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26.03.2021 · IWW-Abrufnummer 221442

Oberlandesgericht Jena: Beschluss vom 17.03.2021 – 1 OLG 331 SsBs 23/20

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


OLG Jena

Beschluss vom 17.03.2021


Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird das Urteil des Amtsgerichts Gera vom 12.12.2019 mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Prüfung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Gera zurückverwiesen.

Gründe

I.

Mit Urteil des Amtsgerichts Gera vom 12.12.2019 wurde ‒ nach rechtzeitigem Einspruch gegen den gleichlautenden Bußgeldbescheid der Thüringer Polizei/Zentrale Bußgeldstelle vom 03.06.2019 ‒ der hinsichtlich seiner Fahrereigenschaft geständige Betroffene wegen einer am 28.02.2019 gegen 13.23 Uhr auf der BAB 4, Fahrtrichtung Dresden, km 139, als Fahrer des Pkws mit dem amtlichen Kennzeichen begangenen fahrlässigen Überschreitung der außerorts durch ordnungsgemäße Beschilderung festgelegten Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h um (abzüglich eines Toleranzwertes von 6 km/h) 63 km/h- gemessen mittels gültig geeichten Geschwindigkeitsmessgerätes Poliscan M1 HP- zu einer (Regel-)Geldbuße von 440,- € verurteilt und gegen ihn ein ‒ mit der Wirksamkeitsregel des § 25 Abs. 2a StVG versehenes ‒ (Regel-)Fahrverbot von 2 Monaten Dauer verhängt.

Gegen das Urteil wendet sich die von dem Betroffenen form- und fristgerecht eingelegte Rechtsbeschwerde, die auf die näher ausgeführte Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützt worden ist.

Die Thüringer Generalstaatsanwaltschaft hat mit ‒ dem Betroffenen über seinen Verteidiger zugestellter ‒ Stellungnahme vom 15.05.2020 beantragt, die Rechtsbeschwerde als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.

Der Betroffene hat hierauf über seinen Verteidiger mit Schriftsatz vom 08.06.2020 erwidert.

Mit Beschluss der gem. § 80a Abs. 1 OWiG zuständigen Einzelrichterin vom 22.02.2021 ist die Entscheidung über die Rechtsbeschwerde gem. § 80 Abs. 1, Abs. 3 Satz 1 OWiG zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung auf den Bußgeldsenat in der Besetzung mit drei Richtern übertragen worden.

II.

1.

Die gem. § 79 Abs. 1 Satz.1 Nrn. 1, 2 OWiG statthafte und auch sonst zulässige Rechtsbeschwerde hat (vorläufig) Erfolg, soweit sie mit der auf die Verletzung des fair-trial-Grundsatzes gestützten Verfahrensrüge geltend macht, dem Antrag des Betroffenen auf Überlassung der mit seiner Messung in Zusammenhang stehenden “Messserie” sei nicht entsprochen und damit seine Verteidigung unzulässig beschränkt worden, § 338 Nr. 8 StPO.

a.

Das Recht auf ein faires Verfahren zählt zu den wesentlichen Grundsätzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens. In ihm darf der Betroffene nicht bloßes Verfahrensobjekt sein; ihm muss vielmehr die Möglichkeit gegeben werden, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen. Das Gebot fairer Verfahrensführung soll dabei gewährleisten, dass der Betroffene seine prozessualen Rechte und Möglichkeiten mit der erforderlichen Sachkunde selbständig wahrnehmen und Übergriffe staatlicher Stellen oder anderer Verfahrensbeteiligter angemessen abwehren kann. Als aus Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. dem Rechtsstaatsprinzip resultierendes Prozessgrundrecht steht es dem Betroffenen im Ordnungswidrigkeitenverfahren ebenso zu wie dem Beschuldigten im Strafverfahren (vgl. BVerfG, Beschl. v. 19.03.1992, Az. 2 BvR 1/91, bei juris) und wendet sich nicht nur an die Gerichte, sondern auch an die Exekutive, soweit diese sich rechtlich gehalten sieht, bestimmte Beweismittel nicht freizugeben (BVerfG, Beschl. v. 26.05.1981, Az. 2 BvR 215/81; OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.07.2019, Az. 1 Rb 10 Ss 291/19, bei juris).

b.

Kennzeichnend für den Anspruch auf ein faires Verfahren ist die Forderung nach verfahrensrechtlicher Waffengleichheit von Ankläger und Beschuldigtem (BVerfG, Beschl. v. 08.10.1974, Az. 2 BvR 747/73; Beschl. v. 15.01.2009, Az. 2 BvR 2044/07, bei juris). Das bedeutet allerdings nicht, dass unter diesem Gesichtspunkt in der Rollenverteilung begründete verfahrensspezifische Unterschiede in den Handlungsmöglichkeiten von Verfolgungsbehörde und Verteidigung in jeder Hinsicht ausgeglichen werden müssten (vgl. BVerfG, Beschl. v. 15.01.2009, a. a. O.) oder verfahrensrechtliche Positionen Betroffener nicht auch eine Zurücksetzung zugunsten einer wirksamen Rechtspflege erfahren können, deren Erfordernisse in der vorzunehmenden Gesamtschau ebenfalls zu berücksichtigen sind (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020, Az. 2 BvR 1616/18 bei juris).

Für das Bußgeldverfahren, das vorrangig für die Massenverfahren des täglichen Lebens von Bedeutung ist und Verfehlungen mit geringerem Unrechtsgehalt betrifft, ist es daher grundsätzlich nicht zu beanstanden, dass es allgemein auf eine Vereinfachung und Beschleunigung des Verfahrensganges ausgerichtet ist, die sich u. a. in geringeren Anforderungen an die Abfassung der Urteilsgründe ausdrückt (vgl. BGH, Beschl. v. 19.08.1993, Az. 4 Str 627/92, bei juris), dass sich die Urteilsgründe zum Nachweis eines Geschwindigkeitsverstoßes, der im sog. Standardisierten Messverfahren ermittelt worden ist (also in einem durch Normen vereinheitlichten technischen Verfahren, nach dessen Ausgestaltung unter gleichen Voraussetzungen gleiche Ergebnisse zu erwarten sind, BGH, Beschl. v. 30.10.1997, Az. 4 StR 24/97, bei juris), auf die Mitteilung des eingesetzten Messverfahrens, der gemessenen, um den Toleranzwert bereinigten Geschwindigkeit und des Toleranzwertes beschränken können, weil die der Anerkennung als standardisiertes Messverfahren zugrunde liegende Zulassung des Messgerätes durch die Physikalisch-Technische Bundesanstalt (PTB) im Regelfall die Freistellung des Tatgerichts von weiterer Prüfung in technischer Hinsicht rechtfertigt, und dass der Betroffene, der durch Beweis(ermittlungs)anträge auf die Beweisaufnahme Einfluss nehmen will, in den Fällen standardisierter Messwertermittlung konkrete Anhaltspunkte für technische Fehlfunktionen des Messgerätes vortragen muss, um das Gericht im Rahmen der wie dargestellt reduzierten Feststellungs- und Darlegungspflichten ausnahmsweise zu weiterer Aufklärung zu veranlassen (BVerfG, Beschl. v. 12.11.2020, a. a. O.).

c.

Gleichwohl ist auch im Bußgeldverfahren entsprechend den für das Strafverfahren geltenden Grundsätzen sicherzustellen, dass dem Betroffenen ein möglichst frühzeitiger und umfassender Zugang zu Beweismitteln und Ermittlungsvorgängen gewährt wird, einschließlich der Vermittlung der erforderlichen materiell- und prozessrechtlichen Informationen, ohne die er seine Rechte nicht wirkungsvoll wahrnehmen kann.

Nach Maßgabe der sog. Spurenakten-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. v. 12.01 .1983, Az. 2 BvR 864/81 , bei juris) gehört dazu auch der Anspruch auf- durch die Verteidigung vermittelte ‒ Einsicht außerhalb des gerichtlich anhängigen Strafverfahrens in solche Unterlagen, die zum Zwecke der Ermittlung anlässlich des Verfahrens entstanden, aber nicht zur Akte genommen worden sind, und deren Beiziehung seitens des Fachgerichts unter Aufklärungsgesichtspunkten nicht für erforderlich erachtet wird. Macht der Beschuldigte geltend, er wolle sich selbst Gewissheit darüber verschaffen, dass sich aus diesen keine seiner Entlastung dienenden Tatsachen ergeben, wird ihm die Einsicht in solche Akten regelmäßig nicht zu versagen sein (BVerfG, a. a. O.).

In gleicher Weise kann der Betroffene im Bußgeldverfahren ein Interesse daran haben, den Vorwurf betreffende Informationen, die nicht zur Bußgeldakte genommen wurden, eigenständig auf Entlastungsmomente hin zu untersuchen. Wird ihm ein Geschwindigkeitsverstoß angelastet, muss er deshalb in gleicher Weise selbst nach Entlastungsmomenten suchen können, die zwar fernliegen mögen, aber nicht schlechthin auszuschließen sind (vgl. BVerfG, Beschl. v. 12.11. 2020, a. a. O.; vgl. auch OLG Düsseldorf; Beschl. v. 22. 07.2015, Az. IV-2 RBs 63/15).

Dieses ihm zustehende Informationsrecht kann damit einerseits deutlich weiter gehen als die Amtsaufklärungspflicht, die das Gericht trifft (OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.07.2019, a. a. O.; KG Berlin, Beschl. v. 27.04.2018, Az. 3 Ws (B) 133/18, bei juris; Cierniak/Nierhaus, Neuere Entwicklungen zum Recht auf Einsichtnahme in Messunterlagen, DAR 2018, 541, 542), bedarf aber andererseits gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten auch einer sachgerechten Begrenzung, um uferloser Ausforschung, erheblicher Verfahrensverzögerung und Rechtsmissbrauch vorzubeugen. Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen außerhalb der Akte müssen deshalb in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungsvorwurf stehen, und sie müssen erkennbar eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen. Maßgeblich ist insoweit die Perspektive des Betroffenen bzw. seines Verteidigers; er muss diese Informationen verständlicherweise als für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitsvorwurfs bedeutsam ansehen dürfen, wobei er grundsätzlich auch berechtigt ist, bloß theoretischen Aufklärungschancen nachzugehen (BVerfG, Beschl v. 12.11.2020, a. a. O.).

Ob sich das betreffende Gesuch innerhalb des vorbeschriebenen Rahmens hält, haben Bußgeldbehörde und Gericht im jeweiligen Einzelfall zu beurteilen und dabei auch etwa entgegenstehende und schützenswerte Interessen Dritter oder die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege zu berücksichtigen. Zudem kann der Betroffene mit dem Einwand unzulässiger Informationsbeschränkung im Gerichtsverfahren unter dem Gesichtspunkt unfairer Verfahrensgestaltung nur durchdringen, wenn er den Zugang zu nicht zur Akte genommenen Unterlagen schon rechtzeitig im Bußgeldverfahren begehrt und im Verfahren nach § 62 OWiG weiter verfolgt hat (vgl. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.07.2019, a. a. O.; OLG Koblenz, Beschl. v. 07.05.2020, a. a. O.; OLG Düsseldorf, Beschl. v. 06.07.2018, Az. IV-2 RBs 133/18, bei juris; OLG Dresden, Beschl. v. 11.12.2019, Az. OLG 23 Ss 709/19, beck-online). Denn ein Verstoß gegen den gerade auf die Gesamtheit des Verfahrens abhebenden Fairnessgrundsatz kann nur dann angenommen werden, wenn einem rechtzeitig und unter Ausschöpfung aller prozessualen Möglichkeiten angebrachten Zugangsgesuch nicht entsprochen worden ist (vgl. Cierniak/Nierhaus, DAR 2018, 541, 544; dies., Rechtsbeschwerde u. Zulassungsantrag im Ordnungswidrigkeitenverfahren, DAR 2020, 69, 72).

d.

Hiervon ausgehend, ist der Betroffene durch die Vorenthaltung der mit seiner verfahrensgegenständlichen Messung in Zusammenhang stehenden Messreihe, d. h. der gesamten am Tattag an der Messstelle zum Nachweis von Verkehrsverstößen angefallenen und gespeicherten digitalen Falldatensätze (vgl. OLG Koblenz, Beschl. v. 17.06,2018, Az. 1 OWi 6 SsBs 19/18, bei juris) in seinem Anspruch auf faire Verfahrensgestaltung verletzt worden.

aa.

Nach dem i. S. v. § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO zulässigen, durch die Sachakte bestätigen Rügevorbringen hat die Verteidigung mit Schriftsatz vom 16.04.2019 gegenüber der Bußgeldbehörde die bis zu diesem Zeitpunkt gewährte Akteneinsicht als unvollständig beanstandet und vergeblich u. a. die noch ausstehende Überlassung der gesamten Messserie gefordert, das hierauf bezogene Einsichtsbegehren mit- durch Beschluss des Amtsgerichts Gera vom 25.06.2019 zurückgewiesenem ‒ Antrag auf gerichtliche Entscheidung weiter verfolgt und ihren ‒ mit einem Aussetzungsantrag verbundenen ‒ Antrag auf Überlassung der Messreihe in der Hauptverhandlung vom 12.12.2019 ‒ wiederum erfolglos ‒ wiederholt.

Zur Begründung hat die Verteidigung jeweils geltend gemacht, dass der Betroffene den gegen ihn erhobenen Tatvorwurf auf breiterer Grundlage prüfen und insbesondere nach etwaigen, allen Messungen anhaftenden, aber der Messung des Betroffenen nicht zu entnehmenden Fehlern suchen wolle, die die Messbeständigkeit des Gerätes in Frage stellen könnten, und nach denkbaren, auf einen Umbau oder eine ungewollte Neuausrichtung während des Messbetriebes hindeutenden Veränderungen der Bildausschnitte.

bb.

Dem Betroffenen stand gegenüber der Bußgeldbehörde ein aus dem Recht auf faire Verfahrensgestaltung resultierender Anspruch auf die am Tattag an der ihn betreffenden Messstelle generierten Falldateien anderer Verkehrsteilnehmer zu, weil die geforderten Informationen in sachlichem und zeitlichem Zusammenhang mit dem ihm angelasteten Geschwindigkeitsverstoß stehen und aus Sicht des Betroffenen für die Beurteilung der Erfolgsaussichten seiner Verteidigung bedeutsam sein können.

Die Kenntnis der dort zeitnah gewonnenen Messdaten, die sich nicht auf die ihm vorgeworfene Tat beziehen, verschafft dem Betroffenen eine breitere Grundlage für die Prüfung, ob im konkreten Fall tatsächlich ein standardisiertes Messverfahren ordnungsgemäß zur Anwendung gekommen ist und das Messgerät fehlerfrei funktioniert hat (OLG Düsseldorf, Beschl. v. 22.07.2015, Az. IV-2 RBs 63/15; KG Berlin, Beschl. v. 05.12.2018, Az. 3 Ws (B) 266/18, bei juris), indem sie anhand der Daten, die im zeitlichen Zusammenhang mit seiner Messung an gleicher Stelle erhoben worden sind, die Suche nach Hinweisen auf etwaige Fehlfunktionen des Messgeräte oder Fehler bei der Durchführung eröffnet, die eventuell Rückschlüsse auf die Fehlerhaftigkeit auch der eigenen Messung erlauben (OLG Düsseldorf; a. a. O.). Dass ein die Messreihe insgesamt betreffender Fehler, der sich in anderen Dateien abbildet, aus der Messdatei des konkreten Verkehrsverstoßes ebenfalls hervorgehen müsste (so OLG Koblenz, a. a. O.), trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu. Bestimmte Auffälligkeiten wie etwa fehlende Vollständigkeit der Aufnahmen, Unregelmäßigkeiten bei der Dateneinblendung, eine hohe Anzahl verworfener Messungen, Stellungs- oder Standortveränderungen des Messgerätes, stark abweichende Positionen mehrerer der aufgenommenen Fahrzeuge zur Fotolinie oder gehäuftes Auftreten unsinniger Messergebnisse sind für den Betroffenen bzw. einen von ihm beauftragten Sachverständigen nur durch Betrachtung aller Aufnahmen zu ermitteln (Cierniak, Prozessuale Anforderungen an den Nachweis von Verkehrsverstößen, zfs 2012, 664, 672). Ein dahingehendes, das Einsichtsgesuch legitimierendes Interesse hat der Betroffene jeweils vorgetragen.

cc.

Die vom Bundesverfassungsgericht für die Gewährung des Informationszugang geforderte Relevanz der begehrten Informationen für die Verteidigung lässt sich nicht mit der Erwägung verneinen, dass aus der Betrachtung der gesamten Messreihe ohnehin kein für die Beurteilung der Verlässlichkeit der den Betroffenen betreffenden Einzelmessung erheblichen Erkenntnisse gezogen werden könnten (so BayObLG, Beschl. v. 04.01.2021, a. a. O.). Die insoweit erhobenen Einwände, dass die Messreihe selbst bei einer Einzelmessung, die aus dem Bereich der üblicherweise am Messort festgestellten (überhöhten) Geschwindigkeiten deutlich herausrage, “keine verwertbare Aussage bringe”, weil geringe Geschwindigkeitsüberschreitungen vieler Verkehrsteilnehmer nicht ausschließen, dass jemand auch deutlich schneller unterwegs gewesen sein könne (PTB, “Der Erkenntniswert von Statistikdatei, gesamter Messreihe und Annullationsrate in der amtlichen Geschwindigkeitsüberwachung”, Stand 30.03.2020; BayObLG, Beschl. v. 04.01.2021, Az. 202 ObOWi 1532/20, bei juris), oder dass eine etwa feststellbare hohe Annullierungsrate keinen Anhalt dafür biete, dass gerade die nicht verworfene Messung im Einzelfall fehlerhaft sei, sondern gerade für die Richtigkeit dieser Messung spreche, die trotz funktionierender Selbstkorrektur des Gerätes keinen Anlass zur Verwerfung gegeben habe (PTB, a. a. O.; OLG Frankfurt, Beschl v. 26.08.2016, Az. 2 Ss- OWi 589/16; OLG Koblenz, Beschl. v. 17.07.2018, Az. 1 OWi 6 SsBs 19/18; OLG Zweibrücken, Beschl. v. 27.10.2020, Az. 1 OWi 2 SsBs 103/20; bei juris), reichen nicht aus, um schon die Möglichkeit etwa aus der Messreihe insgesamt abzuleitender Entlastungsmomente schlechthin auszuschließen und der Messreihe von vornherein eine potentielle Beweiserheblichkeit abzusprechen.

Ob bestimmte Informationen für die Verteidigung von Bedeutung sein können, unterliegt allein ihrer Einschätzung (BGH, Beschl. v. 04.10.2007, Az. KRB 59/07 [(Kartellbußgeldverfahren]), bei juris), wobei sie ‒ wie in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ausdrücklich dargelegt ‒ auch rein theoretischen Entlastungsmöglichkeiten nachgehen kann. Dass die dem Gericht obliegend Aufklärungspflicht sich nicht auf Ermittlungen erstreckt, “die sich auf die nur theoretische, nicht tatsachengestützte Möglichkeit einer Entlastung gründen”, so dass der Betroffene derartige Ermittlungen vom Gericht nicht verlangen kann (vgl. OLG Koblenz, Beschl. v. 17.07. 2018, a. a. O.), ist für den Umfang des vorgelagerten Informationsanspruchs des Betroffenen gegenüber der Behörde ohne Belang.

Ob anhand des Messfilms ermittelte Auffälligkeiten (für sich genommen oder auch erst bei einem etwaigen Zusammentreffen) geeignet sind, die einer Messung im Standardisierten Messverfahren zugebilligte Beweiskraft zu erschüttern, oder ob das Gericht sich dennoch vom Geschwindigkeitsverstoß überzeugen kann, ist letztlich eine Frage der Beweiswürdigung im Einzelfall.

dd.

Das Einsichtsrecht in verfahrensfremde Messdaten lässt sich auch nicht wegen entgegenstehender Interessen der betreffenden Verkehrsteilnehmer ablehnen.

Zwar enthält jede weitere Falldatei ein digitales Beweisfoto mit personenbezogenen Informationen in Form des Fahrzeugs, seines Kennzeichens und einer Abbildung des Fahrers, aus der sich nicht nur ableiten lässt, das er einen bestimmten Ort zu einem bestimmten Zeitpunkt passiert hat, sondern auch, dass dies höchstwahrscheinlich mit überhöhter Geschwindigkeit geschehen und er deshalb in einem anderweitigen Bußgeldverfahren dem Vorwurf einer von ihm begangenen Ordnungswidrigkeit ausgesetzt ist (vgl. OLG Koblenz, a. a. O.).

Gegenüber der gebotenen Wahrheitsermittlung im Strafverfahren sind die Persönlichkeitsrechte Dritter regelmäßig nachrangig (BVerfG, Beschl. v. 12.01.1983, Az. 2 BvR 864/81, bei juris); dem diesbezüglichen Interesse des Betroffenen auch im Bußgeldverfahren ist deshalb ebenfalls erhebliches Gewicht beizumessen, selbst wenn man diesem Interesse wegen der geringeren Schwere des erhobenen Vorwurfs und der drohenden Sanktionen nicht schlechthin Vorrang einräumt. Bei der vorzunehmenden Abwägung mit dem Persönlichkeitsrecht der anderen, in der Messserie abgebildeten Verkehrsteilnehmer ist demgegenüber zu berücksichtigen, dass diese sich durch ihre Teilnahme am öffentlichen Straßenverkehr selbst der Wahrnehmung und Beobachtung durch andere Verkehrsteilnehmer und der Kontrolle ihres Verhaltens durch die Polizei ausgesetzt haben und der festgehaltene Lebenssachverhalt jeweils auf einen sehr kurzen Zeitraum begrenzt ist, so dass die Aufzeichnung nicht dem Bereich der engen Privatsphäre berührt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 20.05.2011, Az. 2 BvR 2072/10, bei juris). Es kann daher für diese Personen keinen tiefgreifenden Eingriff in ihr Persönlichkeitsrecht darstellen, wenn sie im Zusammenhang mit einer polizeilichen oder ordnungsbehördlichen Maßnahme mit einer äußerst geringen Wahrscheinlichkeit dem Risiko ausgesetzt sind, zufällig erkannt zu werden (Krumm, Fahrverbot in Bußgeldsachen, § 5 (Regel-)Fahrverbots-Ordnungswidrigkeiten des § 25 Abs. 1 S. 1 StVG Rn. 12, beck-online). Die konkrete Gefahr einer nachhaltigen Bloßstellung Dritter, die nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts trotz des anzuerkennenden Entlastungsinteresses des Betroffenen die Zurückhaltung verfahrensfremder Informationen rechtfertigen kann, ist deshalb nicht zu besorgen. Das gilt auch deshalb, weil die Messdaten lediglich an den Verteidiger und einen von ihm beauftragten Sachverständigen herausgegeben werden, was datenschutzrechtliche Bedenken weiter verringert (vgl. OLG Karlsruhe, Beschl. v. 16.07.2019, 1 Rb 10 Ss 291/19; LG Köln Beschl. v. 11.10.2019, 323 Qs 106/19, bei juris). Das Interesse der in den Falldateien der Messreihe erfassten sonstigen Verkehrsteilnehmer muss daher gegenüber dem aus dem fair-trial-Anspruch resultierenden Einsichtsrecht des Betroffenen zurückstehen.

d.

Wegen des dargelegten Verfahrensfehlers ist das angefochtene Urteil mit den zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Prüfung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Amtsgericht Gera zurückzuverweisen.

Eine Vorlage an den Bundesgerichtshof gem. § 121 Abs. 2 Nr. 1 GVG, 79 Abs. 3 Satz 1 OWiG war nicht veranlasst.

Soweit in der obergerichtlichen Rechtsprechung ein aus dem fair-trial-Grundsatz abzuleitender Anspruch auf Einsicht in jegliche, nicht in den Akten befindliche Unterlagen grundsätzlich abgelehnt wird, beziehen sich diese (sämtlich vor dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 12.11.2020 ergangenen) Entscheidungen ‒ mit einer Ausnahme ‒ lediglich auf erstmals in der Hauptverhandlung gestellte und damit nach Maßgabe der gerichtlichen Aufklärungspflicht zu behandelnde Beweisermittlungsanträge. Etwas anderes gilt (soweit ersichtlich: nur) für das BayObLG, das einen dahingehenden Informationsanspruch auch bei vorangegangener Geltendmachung gegenüber der Bußgeldbehörde explizit abgelehnt hat (Beschl. v. 06.04.2020, Az. 201 ObOWi 291/20, bei juris); diese Rechtsprechung hat das BayObLG jedoch mit Beschluss vom 04.01.2021 (Az. 202 ObOWi 1532/20, bei juris) aufgegeben.

Soweit in der dortigen Entscheidung ein Anspruch auf Einsichtnahme in die gesamte Messreihe verneint wird, handelt es sich nicht um tragende Erwägungen, nachdem die dahingehend erhobene Verfahrensrüge bereits als unzulässig zurückgewiesen worden ist. Gleiches gilt für die vom BayObLG in Bezug genommenen Entscheidungen des OLG Zweibrücken vom 05.05.2020 und 27.10.2020 (Az. 1 OWi 2 SsBs 94/19 bzw. 1 OWi 2 SsBs 103/20, bei juris), in denen der dortige Senat die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Zurückweisung eines Antrags auf Einsichtnahme in die nicht bei den gerichtlichen Unterlagen befindliche, andere Verkehrsteilnehmer betreffende Messserie in Betracht kommt, offengelassen und lediglich die Beruhensfrage als eine Frage des Einzelfalls verneint hat.

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