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28.01.2021 · IWW-Abrufnummer 220173

Bundesgerichtshof: Beschluss vom 09.12.2020 – VI ZR 383/19


Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 9. Dezember 2020 durch den Richter Reiter, die Richterinnen Dr. Arend und Dr. Böttcher sowie die Richter Dr. Kessen und Dr. Herr
beschlossen:

Tenor:

Das gegen den gesamten Spruchkörper des VI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs, bestehend aus dem Vorsitzenden Richter Seiters, der Richterin von Pentz, dem Richter Offenloch, den Richterinnen Dr. Oehler, Dr. Roloff und Müller sowie den Richtern Dr. Klein, Dr. Allgayer und Böhm, gerichtete Ablehnungsgesuch der Klägerin vom 20. August 2020 wird zurückgewiesen.



Gründe



I.

1


Die Klagepartei nimmt die Beklagte im Rahmen des sogenannten "DieselSkandals" auf Schadensersatz in Anspruch. Das Verfahren ist im Revisionsrechtszug beim VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs anhängig. Die Klagepartei macht geltend, sämtliche Mitglieder des VI. Zivilsenats seien wegen der Besorgnis der Befangenheit abzulehnen.


2


Dazu beruft sie sich auf den Inhalt einer Äußerung des Vorsitzenden des VI. Zivilsenats gegenüber dem Präsidenten des Oberlandesgerichts Dresden von Anfang April 2020, die lautete:


"Der Senat hat allein in 2020 bereits Eingänge, die das durchschnittliche Jahrespensum eines BGH-Zivilsenats um das 1½-fache übersteigen. Hiervon sind 80 % sogenannte Diesel-Sachen, zumeist (wechselseitige) Revisionen, aber auch eine Vielzahl von Nichtzulassungsbeschwerden. Der Senat ist deshalb schon im Eigeninteresse bemüht, die anstehenden Grundsatzentscheidungen so zügig wie möglich zu treffen. Dies betrifft nicht nur VW, sondern auch andere Autohersteller. Der Senat ist insoweit dankbar für jedes Verfahren, das von den Berufungsgerichten bis dahin zunächst zurückgestellt werden kann."

3


Zu diesem Zeitpunkt waren Verhandlungstermine für diesen Verfahrenskomplex für den 5. Mai, 21. und 28. Juli 2020 angekündigt. In diesen Verfahren ging es unter anderem um die Frage der deliktischen Haftung der Beklagten wegen behaupteter Manipulation einer bestimmten Motorbaureihe (unzulässige Abschalteinrichtung), um den Vorteilsausgleich wegen der durch den Betrieb eines Fahrzeugs gezogenen Nutzungen sowie darum, ob die Beklagte Deliktszinsen gemäß § 849 BGB schuldete.


4


Der Präsident des Oberlandesgerichts Dresden wandte sich daraufhin mit Schreiben vom 9. April 2020 an die Präsidentinnen und Präsidenten der weiteren Oberlandesgerichte und des Kammergerichts, in dem er mit Bezug auf vorstehende Äußerung unter anderem ausführte:


"Ich erlaube mir vor diesem Hintergrund die Anregung, die betreffenden Senate in Ihrem Haus um Prüfung zu bitten, ob weitere Entscheidungen in Dieselverfahren zurückgestellt werden können. Ein weiteres 'Zuschütten' des BGH mit diesen Verfahren dürfte dort zu immer schwierigeren Verhältnissen führen und auch dem Rechtsstaat nicht dienen. Da es bei den Instanzgerichten naturgemäß derzeit nur Entscheidungen für die jeweilige Instanz geben dürfte, die zwingend mit dem Rechtsmittel angefochten würden, bis der BGH die Richtung vorgegeben hat, würde die weitere Bearbeitung dieser Verfahren im Übrigen auch nutzlos Kapazitäten der Justiz binden. Die Rolle eines bloßen Durchlauferhitzers für die nächste Instanz zu spielen [,] macht aber weder Sinn, noch entspricht es der Aufgabe der Justiz. Für die Oberlandesgerichte, aber auch für die Landgerichte dürfte es im Übrigen gerade angesichts des derzeit eingeschränkten Betriebes [aufgrund der Covid-19-Pandemie] wichtig sein, die Kapazitäten auf die anderen Verfahren zu konzentrieren, um die Gefahr eines Rückstaus zu minimieren."

5


Die Klagepartei geht davon aus, dass der Inhalt des Schreibens innerhalb des Geschäftsbereichs der Gerichte bekannt gemacht worden ist, wobei sie sich auf die im Internet veröffentlichte Stellungnahme eines Richters bezieht.


6


Sie vertritt die Auffassung, aus der Äußerung des Vorsitzenden Richters des VI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs ergebe sich der böse Schein der Befangenheit. Dies gelte zunächst für die Aufforderung, die Entscheidung über die Verfahren zurückzustellen, bis die "Grundsatzentscheidungen" gefallen seien, ungeachtet dessen, dass Verfahren, die die maßgeblichen Konfliktfelder enthielten, zu diesem Zeitpunkt bereits terminiert gewesen seien. Darin liege nicht nur eine Aufforderung zur Verfahrensverzögerung; zugleich werde impliziert, dass die Oberlandesgerichte den Grundsatzentscheidungen des Bundesgerichtshofs nach ihrer Verkündung folgen sollten. Dies sei aber insbesondere deswegen problematisch, weil damit suggeriert werde, dass allen "Dieselverfahren" derselbe Lebenssachverhalt zugrunde liege. Tatsächlich würden aber viele verschiedene Verfahren gegen mehrere Fahrzeughersteller geführt, bei denen es um unterschiedliche Fahrzeuge mit unterschiedlichen Motoren gehe. Gleichwohl habe der Vorsitzende des VI. Zivilsenats zum Ausdruck gebracht, er gehe davon aus, dass bereits alle Sachverhalte für "Grundsatzentscheidungen" vorliegen würden, weshalb alle "Dieselverfahren" zurückgestellt werden könnten. Dies führe dazu, dass Verfahren, welche sich (auch) für Grundsatzentscheidungen eigneten, zurückgehalten und dadurch verzögert würden. Der VI. Zivilsenat habe darüber hinaus die Gefahr geschaffen, dass die Instanzgerichte die Verfahren nicht mehr differenziert beurteilen würden und damit das rechtliche Gehör der jeweiligen Parteien verletzten.


7


In Bezug auf zurückgestellte Verfahren sei überdies zu befürchten, dass die Parteien die unnötige "Wartezeit" bezahlen müssten, die Kläger mit der - sich stetig erhöhenden - Nutzungsentschädigung und die Hersteller mit Verzugs- und Prozesszinsen. Die Inkaufnahme solcher Nachteile erwecke den Eindruck, dass das Gericht dem Fall nicht unvoreingenommen gegenübertrete und eigene Interessen in Form der Arbeitsentlastung verfolge. Dies erwecke den bösen Verdacht, dass die Aufforderung gezielt zu Lasten der Kläger getätigt worden sei und es vor allem darum gegangen sei, weiteren Klagen zuvorzukommen beziehungsweise durch Verzögerungen eine Rechtsverfolgung wirtschaftlich sinnlos zu machen.




II.

8


Das Ablehnungsgesuch hat weder hinsichtlich des Vorsitzenden Richters des VI. Zivilsenats noch hinsichtlich der weiteren Senatsmitglieder Erfolg. Es ist jedenfalls unbegründet.


9


1. Nach § 42 Abs. 1 Fall 2, Abs. 2 ZPO kann ein Richter von den Parteien wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden, wenn ein Grund vorliegt, der geeignet ist, Misstrauen gegen seine Unparteilichkeit zu rechtfertigen. Dies ist dann der Fall, wenn aus der Sicht einer Partei bei vernünftiger Würdigung aller Umstände Anlass gegeben ist, an der Unvoreingenommenheit und objektiven Einstellung des Richters zu zweifeln. Nicht erforderlich ist dagegen, dass tatsächlich eine Befangenheit vorliegt. Vielmehr genügt es, dass die aufgezeigten Umstände geeignet sind, der betroffenen Partei Anlass zu begründeten Zweifeln an der Unvoreingenommenheit und Objektivität des Richters zu geben. Dabei kommen nur objektive Gründe in Betracht, die aus der Sicht einer verständigen Prozesspartei berechtigte Zweifel an der Unparteilichkeit oder der Unabhängigkeit des abgelehnten Richters aufkommen lassen, während rein subjektive Vorstellungen oder Gedankengänge des Ablehnenden als Ablehnungsgründe ausscheiden (st. Rspr.; vgl. zB BGH, Beschlüsse vom 25. August 2020 - VIII ARZ 2/20, WM 2020, 1991 Rn. 34; vom 10. April 2018 - VIII ZR 127/17, BeckRS 2018, 5603 Rn. 4; vom 10. Oktober 2017 - III ZA 12/17, BeckRS 2017, 128558 Rn. 3 und vom 18. Februar 2014 - VIII ZR 271/13, BeckRS 2014, 4854 Rn. 7; jeweils mwN).


10


2. Die von der Klagepartei vorgebrachten Gründe geben bei objektiver Betrachtung aus der Sicht einer verständigen Prozesspartei keinen Anlass, an der Unvoreingenommenheit und Objektivität der abgelehnten Richter zu zweifeln.


11


a) Die Befürchtung, der Vorsitzende und die weiteren Mitglieder des VI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs seien voreingenommen, ergibt sich bei der gebotenen objektiven Betrachtung nicht aus der an den Präsidenten des Oberlandesgerichts Dresden gerichteten Bitte, Berufungsverfahren in sogenannten Dieselsachen nach Möglichkeit einstweilen zurückzustellen.


12


aa) Insbesondere lässt sich aus der Sicht einer verständigen Prozesspartei daraus nicht ableiten, die Mitglieder des VI. Zivilsenats ließen sich bei der Bewertung der ihnen vorliegenden Verfahren nicht von sachlichen Erwägungen leiten, sondern von dem Interesse, wenig belastet zu werden.


13


In Fallgestaltungen wie der vorliegenden, bei denen eine Vielzahl von Verfahren wegen gleichartiger Vorwürfe gegen einen - oder auch mehrere - Beklagte geführt werden, ist anerkannt, dass es sachgerecht sein kann, "Muster- oder Pilotverfahren" auszuwählen, die vorrangig betrieben werden, um Rechtsfragen von zentraler Bedeutung verfahrensübergreifend auf prozessökonomische Weise zu klären (vgl. BGH, Urteil vom 12. Februar 2015 - III ZR 141/14, BGHZ 204, 184 Rn. 32). Insoweit ist nicht zu vermeiden, dass die übrigen gleich oder ähnlich gelagerten Verfahren einstweilen zurückgestellt werden (BGH aaO sowie Beschluss vom 21. November 2013 - III ZA 28/13, NJOZ 2014, 987 Rn. 9). Dass sich - rückblickend betrachtet - die Auswahl der Pilotverfahren als weniger förderlich erweisen kann, es insbesondere - wie auch die Klagepartei geltend macht - weitere Verfahren gegeben hätte, anhand derer sich gegebenenfalls weitere Fragestellungen möglicherweise sogar umfassender hätten klären lassen können, ist nicht entscheidend; maßgebend ist vielmehr, dass die gewählte Vorgehensweise ex ante betrachtet vernünftig und zweckmäßig war (BGH, Urteil vom 12. Februar 2015 aaO; BVerfG, NVwZ 2013, 789, 791).


14


An welcher Stelle im Instanzenzug eine der Prozessökonomie dienende Bündelung von Verfahren stattfindet, spielt keine Rolle. Dementsprechend kann die unverbindliche Bitte, Berufungsverfahren nach Möglichkeit so lange zurückzustellen, bis erste richtungsweisende höchstrichterliche Urteile ergangen sind, objektiv nicht den Eindruck erwecken, das Revisionsgericht sei voreingenommen. In der Sache geht es dabei allein um die Ausübung des den Gerichten bei der Verfahrensführung eingeräumten weiten Gestaltungsspielraums und nicht um die inhaltliche Bewertung der betroffenen Verfahren. Die Annahme, dass durch den Wunsch nach einer solchen grundsätzlich vernünftigen prozessökonomischen Verfahrensweise bei der betroffenen Prozesspartei die - objektiv begründete - Vorstellung hervorgerufen werden konnte, dadurch solle ihrem persönlichen Anliegen geschadet werden, ist völlig fernliegend. Ebenso wenig liegt in dem Ansinnen eine - wie auch immer geartete - Einflussnahme auf die Entscheidungen der Vorinstanzen. Dass es gerade Aufgabe eines Revisionsgerichts ist, durch die von ihm zu treffenden Leitentscheidungen für Rechtsfortbildung und Rechtseinheitlichkeit zu sorgen, zieht auch die Klagepartei letztlich nicht in Zweifel.


15


bb) Auch im Übrigen enthält die Bitte des Vorsitzenden Richters, anhängige Verfahren bis zum Erlass verschiedener Grundsatzentscheidungen nach Möglichkeit einstweilen zurückzustellen, keinerlei Anlass zu der Befürchtung, der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs werde sich bei der Bearbeitung der (anhängigen oder künftigen) Dieselverfahren von sachfremden Erwägungen leiten lassen.


16


Ebenso wenig ist bei objektiver Betrachtung auch nur im Ansatz der Versuch erkennbar, die unteren Instanzen dazu aufzufordern, sämtliche dort anhängigen Fälle ungeachtet abweichender tatsächlicher und rechtlicher Konstellationen in Anlehnung an die für Mai und Juli 2020 angekündigten Grundsatzentscheidungen zu lösen, oder auch nur den Eindruck zu vermitteln, mit diesen Entscheidungen sei der gesamte "Diesel-Komplex" geklärt. Ein solches Ansinnen ist schon von dem oben wiedergegebenen Wortlaut der Erklärung nicht gedeckt, der in keiner Weise impliziert, dass sich mit den - zu diesem Zeitpunkt erst angekündigten - Grundsatzentscheidungen alle denkbaren Problemfelder abdecken ließen. Die Unterstellung, der Vorsitzende des VI. Zivilsenats habe in der vom Kläger behaupteten Weise in den Entscheidungsprozess der Vorinstanzen eingreifen wollen, beruht zudem auf einem Richterbild, das mit demjenigen des Grundgesetzes (Art. 97 Abs. 1 GG) und des Deutschen Richtergesetzes (§ 25 DRiG) nicht zu vereinbaren ist, und widerspricht im Besonderen dem beruflichen Selbstverständnis eines - namentlich an einem Revisionsgericht tätigen - Richters (vgl. auch BGH, Beschluss vom 25. August 2020 aaO Rn. 37).


17


cc) Bei der Annahme der Klagepartei, eine Zurückstellung von Verfahren in den unteren Instanzen habe entweder wegen weiterer durch den fortlaufenden Gebrauch des Fahrzeugs den Schadensersatz schmälernder anzurechnender Nutzungen oder wegen der sich aufsummierenden Zinsen dem Nachteil einer Prozesspartei - vor allem aber gezielt der jeweiligen Kläger - gedient, handelt es sich um eine bloße Spekulation, die jeglicher Grundlage entbehrt.


18


b) Auch in ihrer Gesamtschau sind die vorstehend erörterten Aspekte nicht geeignet, die Besorgnis der Befangenheit gegen ein Mitglied des VI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs zu begründen.


19


c) Der Einholung ergänzender dienstlicher Stellungnahmen (§ 44 ZPO) - hier: des Vorsitzenden Richters des VI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs oder des Präsidenten des Oberlandesgerichts Dresden - bedarf es entgegen der Ansicht der Klagepartei nicht, denn es besteht kein Bedarf zu weiterer Tatsachenfeststellung (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 12. Oktober 2011 - V ZR 8/10, NJW-RR 2012, 61 Rn. 11). Die dienstliche Äußerung hat sich gemäß § 44 Abs. 2 ZPO auf die Tatsachen zu beziehen, die der Antragsteller zur Begründung seines Ablehnungsgesuchs vorgetragen hat (vgl. zB BGH, Beschlüsse vom 28. März 2017 - RiZ (R) 1/15, NJW-RR 2017, 1021 Rn. 17; vom 24. April 2013 - RiZ 4/12, BeckRS 2013, 9181 Rn. 29 sowie vom 21. Februar 2011 - II ZB 2/10, WM 2011, 667 Rn. 17). Die dienstliche Stellungnahme des Vorsitzenden Richters des VI. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs genügt diesen Anforderungen. In welcher Form (mündlich, schriftlich oder elektronisch) er sich gegenüber dem Präsidenten des Oberlandesgerichts Dresden geäußert hat, ist unerheblich. Ebenso wenig kommt es auf die Frage an, ob das weitere Vorgehen mit dem Präsidenten des Oberlandesgerichts abgestimmt war. Ein weiterer Aufklärungsbedarf besteht daher nicht.


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