrwertsteuersystems vorzunehmen, um so weit wie möglich die Faktoren auszuschalten, die geeignet sind, die Wettbewerbsbedingungen sowohl auf nationaler Ebene als auch auf Gemeinschaftsebene zu verfälschen.



(7)      Das gemeinsame Mehrwertsteuersystem sollte, selbst wenn die Sätze und Befreiungen nicht völlig harmonisiert werden, eine Wettbewerbsneutralität in dem Sinne bewirken, dass gleichartige Gegenstände und Dienstleistungen innerhalb des Gebiets der einzelnen Mitgliedstaaten ungeachtet der Länge des Produktions- und Vertriebswegs steuerlich gleich belastet werden.“

4

Art. 9 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht vor:

„Als ‚Steuerpflichtiger‘ gilt, wer eine wirtschaftliche Tätigkeit unabhängig von ihrem Ort, Zweck und Ergebnis selbstständig ausübt.

Als ‚wirtschaftliche Tätigkeit‘ gelten alle Tätigkeiten eines Erzeugers, Händlers oder Dienstleistenden einschließlich der Tätigkeiten der Urproduzenten, der Landwirte sowie der freien Berufe und der diesen gleichgestellten Berufe. Als wirtschaftliche Tätigkeit gilt insbesondere die Nutzung von körperlichen oder nicht körperlichen Gegenständen zur nachhaltigen Erzielung von Einnahmen.“

5

Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestimmt:

„Nach Konsultation des Beratenden Ausschusses für die Mehrwertsteuer (nachstehend ‚Mehrwertsteuerausschuss‘ genannt) kann jeder Mitgliedstaat in seinem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen behandeln.

Ein Mitgliedstaat, der die in Absatz 1 vorgesehene Möglichkeit in Anspruch nimmt, kann die erforderlichen Maßnahmen treffen, um Steuerhinterziehungen oder ‑umgehungen durch die Anwendung dieser Bestimmung vorzubeugen.“

Deutsches Recht

6

In § 2 („Unternehmer, Unternehmen“) des Umsatzsteuergesetzes vom 21. Februar 2005 (BGBl. 2005 I S. 386, im Folgenden: UStG) heißt es:

„(1)      Unternehmer ist, wer eine gewerbliche oder berufliche Tätigkeit selbständig ausübt. Das Unternehmen umfasst die gesamte gewerbliche oder berufliche Tätigkeit des Unternehmers. Gewerblich oder beruflich ist jede nachhaltige Tätigkeit zur Erzielung von Einnahmen, auch wenn die Absicht, Gewinn zu erzielen, fehlt oder eine Personenvereinigung nur gegenüber ihren Mitgliedern tätig wird.

(2)      Die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit wird nicht selbständig ausgeübt,



2.      wenn eine juristische Person nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist (Organschaft). Die Wirkungen der Organschaft sind auf Innenleistungen zwischen den im Inland gelegenen Unternehmensteilen beschränkt. Diese Unternehmensteile sind als ein Unternehmen zu behandeln. Hat der Organträger seine Geschäftsleitung im Ausland, gilt der wirtschaftlich bedeutendste Unternehmensteil im Inland als der Unternehmer.

…“

7

§ 709 („Gemeinschaftliche Geschäftsführung“) des Bürgerlichen Gesetzbuchs bestimmt in Abs. 1:

„Die Führung der Geschäfte der Gesellschaft steht den Gesellschaftern gemeinschaftlich zu; für jedes Geschäft ist die Zustimmung aller Gesellschafter erforderlich.“

8

Der zum Ersten Abschnitt („Offene Handelsgesellschaft“) des Zweiten Buchs („Handelsgesellschaften und stille Gesellschaft“) des Handelsgesetzbuchs (im Folgenden: HGB) gehörende § 119 sieht in Abs. 1 vor:

„Für die von den Gesellschaftern zu fassenden Beschlüsse bedarf es der Zustimmung aller zur Mitwirkung bei der Beschlussfassung berufenen Gesellschafter.“

9

Der zum Zweiten Abschnitt („Kommanditgesellschaft“) des Zweiten Buchs des HGB gehörende § 161 sieht in Abs. 2 vor:

„Soweit nicht in diesem Abschnitt ein anderes vorgeschrieben ist, finden auf die Kommanditgesellschaft die für die offene Handelsgesellschaft geltenden Vorschriften Anwendung.“

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10

PD wurde im Jahr 2010 als GmbH & Co. KG gegründet. Ab Dezember 2017 gehörten ihr die A-GmbH als Komplementärin sowie die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die D-GbR und die natürlichen Personen C, D und E als Kommanditisten an.

11

Nach dem Gesellschaftsvertrag von PD besaß jeder Gesellschafter, unabhängig von der Höhe der Pflichteinlagen, eine Stimme. Hiervon abweichend besaß die Klägerin des Ausgangsverfahrens sechs Stimmen. Mit Ausnahme einiger Beschlüsse über die Zusammensetzung der Gesellschafter und über Änderungen des Gesellschaftsvertrags, die der Einstimmigkeit bedurften, wurden sämtliche Beschlüsse von PD mit einfacher Mehrheit gefasst.

12

Ab Dezember 2017 handelten A und die Klägerin des Ausgangsverfahrens durch denselben Geschäftsführer.

13

Nach den Angaben in der Vorlageentscheidung war PD in wirtschaftlicher und organisatorischer Hinsicht in die Klägerin des Ausgangsverfahrens eingegliedert, und zwischen ihnen bestanden umfangreiche Leistungsbeziehungen.

14

PD ging davon aus, dass sie ab Dezember 2017 auch finanziell in die Klägerin des Ausgangsverfahrens eingegliedert gewesen sei, so dass sie und die Klägerin des Ausgangsverfahrens eine Organschaft im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG ‒ mit dem im deutschen Recht die in Art. 11 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie vorgesehene Möglichkeit umgesetzt werden soll, Personen, die rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln ‒ gebildet hätten. Da PD deshalb der Ansicht war, dass die Mehrwertsteuer von der Klägerin des Ausgangsverfahrens zu tragen sei, reichte sie für diesen Monat keine Umsatzsteuer-Voranmeldung ein.

15

Mit Bescheid vom 9. Mai 2018 setzte das Finanzamt eine Umsatzsteuer-Vorauszahlung von PD für Dezember 2017 fest. Ferner setzte es einen Verspätungszuschlag fest.

16

Der von PD gegen diesen Bescheid eingelegte Einspruch wurde zurückgewiesen.

17

Die Klägerin des Ausgangsverfahrens hat Klage beim Finanzgericht Berlin-Brandenburg (Deutschland) erhoben.

18

Im Rahmen ihrer Klage macht die Klägerin des Ausgangsverfahrens geltend, zwischen PD und ihr habe im Dezember 2017 ein Organschaftsverhältnis im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG bestanden. Über ihre wirtschaftliche und organisatorische Eingliederung hinaus sei entgegen der Auffassung des Finanzamts auch eine finanzielle Eingliederung zu bejahen. Infolgedessen seien sämtliche Umsätze und Vorsteuerbeträge für Dezember 2017 nicht PD, sondern der Klägerin des Ausgangsverfahrens zuzurechnen, so dass die für das Jahr 2017 angesetzten Umsätze von PD um die Schätzung für diesen Monat zu mindern seien. Außerdem sei der Verspätungszuschlag zu Unrecht festgesetzt worden, da PD nicht verpflichtet gewesen sei, für diesen Monat eine Umsatzsteuer-Voranmeldung abzugeben.

19

Das Finanzamt ist dagegen der Ansicht, im Dezember 2017 habe keine Organschaft zwischen PD und der Klägerin des Ausgangsverfahrens bestanden, da PD nicht finanziell in Letztere eingegliedert gewesen sei. Nach Abschnitt 2.8 Abs. 5a Satz 1 des Umsatzsteuer-Anwendungserlasses setze eine Organschaft nämlich voraus, dass Gesellschafter der betreffenden Personengesellschaft neben dem Organträger nur Personen seien, die finanziell in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert seien, so dass die erforderliche Durchgriffsmöglichkeit selbst bei der stets möglichen Anwendung des Einstimmigkeitsprinzips gewährleistet sei. Im vorliegenden Fall sei das Kriterium der finanziellen Eingliederung in das Unternehmen des Organträgers im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG nicht erfüllt, denn zu den Kommanditisten von PD gehörten neben der Klägerin des Ausgangsverfahrens, einer Gesellschaft mit beschränkter Haftung, auch natürliche Personen.

20

Das vorlegende Gericht hat Zweifel daran, ob die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung mit Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie in seiner Auslegung durch den Gerichtshof vereinbar ist, soweit nach dieser Regelung eine Personengesellschaft nur dann eine Organschaft mit dem Unternehmen des Organträgers bilden kann, wenn die Personengesellschaft neben dem Organträger nur Gesellschafter hat, die in finanzieller Hinsicht in dieses Unternehmen eingegliedert sind.

21

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs sehe Art. 11 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie für die Mitgliedstaaten keine ausdrückliche Möglichkeit vor, den Wirtschaftsteilnehmern zusätzliche Bedingungen für die Bildung einer Gruppe von Personen aufzuerlegen, die als ein Mehrwertsteuerpflichtiger angesehen werden könnten (im Folgenden: Mehrwertsteuergruppe), und insbesondere zu verlangen, dass nur juristische Personen einer Mehrwertsteuergruppe angehören könnten.

22

Da es bei den verschiedenen Senaten des Bundesfinanzhofs (Deutschland) jedoch divergierende Auffassungen in Bezug auf die Umsetzung der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu der genannten Bestimmung in innerstaatliches Recht gebe, seien Klarstellungen in Bezug auf die Auslegung dieser Bestimmung nötig.

23

Einerseits sehe der XI. Senat des Bundesfinanzhofs darin, dass die Möglichkeit, eine Mehrwertsteuergruppe zu bilden, von einer die Rechtsform der fraglichen Einheit betreffenden Voraussetzung abhängig gemacht werde, einen Verstoß gegen Art. 11 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie, sofern nicht die Voraussetzungen ihres Art. 11 Abs. 2 erfüllt seien.

24

Andererseits gebiete der Grundsatz der Rechtssicherheit nach Ansicht des V. Senats des Bundesfinanzhofs eine enge Auslegung des Begriffs „Personen“ in Art. 11 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie. Während nämlich über die Stimmrechtsverteilung und damit über die finanzielle Eingliederung einer juristischen Person rechtssicher, einfach und ohne Nachweisschwierigkeiten entschieden werden könne, treffe das auf Personengesellschaften nicht zu. Diese Beweisschwierigkeiten ergäben sich aus dem nationalen Recht, das den Abschluss von Gesellschaftsverträgen bei juristischen Personen von besonderen Formerfordernissen abhängig mache. So bedürften die Gesellschaftsverträge von Gesellschaften mit beschränkter Haftung und von Aktiengesellschaften der notariellen Form, und die den Gesellschaftern obliegenden Entscheidungen seien grundsätzlich mit Stimmenmehrheit zu treffen. Dagegen bestehe für den Abschluss und die Änderung der Gesellschaftsverträge von Personengesellschaften kein Formzwang. Grundsätzlich gelte das Einstimmigkeitsprinzip, doch es sei abdingbar und könne aufgrund mündlicher Vereinbarungen durch andere Regeln (z. B. das Mehrheitsprinzip) ersetzt werden.

25

Der V. Senat des Bundesfinanzhofs habe entschieden, dass Personengesellschaften nur dann Organgesellschaften sein könnten, wenn ihnen als Gesellschafter, neben dem Organträger, nur Personen angehörten, die im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG finanziell in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert seien.

26

Fraglich sei daher, ob Art. 11 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie einer solchen Beschränkung der Tragweite des Begriffs „Mehrwertsteuergruppe“ entgegenstehe.

27

Falls dies zu bejahen sei, müsse ferner geklärt werden, ob die Beschränkung der Eigenschaft als eine unter § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG fallende „Organgesellschaft“ auf juristische Personen und Personengesellschaften, bei dem Organträger nur Personen, die im Sinne dieser Bestimmung finanziell in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert seien, Gesellschafter seien, eine für die Ziele der Vermeidung von Steuerhinterziehung oder ‑umgehung erforderliche und geeignete Maßnahme im Sinne von Art. 11 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie darstelle.

28

In Anbetracht der Rechtsprechung des V. Senats des Bundesfinanzhofs sei nicht ausgeschlossen, dass diese Beschränkung als Maßnahme zur Vermeidung von Steuerhinterziehung oder ‑umgehung im Sinne von Art. 11 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie angesehen werden könne, weil eine erschwerte Nachprüfbarkeit von Angaben des Steuerpflichtigen die Gefahr von Falschangaben und Manipulationen mit sich bringe. Diese Rechtsprechung könnte indes gegen die unionsrechtlichen Grundsätze der steuerlichen Neutralität und der Verhältnismäßigkeit verstoßen.

29

In Bezug auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität sei hervorzuheben, dass hinsichtlich der Tätigung von Umsätzen zwischen Personengesellschaften, bei denen Gesellschafter neben dem Organträger nur Personen seien, die in das Unternehmen des Organträgers finanziell eingegliedert sind, einerseits und Personengesellschaften, bei denen dies nicht der Fall sei, andererseits keine umsatzsteuerrechtlichen Unterschiede bestünden. Wenn sie gleichartige Umsätze tätigten, stünden diese beiden Arten von Gesellschaften zudem in unmittelbarem Wettbewerb miteinander.

30

Hinsichtlich des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit stelle sich die Frage, ob die Beschränkung nicht über das hinausgehe, was zur Erreichung des Ziels, Steuerhinterziehungen oder ‑umgehungen vorzubeugen, erforderlich sei.

31

Das vorlegende Gericht möchte überdies wissen, ob die in Art. 11 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie geforderten Maßnahmen mit der erkennbaren Intention erlassen worden sein müssten, Steuerhinterziehungen oder ‑umgehungen vorzubeugen, oder ob es genüge, dass solche Maßnahmen ‒ unabhängig von dem vom Gesetzgeber verfolgten Ziel ‒ zur Vorbeugung objektiv geeignet und erforderlich seien.

32

In diesem Kontext hat das Finanzgericht Berlin-Brandenburg beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1.      Ist Art. 11 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie dahin gehend auszulegen, dass er der Regelung des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG entgegensteht, soweit durch diese einer Personengesellschaft (hier: einer GmbH & Co. KG), bei der Gesellschafter neben dem Organträger nicht nur Personen sind, die nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG in das Unternehmen des Organträgers finanziell eingegliedert sind, verwehrt ist, Organgesellschaft im Rahmen einer umsatzsteuerrechtlichen Organschaft zu sein?

2.      Sofern die Vorlagefrage zu 1. bejaht wird:

a)      Ist Art. 11 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie ‒ unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeits- und Neutralitätsgrundsatzes ‒ dahin gehend auszulegen, dass er einen Ausschluss von Personengesellschaften der in der Vorlagefrage zu 1. genannten Art von einer umsatzsteuerrechtlichen Organschaft rechtfertigen kann, weil bei Personengesellschaften für den Abschluss und die Änderung von Gesellschaftsverträgen nach nationalem Recht kein Formzwang besteht und bei bloß mündlichen Vereinbarungen in Einzelfällen Nachweisschwierigkeiten für das Vorliegen der finanziellen Eingliederung der Organgesellschaft bestehen können?

b)      Steht es einer Anwendung des Art. 11 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie entgegen, wenn der nationale Gesetzgeber die Absicht zur Vorbeugung von Steuerhinterziehungen oder ‑umgehungen nicht bereits bei Erlass der Maßnahme gefasst hat?

Zu den Vorlagefragen

33

Mit seinen Vorlagefragen, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie im Licht der Grundsätze der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Möglichkeit für eine Personengesellschaft, zusammen mit dem Unternehmen des Organträgers eine Mehrwertsteuergruppe zu bilden, davon abhängig macht, dass Gesellschafter der Personengesellschaft neben dem Organträger nur Personen sind, die in dieses Unternehmen finanziell eingegliedert sind.

34

Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht in Abs. 1 vor, dass jeder Mitgliedstaat in seinem Gebiet ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen behandeln kann; nach Art. 11 Abs. 2 kann ein Mitgliedstaat, der diese Möglichkeit in Anspruch nimmt, die erforderlichen Maßnahmen treffen, um Steuerhinterziehungen oder ‑umgehungen durch die Anwendung dieser Bestimmung vorzubeugen.

35

Mit dieser Bestimmung wollte der Unionsgesetzgeber es den Mitgliedstaaten ermöglichen, die Eigenschaft des Steuerpflichtigen nicht systematisch an das Merkmal der rein rechtlichen Selbständigkeit zu knüpfen, und zwar aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung oder zur Verhinderung bestimmter Missbräuche, wie z. B. der Aufspaltung eines Unternehmens zwischen mehreren Steuerpflichtigen, um in den Genuss einer Sonderregelung zu gelangen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 9. April 2013, Kommission/Irland, C‑85/11, EU:C:2013:217, Rn. 47, und vom 16. Juli 2015, Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt, C‑108/14 und C‑109/14, EU:C:2015:496, Rn. 40).

36

Die Gleichstellung mit einem einzigen Steuerpflichtigen in Art. 11 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie schließt es aus, dass die untergeordneten Personen weiterhin getrennt Mehrwertsteuererklärungen abgeben und innerhalb wie außerhalb ihres Konzerns weiter als Steuerpflichtige angesehen werden, da nur der einzige Steuerpflichtige befugt ist, diese Erklärungen abzugeben (Urteile vom 22. Mai 2008, Amplifin und Amplifin, C‑162/07, EU:C:2008:301, Rn. 19, und vom 17. September 2014, Skandia America [USA], C‑7/13, EU:C:2014:2225, Rn. 29).

37

Aus den Erläuterungen des vorlegenden Gerichts und der deutschen Regierung ergibt sich zunächst, dass der deutsche Gesetzgeber von der ihm durch Art. 11 eingeräumten Befugnis mittels § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG Gebrauch gemacht hat, der vorsieht, dass „Organschaften“ gebildet werden können.

38

Sodann ergibt sich aus diesen Erläuterungen, dass eine juristische Person nach deutschem Recht nur dann als in finanzieller Hinsicht in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert angesehen werden kann, wenn der Organträger seinen Willen durchsetzen kann, insbesondere durch eine Mehrheitsbeteiligung an der Gesellschaft, bei der die Beschlüsse mehrheitlich gefasst werden.

39

Ein Teil der deutschen Rechtsprechung sieht diese Voraussetzung bei Personengesellschaften als nicht erfüllt an, da sie keine juristischen Personen seien und ihre Entscheidungen normalerweise einstimmig träfen. Diese Gesellschaften hätten zwar die Möglichkeit, ihren Gesellschaftsvertrag so zu ändern, dass ihre Beschlüsse mehrheitlich getroffen werden könnten. Änderungen des Gesellschaftsvertrags könnten jedoch mündlich vereinbart werden; dies sei geeignet, zu Rechtsunsicherheit hinsichtlich der Abstimmungsmodalitäten und damit hinsichtlich der für die finanzielle Eingliederung erforderlichen Möglichkeit des Organträgers zu führen, seinen Willen in diesen Gesellschaften durchzusetzen. Deshalb sei nach deutschem Recht der Beitritt von Personengesellschaften zu einer Mehrwertsteuergruppe grundsätzlich ausgeschlossen.

40

Schließlich lasse dieser Teil der deutschen Rechtsprechung nur dann eine Ausnahme von dem fraglichen Ausschluss zu, wenn alle Gesellschafter der Personengesellschaft neben dem Organträger Personen seien, die selbst finanziell in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert seien. In einer solchen Situation kontrolliere nämlich der Organträger unmittelbar oder mittelbar jeden Gesellschafter, so dass er seinen Willen in der Personengesellschaft durchsetzen könne, auch wenn deren Beschlüsse einstimmig gefasst werden müssten.

41

Im vorliegenden Fall steht zwar fest, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens, die Organträgerin von PD, in der Lage war, ihren Willen bei PD durch Beschlüsse, von denen die meisten mehrheitlich getroffen wurden, durchzusetzen, doch geht aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten hervor, dass zu ihren Gesellschaftern Personen gehörten, die finanziell nicht in die Klägerin des Ausgangsverfahrens eingegliedert waren. Das vorlegende Gericht wirft daher die Frage auf, ob der Ausschluss von PD vom Beitritt zur Mehrwertsteuergruppe mit dem in Art. 11 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgestellten Erfordernis enger Verbindungen durch finanzielle Beziehungen im Einklang steht und ob er jedenfalls als erforderliche Maßnahme angesehen werden kann, um dem vorzubeugen, dass durch die Anwendung dieser Bestimmung Steuerhinterziehungen oder ‑umgehungen im Sinne von Art. 11 Abs. 2 der Richtlinie ermöglicht werden.

42

Erstens ist daher zu klären, ob, wie die deutsche Regierung vorträgt, das Bestehen einer engen Verbindung durch finanzielle Beziehungen im Sinne von Art. 11 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie im Fall einer Personengesellschaft verlangt, dass deren Gesellschafter neben dem Organträger zwangsläufig in finanzieller Hinsicht in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert sind.

43

Insoweit trifft es zwar zu, dass die in Art. 11 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgestellte Voraussetzung, wonach die Bildung einer Mehrwertsteuergruppe davon abhängt, dass zwischen den betreffenden Personen enge Verbindungen durch finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen bestehen, einer Präzisierung auf nationaler Ebene bedarf, so dass diese Bestimmung insofern bedingten Charakter hat, als sie die Anwendung nationaler Rechtsvorschriften impliziert, die den konkreten Umfang solcher Verbindungen bestimmen (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2015, Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt, C‑108/14 und C‑109/14, EU:C:2015:496, Rn. 50).

44

Für eine einheitliche Anwendung der Mehrwertsteuerrichtlinie ist es jedoch wichtig, dass der Begriff der engen Verbindungen durch finanzielle Beziehungen im Sinne von Art. 11 der Richtlinie autonom und einheitlich ausgelegt wird. Eine solche Auslegung ist, obwohl die in diesem Artikel vorgesehene Regelung für die Mitgliedstaaten fakultativ ist, verbindlich, um, wenn auf ihn zurückgegriffen wird, zu vermeiden, dass es bei der Anwendung dieser Regelung Divergenzen zwischen den Mitgliedstaaten gibt (vgl. entsprechend Urteil vom 25. April 2013, Kommission/Schweden, C‑480/10, EU:C:2013:263, Rn. 34).

45

Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie geht jedoch hervor, dass die Voraussetzung des Vorliegens einer engen Verbindung durch finanzielle Beziehungen nicht restriktiv ausgelegt werden darf.

46

Zum einen geht nämlich aus dem Wortlaut, dem Zusammenhang und dem Ziel von Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie nicht hervor, dass Personen, die keine Steuerpflichtigen sind, nicht in eine Mehrwertsteuergruppe einbezogen werden können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 9. April 2013, Kommission/Irland, C‑85/11, EU:C:2013:217, Rn. 41, 46 und 50). Diese Bestimmung schließt auch Einheiten, die wie die Personengesellschaften keine juristischen Personen sind, nicht per se von ihrem Anwendungsbereich aus (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt, C‑108/14 und C‑109/14, EU:C:2015:496, Rn. 37). Wie die Kommission dargelegt hat, dürfen die Mitgliedstaaten daher zum Nachweis des Vorliegens einer engen Verbindung durch finanzielle Beziehungen keine Kriterien heranziehen, die sich ausschließlich auf bestimmte Arten juristischer Personen beziehen.

47

Zum anderen hat der Gerichtshof klargestellt, dass das bloße Bestehen enger Verbindungen zwischen den zu einer Mehrwertsteuergruppe gehörenden Personen in Ermangelung weiterer Anforderungen nicht zu der Annahme führen kann, dass der Unionsgesetzgeber die Inanspruchnahme der Regelung über die Mehrwertsteuergruppe allein den Einheiten vorbehalten wollte, die sich in einem Unterordnungsverhältnis zum Organträger der betreffenden Unternehmensgruppe befinden. Liegt ein solches Unterordnungsverhältnis vor, lässt dies zwar die Vermutung zu, dass zwischen den fraglichen Personen enge Verbindungen bestehen, doch kann es nicht grundsätzlich als eine für die Bildung einer Mehrwertsteuergruppe notwendige Voraussetzung angesehen werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 16. Juli 2015, Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt, C‑108/14 und C‑109/14, EU:C:2015:496, Rn. 44 und 45).

48

Im vorliegenden Fall geht aus der Vorlageentscheidung hervor, dass die Klägerin des Ausgangsverfahrens ihren Willen bei PD durch mehrheitlich gefasste Beschlüsse durchzusetzen vermochte, so dass das Bestehen enger Verbindungen durch finanzielle Beziehungen vermutet werden kann. Der bloße Umstand, dass die Gesellschafter von PD theoretisch mittels mündlicher Vereinbarungen den Gesellschaftsvertrag so ändern konnten, dass Beschlüsse künftig einstimmig zu fassen waren, reicht nicht aus, um diese Vermutung zu entkräften.

49

Entgegen dem Vorbringen der deutschen Regierung kann dieses Ergebnis durch den Grundsatz der Rechtssicherheit nicht in Frage gestellt werden.

50

Nach diesem Grundsatz müssen die Rechtsnormen der Mitgliedstaaten auf den vom Unionsrecht erfassten Gebieten eindeutig formuliert sein, so dass den betroffenen Personen die klare und genaue Kenntnis ihrer Rechte und Pflichten ermöglicht wird und die innerstaatlichen Gerichte in die Lage versetzt werden, deren Einhaltung sicherzustellen (Urteil vom 9. Juli 2015, Cabinet Medical Veterinar Dr. Tomoiagă Andrei, C‑144/14, EU:C:2015:452, Rn. 35). Dieser Grundsatz verlangt, dass die steuerliche Lage des Steuerpflichtigen hinsichtlich seiner Rechte und Pflichten gegenüber der Finanzverwaltung nicht unbegrenzt offenbleiben kann (Urteil vom 30. April 2020, CTT ‒ Correios de Portugal, C‑661/18, EU:C:2020:335, Rn. 41), und soll damit zugleich den betreffenden Steuerpflichtigen und die betreffende Verwaltung schützen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 23. April 2020, Sole-Mizo und Dalmandi Mezőgazdasági, C‑13/18 und C‑126/18, EU:C:2020:292, Rn. 54).

51

Für die Klägerin des Ausgangsverfahrens bestand zwar während des in diesem Verfahren in Rede stehenden Zeitraums keine Rechtsunsicherheit, da sie die Abstimmungsmodalitäten bei PD kannte und daher zu beurteilen vermochte, ob eine Vermutung für das Bestehen einer engen Verbindung durch finanzielle Beziehungen im Sinne von Art. 11 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie bestand; die deutsche Regierung macht jedoch geltend, die Tatsache, dass nach deutschem Recht der Gesellschaftsvertrag von Personengesellschaften formlos geschlossen oder geändert werden könne, führe für die Finanzverwaltung zu Beweisschwierigkeiten hinsichtlich des Vorliegens einer Mehrwertsteuergruppe.

52

Die von der deutschen Regierung angeführte Rechtsunsicherheit ergibt sich jedoch nicht aus der Anwendung der Regelung über die Mehrwertsteuergruppe, sondern aus der Anwendung der Formerfordernisse, denen die Errichtung und die Änderung des Gesellschaftsvertrags von Personengesellschaften nach deutschem Recht unterliegen.

53

Wie das vorlegende Gericht ausführt, können sich die Mitgliedstaaten aber nicht auf Besonderheiten ihres nationalen Rechts berufen, um den in Art. 11 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgestellten Voraussetzungen eine weitere hinzuzufügen (vgl. entsprechend Urteil vom 12. November 2019, Kommission/Irland [Windfarm Derrybrien], C‑261/18, EU:C:2019:955, Rn. 89 und die dort angeführte Rechtsprechung).

54

Würde der Grundsatz der Rechtssicherheit Personengesellschaften, zu deren Gesellschaftern neben dem Organträger nicht nur Personen gehören, die in das Unternehmen des Organträgers finanziell eingegliedert sind, die Bildung von Mehrwertsteuergruppen im Sinne von Art. 11 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie allein deshalb verwehren, weil ihre Gesellschaftsverträge nach nationalem Recht rein mündlich geschlossen und geändert werden können, liefe dies im Übrigen, wie auch das vorlegende Gericht zu Recht feststellt, darauf hinaus, die Vereinbarkeit aller mündlichen Vereinbarungen, die Rechtsfolgen im Bereich der Mehrwertsteuer haben, mit diesem Grundsatz in Frage zu stellen.

55

Daraus folgt, dass sich der Ausschluss einer Personengesellschaft, zu deren Gesellschaftern neben dem Organträger nicht nur Personen gehören, die in das Unternehmen des Organträgers finanziell eingegliedert sind, von der Mehrwertsteuergruppe nicht aus der in Art. 11 Abs. 1 der Mehrwertsteuerrichtlinie aufgestellten Voraussetzung in Bezug auf das Bestehen enger Verbindungen durch finanzielle Beziehungen ergibt, sondern eine zusätzliche Voraussetzung neben den in dieser Bestimmung aufgezählten darstellt.

56

Zweitens ist zu prüfen, ob eine Voraussetzung wie die in § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG genannte gleichwohl zu den erforderlichen Maßnahmen gezählt werden kann, die getroffen werden können, um im Sinne von Art. 11 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie Steuerhinterziehungen oder ‑umgehungen durch die Anwendung von Art. 11 Abs. 1 vorzubeugen.

57

Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie sieht zwar für die Mitgliedstaaten keine ausdrückliche Möglichkeit vor, den Wirtschaftsteilnehmern weitere Bedingungen für die Bildung einer Mehrwertsteuergruppe aufzuerlegen; sie können jedoch im Rahmen ihres Ermessens die Anwendung der Regelung über die Mehrwertsteuergruppe bestimmten Beschränkungen unterwerfen, sofern diese den Zielen der Richtlinie entsprechen, die auf die Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen und die Vermeidung von Steuerhinterziehung oder ‑umgehung abzielt, und sofern das Unionsrecht und seine allgemeinen Grundsätze, insbesondere die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität, beachtet werden (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 25. April 2013, Kommission/Schweden, C‑480/10, EU:C:2013:263, Rn. 38, vom 16. Juli 2015, Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt, C‑108/14 und C‑109/14, EU:C:2015:496, Rn. 38, 41 und 45 sowie die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 17. Mai 2018, Vámos, C‑566/16, EU:C:2018:321, Rn. 41).

58

Insoweit hat das vorlegende Gericht zu prüfen, ob der in der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung vorgesehene Ausschluss von Personengesellschaften, zu deren Gesellschaftern neben dem Organträger nicht nur Personen gehören, die in das Unternehmen des Organträgers finanziell eingegliedert sind, eine für die Ziele der Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen und der Vermeidung von Steuerhinterziehung oder ‑umgehung erforderliche und geeignete Maßnahme darstellt (vgl. entsprechend Urteil vom 16. Juli 2015, Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt, C‑108/14 und C‑109/14, EU:C:2015:496, Rn. 43 und die dort angeführte Rechtsprechung).

59

Das vorlegende Gericht möchte gleichwohl nähere Angaben zu den Kriterien erhalten, anhand deren es die Vereinbarkeit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden nationalen Regelung mit den Grundsätzen der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität beurteilen kann.

60

Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass ein Teil der nationalen Rechtsprechung die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Regelung so auslegt, dass der Ausschluss bestimmter Personengesellschaften von der Möglichkeit, einer Mehrwertsteuergruppe anzugehören, gerechtfertigt sei, weil die Errichtung und die Änderung ihres Gesellschaftsvertrags nach nationalem Recht keinem Formerfordernis unterlägen und insbesondere rein mündlich vereinbart werden könnten. Dieses Fehlen eines Formerfordernisses könnte nämlich zu Beweisschwierigkeiten hinsichtlich des Bestehens einer engen Verbindung durch finanzielle Beziehungen führen, die geeignet wären, die Verschleierung der Identität des Mehrwertsteuerpflichtigen zu erleichtern und damit missbräuchliche Praktiken und Verhaltensweisen sowie Steuerhinterziehungen oder ‑umgehungen zu begünstigen. Zur Veranschaulichung hebt die deutsche Regierung hervor, dass sich ein unredlicher Steuerpflichtiger nachträglich auf eine mündliche Änderung der Vereinbarungen über die Stimmrechte bei der fraglichen Personengesellschaft berufen könnte, um zu seinen Gunsten willkürlich auf abgeschlossene Steuerzeiträume Einfluss zu nehmen.

61

Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs kann eine missbräuchliche Praxis aber nur dann vorliegen, wenn aus einer Reihe objektiver Anhaltspunkte ersichtlich ist, dass mit den fraglichen Umsätzen im Wesentlichen ein Steuervorteil erlangt werden soll (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Februar 2006, Halifax u. a., C‑255/02, EU:C:2006:121, Rn. 75); die Gefahr der Steuerhinterziehung oder ‑umgehung im Sinne von Art. 11 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie darf mithin nicht rein theoretisch sein.

62

Es trifft zwar zu, dass es bei mündlichen Vereinbarungen für die Finanzverwaltung schwieriger ist, sich zu vergewissern, dass zwischen verschiedenen Personen enge finanzielle Beziehungen bestehen, und den Mehrwertsteuerschuldner zu ermitteln, doch geht aus der Vorlageentscheidung nicht hervor, dass diese Schwierigkeit im vorliegenden Fall de facto, wenn PD die Möglichkeit gehabt hätte, Mitglied einer Mehrwertsteuergruppe zu werden, zu Steuerhinterziehung oder ‑umgehung oder zur Entstehung einer echten solchen Gefahr geführt hätte.

63

Zum Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist festzustellen, dass eine nationale Regelung, mit der alle Personengesellschaften, zu deren Gesellschaftern natürliche Personen gehören, systematisch von den Vorteilen der Mehrwertsteuergruppe ausgeschlossen werden, über das hinausgeht, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 11. Juni 2020, SCT, C‑146/19, EU:C:2020:464, Rn. 39 und die dort angeführte Rechtsprechung).

64

Überdies ist darauf hinzuweisen, dass das vorlegende Gericht selbst weniger restriktive Maßnahmen als einen solchen systematischen Ausschluss angeführt hat, etwa in Form des Erfordernisses eines Urkundsbeweises allein für die Eingliederungsvoraussetzungen oder einer Bewilligung der Bildung einer Mehrwertsteuergruppe durch die Finanzverwaltung. Zu Letzterem hat der Gerichtshof bereits entschieden, dass der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit einen Mitgliedstaat, der von der Befugnis Gebrauch gemacht hat, seinen Steuerpflichtigen das Recht einzuräumen, für eine bestimmte Steuerregelung zu optieren, nicht daran hindert, ihre Anwendung von einer Bewilligung der Finanzverwaltung abhängig zu machen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 30. April 2020, CTT ‒ Correios de Portugal, C‑661/18, EU:C:2020:335, Rn. 35 und die dort angeführte Rechtsprechung). Eine solche Bewilligung und der schriftliche Nachweis der Eingliederungsvoraussetzungen würden Rechtsunsicherheiten von vornherein verhindern und zugleich einen wirksamen Schutz vor Missbräuchen bieten.

65

Schließlich ist in Bezug auf den Grundsatz der steuerlichen Neutralität darauf hinzuweisen, dass mit der Mehrwertsteuerrichtlinie, wie sich aus ihren Erwägungsgründen 4 und 7 ergibt, ein Mehrwertsteuersystem geschaffen werden soll, das die Wettbewerbsbedingungen nicht verfälscht und den freien Verkehr von Waren und Dienstleistungen nicht behindert. Außerdem ist dieser Grundsatz nach ständiger Rechtsprechung dem durch die Richtlinie eingeführten gemeinsamen Mehrwertsteuersystem immanent und verbietet es insbesondere, Wirtschaftsteilnehmer, die gleichartige Umsätze tätigen, bei der Erhebung der Mehrwertsteuer unterschiedlich zu behandeln (Urteil vom 29. November 2018, Mensing, C‑264/17, EU:C:2018:968, Rn. 32). Für die Frage, ob Gegenstände oder Dienstleistungen gleichartig sind, ist aber die Rechtsform, in der der Hersteller oder der Dienstleistungserbringer seine Tätigkeit ausübt, grundsätzlich unerheblich (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 17. Februar 2005, Linneweber und Akritidis, C‑453/02 und C‑462/02, EU:C:2005:92, Rn. 25, und vom 16. Oktober 2008, Canterbury Hockey Club und Canterbury Ladies Hockey Club, C‑253/07, EU:C:2008:571, Rn. 31).

66

Im vorliegenden Fall führt das vorlegende Gericht aus, Personengesellschaften, zu deren Gesellschaftern neben dem Organträger nicht nur Personen gehörten, die im Sinne von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG in das Unternehmen des Organträgers finanziell eingegliedert seien, und Personengesellschaften, deren Gesellschafter nicht alle in dieser Weise finanziell eingegliedert seien, tätigten die gleichen Umsätze und stünden miteinander in Wettbewerb. In einem solchen Fall verstößt es gegen den Grundsatz der steuerlichen Neutralität, wenn die letztgenannte Kategorie von Personengesellschaften von der Inanspruchnahme der Regelung über die Mehrwertsteuergruppe ausgeschlossen wird.

67

Zu dem vom vorlegenden Gericht hervorgehobenen Umstand, dass der nationale Gesetzgeber die Absicht zur Vorbeugung von Steuerhinterziehungen oder ‑umgehungen nicht bereits beim Erlass der Maßnahme gefasst habe, genügt der Hinweis, dass mangelnde Bestimmtheit der fraglichen Regelung hinsichtlich des verfolgten Ziels nicht dazu führen kann, dass ihre Rechtfertigung gemäß Art. 11 Abs. 2 der Mehrwertsteuerrichtlinie systematisch ausgeschlossen wird. Fehlt es an einer solchen genauen Angabe, müssen andere ‒ aus dem allgemeinen Kontext der betreffenden Maßnahme abgeleitete ‒ Anhaltspunkte die Feststellung des hinter ihr stehenden Ziels ermöglichen, damit dessen Rechtmäßigkeit sowie die Angemessenheit und Erforderlichkeit der zu seiner Erreichung eingesetzten Mittel gerichtlich überprüft werden können (vgl. entsprechend Urteil vom 21. Juli 2011, Fuchs und Köhler, C‑159/10 und C‑160/10, EU:C:2011:508, Rn. 39).

68

Nach alledem ist auf die Vorlagefragen zu antworten, dass Art. 11 der Mehrwertsteuerrichtlinie im Licht der Grundsätze der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen ist, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Möglichkeit für eine Personengesellschaft, zusammen mit dem Unternehmen des Organträgers eine Mehrwertsteuergruppe zu bilden, davon abhängig macht, dass Gesellschafter der Personengesellschaft neben dem Organträger nur Personen sind, die in dieses Unternehmen finanziell eingegliedert sind.

Kosten

69

Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Siebte Kammer) für Recht erkannt:

Art. 11 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist im Licht der Grundsätze der Rechtssicherheit, der Verhältnismäßigkeit und der steuerlichen Neutralität dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Möglichkeit für eine Personengesellschaft, zusammen mit dem Unternehmen des Organträgers eine als ein Mehrwertsteuerpflichtiger zu behandelnde Personengruppe zu bilden, davon abhängig macht, dass Gesellschafter der Personengesellschaft neben dem Organträger nur Personen sind, die in dieses Unternehmen finanziell eingegliedert sind.

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