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08.09.2020 · IWW-Abrufnummer 217748

Oberlandesgericht Düsseldorf: Urteil vom 24.09.2019 – 1 U 82/18

Zur Obliegenheit eines Motorradfahrers, Schutzkleidung zu tragen.


Oberlandesgericht Düsseldorf


Tenor:

Auf die Berufung des Klägers wird das am 18. Mai 2018 verkündete Grund- und Teilurteil der 1. Zivilkammer - Einzelrichter - des Landgerichts Duisburg (1 O 288/16) unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger 2.015,81 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 07. Januar 2015 zu zahlen.

Es wird festgestellt, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, dem Kläger 60 % sämtlicher künftiger materieller und immaterieller Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 18. Juli 2014 auf der N. Straße  in 47138 Duisburg-Obermeiderich zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.

Die Beklagten werden als Gesamtschuldner verurteilt, an den Kläger weitere 82,32 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 05. November 2016 zu zahlen.

Die Klage wird hinsichtlich der Anträge zu 1. und 4. im Übrigen und hinsichtlich des Antrags zu 5. in Höhe von 54,88 € abgewiesen.

Die Klage ist unter Zugrundelegung eines Haftungsanteils der Beklagten von 60% gerechtfertigt.

Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits bleibt dem Schlussurteil vorbehalten.

Das vorliegende Urteil ist ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagten können die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 120 % des gegen sie vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vor Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 120 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird zugelassen.

1

G r ü n d e :

2

I.

3

Der am 20. September 1983 geborene Kläger nimmt die Beklagten auf Zahlung von Schadensersatz wegen eines Unfalls in Anspruch, der sich am 18. Juli 2014 gegen 18:00 Uhr in Duisburg auf der N. Straße in Höhe des Hauses Nr.  ereignete.

4

Der Kläger befuhr mit seinem Motorrad S. G.-R 750, amtliches Kennzeichen , die N. Straße. Er trug einen Motorradhelm eine kurze Hose und ein kurzärmeliges Oberteil. Das Motorrad gehört zur Klasse „Supersportler“, hat einen Hubraum von 750 ccm und eine Leistung von 110 kW. Die Beklagte zu 1) befuhr mit ihrem PKW F. M., der bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversichert ist, in gleicher Fahrtrichtung die N. Straße vor dem Kläger. Die Straße war in jede Fahrtrichtung auf einer Fahrspur befahrbar. Die Straßenmitte war im Bereich der dort verlaufenden Straßenbahngleise mittels gut erkennbarer gelber Farbmarkierungen als Sperrfläche markiert.

5

Die Beklagte zu 1) lenkte ihren F. M. nach links, um über die Sperrfläche hinweg auf einen sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befindlichen Supermarkt-Parkplatz zu fahren. Im Bereich der Sperrfläche kollidierten der von hinten kommende Kläger mit seinem Motorrad S. mit dem F. M. der Beklagten zu 1) im Bereich von dessen vorderen Radkasten, und wurde über den F. hinweggeschleudert. Die Einzelheiten des Unfallhergangs sind zwischen den Parteien streitig.

6

Der Kläger wurde durch den Unfall schwer verletzt. Er erlitt eine distale dislozierte Radiusfraktur im linken Arm, eine Radiusschaftfraktur rechts mit drittgradigem Weichteilschaden im Bereich der Frakturzone, Schnittverletzungen des rechten Mittelfingers auf Höhe des Endgliedes mit Durchtrennung der Strecksehne ansatznah, eine drittgradige offene Femurschaftfraktur im rechten Oberschenkel mit intraartikulärer Beteiligung, eine Mehrfachfraktur der rechten Kniescheibe sowie multiple Hautweichteilverletzungen und Décollement-Wunden an allen Extremitäten sowie der rechten Flanke. Er wurde längere Zeit stationär behandelt und insgesamt 13-mal operiert.

7

Die Beklagte zu 2) zahlte auf Basis einer Quote von 30 % an den Kläger vorgerichtlich auf den Sachschaden 1.932,42 €, ein Schmerzensgeld von 300,00 € sowie vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 334,75 €.

8

Der Kläger hat auf der Basis eines Gutachtens seines Privatsachverständigen mit seinem Klageantrag zu 1) folgende Schadenspositionen geltend gemacht:

9

Wiederbeschaffungswert  der S.              6.539,20 €

10

abzgl. eines Restwertes von                - 800,00 €

11

Sachverständigenkosten              816,99 €

12

Kostenpauschale              25,00 €

13

Zwischensumme              6.580,39 €

14

abzgl. Zahlung der Beklagten zu 2) auf den Sachschaden              - 1.932,42 €

15

Klageforderung (Antrag zu 1.)              4.606,78 €.

16

Weiter hat er den Ersatz vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten (Antrag zu 2.), ein angemessenes Schmerzensgeld (Antrag zu 3.) und die Feststellung einer weitergehenden Ersatzverpflichtung der Beklagten (Antrag zu 4.) verlangt. Zudem hat er mit dem Antrag zu 5. einen Eigenanteil, den er bei den stationären Krankenhausaufenthalten zahlen musste (360,00 €, nämlich 36 Tage x 10,00 €), Abschleppkosten für sein Motorrad (137,20 €), Ersatz der Kosten einer nicht durchgeführten Familien-Urlaubsreise vom 28. Juli bis 18. August 2014 (2.907,00 €) sowie einen Verdienstausfallschaden seiner damaligen Lebensgefährtin und jetzigen Ehefrau (6.800,00 €) geltend gemacht. Darüber hinaus begehrt er Ersatz der Kosten für die von ihr durchgeführten Krankenhausbesuche (Antrag zu 6.) und für sich eine Verdienstausfallrente (Antrag zu 7.).

17

Der Kläger hat ‒ soweit es für das Berufungsverfahren darauf ankommt ‒ behauptet, er sei mit einer Geschwindigkeit von etwa 50 km/h in einigem Abstand zu dem Fahrzeug der Beklagten auf dem rechten Fahrstreifen gefahren. Der Verkehr habe sich aufgrund einer Baustelle auf der Autobahn A 59 zurückgestaut. Vor dem F. M. der Beklagten zu 1) habe es eine Lücke gegeben. Die Beklagte zu 1) habe ohne erkennbaren Grund an den rechten Fahrbahnrand gesteuert und dort angehalten. Er habe sein Motorrad auf die Sperrfläche gelenkt, um an diesem Hindernis vorbeizukommen. Die Beklagte zu 1) sei dann jedoch mit ihrem F. M. plötzlich und ohne zu blinken, scharf nach links gefahren. Dieses Manöver sei für ihn unvorhersehbar gewesen, er habe keine Chance gehabt auszuweichen. Auch wenn er Motorrad-Schutzkleidung getragen hätte, wozu er jedoch nicht verpflichtet gewesen sei, hätte er dieselben Verletzungen erlitten. Er ist der Ansicht gewesen, die Beklagten würden voll für alle Folgen des Unfalls haften und ihm stünde ein Schmerzensgeld von mindestens 30.000,00 € abzüglich der gezahlten 300,00 € zu.

18

Er hat beantragt,

19

20

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 4.606,78 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 13. November 2014 zu zahlen,

21

2. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, ihm die vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten seiner jetzigen Prozessbevollmächtigten in Höhe von 1.882,70 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu erstatten,

22

3. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein angemessenes Schmerzensgeld zu zahlen, dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt werde,

23

4. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm sämtliche materiellen und immateriellen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 18. Juli 2014 auf der N. Straße  in 47138 Duisburg-Obermeiderich zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind,

24

5. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 10.124,20 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen,

25

6. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 1.053,36 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen,

26

7. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn eine Verdienstausfallrente von 690,53 € monatlich, zahlbar vierteljährlich im Voraus, beginnend ab dem 01. Januar 2016, zu zahlen.

27

Die Beklagten haben beantragt,

28

die Klage abzuweisen.

29

Sie haben ‒ soweit es für das Berufungsverfahren darauf ankommt ‒ behauptet, im Kopf der Beklagten zu 1) sei ebenso wie bei anderen Anwohnern verankert gewesen, dass man ‒ wie vor dem Anbringen der Sperrmarkierungen ‒ an der betreffenden Stelle links auf den Parkplatz fahren dürfe. Die Beklagte zu 1) habe sich zur Mitte eingeordnet und links geblinkt. Vor dem Ausscheren habe sie sich mit doppelter Rückschau vergewissert, keinen anderen Verkehrsteilnehmer zu gefährden. Der Kläger, der versucht habe, die Beklagte zu 1) mit einer Geschwindigkeit von mindestens 80 km/h zu überholen, sei bereits im Bereich der letzten Kreuzung auf die Sperrfläche gewechselt und habe den aufgestauten Verkehr überholt.

30

Das Landgericht hat den Kläger und die Beklagte zu 1) persönlich angehört und Beweis erhoben durch Vernehmung der Zeugen V., S., D., E., H. und S. sowie durch Einholung eines unfallanalytischen Gutachtens des Sachverständigen Dipl.-Ing. T..

31

Sodann hat das Landgericht die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung von 1.357,77 € sowie (weiteren) 68,60 € nebst Zinsen verurteilt und dem Feststellungsantrag hinsichtlich der Ersatzpflicht sämtlicher ‒ insoweit hat es den Antrag ausgelegt ‒ künftiger materieller und immaterieller Schäden unter Zugrundelegung eines 50 % Haftungsanteils stattgegeben. Weiter hat es die Klage hinsichtlich der Anträge 1. und 4 im Übrigen und hinsichtlich des Antrags zu 5. in Höhe von 68,60 € abgewiesen und ausgesprochen, dass die Klage im Übrigen unter Zugrundelegung eines 50 prozentigen Haftungsanteils der Beklagten gerechtfertigt ist. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt, es sei durch Teil- und Grundurteil zu entscheiden. Denn es stünde fest, dass die Ansprüche dem Grunde nach gegeben seien, entscheidungsreif sei die Klage aber nur teilweise. Beide Seiten würden jeweils hälftig haften, da sowohl der Kläger als auch die Beklagte zu 1) den Unfall durch Verstöße gegen die StVO verschuldet hätten. Die Beklagte zu 1) habe gegen § 9 Abs. 5 StVO verstoßen. Außerdem habe sie sich vor dem Abbiegevorgang statt links von der Fahrstreifenmitte ein Stück nach rechts versetzt einsortiert, weil sie eine Ausholbewegung unternommen habe. Sie habe auch keine ausreichende Rückschau gehalten. Insbesondere hätte sie nach den überzeugenden Ausführungen des Sachverständigen sowohl im Rückspiegel, den sie benutzt habe, als auch im Außenspiegel das Motorrad des Klägers sehen können. Der Kläger habe allerdings nicht nachgewiesen, dass die Beklagte zu 1) nicht geblinkt habe, da die Zeugenaussagen sich insoweit widersprechen würden. Die Beklagte zu 1) habe weiter gegen § 41 StVO i.V.m. den Zeichen 295, 298 verstoßen, indem sie eine durchgezogene Linie und eine Sperrfläche überfahren haben. Auch der Kläger habe gegen § 41 StVO i.V.m. den Zeichen 295, 298 verstoßen. Die Beweisaufnahme ‒ insbesondere die Aussage des Zeugen S. ‒ habe ergeben, dass er über die Sperrfläche gefahren und eine Vielzahl anderer Autos überholt habe. Seine Angabe im Rahmen der Anhörung, er sei lediglich wegen dem Fahrzeug der Klägerin, das ein Hindernis dargestellt habe, auf die Sperrfläche ausgewichen, sei widerlegt. Entsprechendes gelte für die Aussage des Zeugen V.. Weiter habe der Kläger die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h überschritten, indem er ‒ was sich aus den überzeugenden Feststellungen des Sachverständigen ergebe ‒ mit mindestens 58 km/h gefahren sei. Damit habe er gegen § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO verstoßen. Danach sei eine Haftungsquote von jeweils 50 % gerechtfertigt, weil die Verursachungsbeiträge und das Verschulden der Parteien in etwa gleich wiegen würden. Die Kammer habe mangels gegenteiligem Nachweis davon auszugehen, dass die Beklagte zu 1) rechtzeitig geblinkt habe, der Kläger daher mit einem Abbiegen habe rechnen müssen. Er habe auch nicht darauf vertrauen dürfen, dass die Beklagte zu 1) die Sperrfläche nicht benutzen werde, nachdem er selbst in rücksichtsloser Weise diese benutzt habe, um mit überhöhter Geschwindigkeit zu überholen. Dass die Beklagte zu 1) nicht ausreichend Rückschau gehalten habe, werde durch die Sperrfläche abgemildert. Auch wenn sie ‒ aufgrund des eigenen Verstoßes ‒ nicht habe darauf vertrauen dürfen, dass kein anderes Fahrzeug die Sperrfläche nutze, sei das Befahren verboten und es habe unstreitig kein Gegenverkehr bestanden. Das Landgericht hat dem Kläger 50 % des mit dem Klageantrag zu 1) geltend gemachten Sachschadens abzüglich der vorprozessualen Zahlung der Beklagten zu 2), sowie 50 % der Abschleppkosten zugesprochen. Auch der Feststellungsantrag sei mit einer Quote von 50 % begründet.

32

Gegen dieses Urteil richtet sich die Berufung des Klägers, mit der er eine Haftung der Beklagten zu 80% erstrebt. Er rügt, das Landgericht habe zwar zu Recht festgestellt, dass die Beklagte zu 1) gegen § 9 Abs. 5, Abs. 1 S. 2 StVO verstoßen habe, dabei aber verkannt, dass die Beklagte zu 1) jedenfalls nicht rechtzeitig geblinkt habe. So habe die Beklagte zu 1) bei ihrer Anhörung selbst angegeben, dass zwischen dem Setzen des Blinkers und dem Einschlagen des Lenkrads nach links nur Sekunden vergangen seien. Es könne dahinstehen, ob der Kläger an einigen Fahrzeugen über die Sperrfläche vorbeigefahren sei, direkt vor dem Unfall habe er sich in der normalen Spur hinter der Klägerin befunden und ihr ausweichen müssen. Selbst wenn man dies anders beurteile, sei keine hälftige Haftungsverteilung gerechtfertigt. Er habe auch die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h nur um 8 km/h überschritten. Dieses sei als normal anzusehen und würde in der Lebensrealität aufgrund einhelliger Meinung nicht als Geschwindigkeitsverstoß angesehen werden. Das beiderseitige Überfahren der Sperrfläche hebe sich gegenseitig auf und der Verstoß der Beklagten zu 1) gegen § 9 Abs. 5 und Abs. 1 StVO wiege schwerer als der geringe Geschwindigkeitsverstoß des Klägers. Da die Beklagte mit der Durchfahrt einer Straßenbahn habe rechnen müssen, könne ihr Verstoß aufgrund der Sperrfläche nicht gemildert sein. Das Landgericht habe auch die unterschiedlichen Betriebsgefahren nicht in den Blick genommen. Eine gesetzliche Verpflichtung zum Tragen von Schutzkleidung gäbe es für Motorradfahrer ebenso wenig wie eine entsprechende Obliegenheit. Denn ein allgemeines Verkehrsbewusstsein, Motorradschutzkleidung zu tragen, sei zu verneinen, da schon nicht ersichtlich sei, auf welche Art und welchen (Qualitäts)Standard von Schutzbekleidung sich dieser beziehen solle. So gäbe es erhebliche preisliche Unterschiede bei Schutzkleidung, was sich im Ausmaß des Schutzes niederschlage und darüber hinaus (bei Jacken und Hosen) unterschiedliche Materialien (Textile oder Leder) mit unterschiedlichster Ausstattung (mit oder ohne Protektoren). Empfehlungen von Verbänden seien nicht ausschlaggebend, da diese auch Fahrradhelme empfehlen würden, ohne dass insoweit eine Obliegenheit angenommen werde, diese zu tragen.

33

Der Kläger beantragt, unter teilweiser Abänderung des landgerichtlichen Urteils

34

35

1. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 3.331,90 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 07. Januar 2015 zu zahlen,

36

2. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihm  sämtliche materiellen und immateriellen Schäden aus dem Verkehrsunfall vom 18. Juli 2014 auf der N. Straße  in 47138 Duisburg-Obermeiderich unter Zugrundelegung eines 80%-igen Haftungsanteils der Beklagten zu ersetzen, soweit diese Ansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind,

37

3. die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn 109,77 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 05. November 2016 zu zahlen,

38

4. festzustellen, dass die Klage unter Zugrundelegung eines 80%-igen Haftungsanteils der Beklagten gerechtfertigt ist.

39

Die Beklagten beantragen,

40

die Berufung zurückzuweisen.

41

Sie verteidigen das angegriffene Urteil. Den Kläger treffe aber auch ein Mitverschulden i.S.d. § 254 Abs. 1 BGB. Denn nach allgemeinem Verkehrsbewusstsein sei zum Unfallzeitpunkt das Tragen von Motorradschutzkleidung erforderlich gewesen. Maßgeblich seien nicht Durchschnittszahlen sämtlicher motorisierter Zweiradfahrer, sondern, ob es dem allgemeinen Verkehrsbewusstsein für Fahrer von Supersportmaschinen - rennsportverwandte, straßenzugelassene Höchstleistungsmaschine, wie der Kläger eine gefahren habe ‒ entspreche, Schutzkleidung zu tragen. Dies sei der Fall, was sich auch aus der besonderen Gefährdung der Fahrer dieser Motorräder ergebe.

42

Die Akte der Staatsanwaltschaft Duisburg 377 Js 959/14 lag vor und war Gegenstand der mündlichen Verhandlung.

43

Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Akten Bezug genommen.

44

II.

45

Die zulässige Berufung des Klägers hat teilweise Erfolg.

46

1.

47

Der Senat legt den Berufungsantrag zu 2. - wie bereits das Landgericht - so aus, dass er nur künftige Schäden erfassen soll. Der Kläger hat denselben Feststellungsantrag wie in erster Instanz gestellt, der sich dem Wortlaut nach auch auf vergangene Schäden bezieht, allerdings in der Berufungsbegründung klargestellt, dass es sich um die Feststellung der Ersatzpflicht künftiger Schäden handelt.

48

2.

49

Die Berufung ist zum Teil begründet.

50

Der Kläger hat gegen die Beklagte zu 1) aus §§ 7 Abs. 1, 18 Abs. 1 StVG und gegen die Beklagte zu 2) aus § 115 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 VVG in Verbindung mit den vorgenannten Vorschriften einen Anspruch auf Schadensersatz. Dieser Anspruch besteht aufgrund der Abwägung der Verursachungsbeiträge nach § 17 Abs. 1, Abs. 2 StVG grundsätzlich in Höhe eines Anteils von 60 %. Während der Beklagten zu 1) Verstöße gegen § 9 Abs. 5, Abs. 1 S. 1 und S. 2 StVO sowie gegen § 41 Abs. 1 StVO i.V.m. Zeichen 295, 298 anzulasten sind, hat der Kläger gegen § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO und (ebenfalls) gegen § 41 Abs. 1 StVO i.V.m. Zeichen 295, 298 verstoßen.

51

Dem Kläger ist es aber nicht als Verschulden gegen sich selbst (§ 254 Abs. 1 BGB i.V.m. § 9 StVG) anzulasten ist, dass er außer einem Motorradhelm keine Schutzkleidung getragen hat. Denn es ist nicht festzustellen, dass es im Jahr 2014 dem allgemeinen Verkehrsbewusstsein entsprach, zum eigenen Schutz neben dem gesetzlich vorgeschriebenen Motorradhelm weitere Motorradschutzkleidung zu tragen.

52

a.

53

Der Unfall war weder für den Kläger noch für die Beklagte zu 1) ein unabwendbares Ereignis i.S.d. § 17 Abs. 3 StVG. Beide haben den Unfall vielmehr mitverschuldet (dazu sogleich).

54

b.

55

Für den Umfang der Haftung dem Grunde nach kommt es gemäß der § 17 Abs. 1 und 2 StVG danach auf eine Abwägung der Verursachungsanteile an. Entscheidend ist insbesondere, inwieweit der Schaden vorwiegend von dem einen oder anderen Teil verursacht worden ist. Dabei sind im Rahmen dieser Abwägung nur unstreitige bzw. zugestandene oder bewiesene Umstände zu berücksichtigen. Nur vermutete Tatbeiträge oder die bloße Möglichkeit einer Schadensverursachung aufgrund geschaffener Gefährdungslage haben deshalb außer Betracht zu bleiben (vgl. BGH, Urteil vom 21.11.2006, VI ZR 115/05, juris, Rn. 15; Urteil vom 13.02.1996, VI ZR 126/95, juris, Rn. 11; Urteil vom 10.01.1995, VI ZR 247/94, juris, Rn. 9 ff.; Senat, Urteil vom 23.02.2016, I-1 U 79/15, juris, Rn. 35; Urteil vom 11.10.2011, I-1 U 17/11, juris, Rn. 29; OLG Hamm, Urteil vom 18.11.2003, 27 U 87/03, juris, Rn. 7). Jeder Halter bzw. Schädiger hat dabei die Umstände zu beweisen, die dem anderen zum Verschulden gereichen und aus denen er die nach der Abwägung für sich günstigen Rechtsfolgen herleiten will (BGH, Urteil vom 13.02.1996, VI ZR 126/95, juris, Rn. 11; Senat, Urteil vom 23.02.2016, I-1 U 79/15, juris, Rn. 35; Urteil vom 11.10.2011, I-1 U 17/11, juris, Rn. 29; OLG Hamm, Urteil vom 18.11.2003, 27 U 87/03, juris, Rn. 7).

56

aa.

57

Auf Seiten der Beklagten ist die gesteigerte Betriebsgefahr des F. M. zu berücksichtigen. Die Beklagte zu 1) hat eine Sperrfläche in der Straßenmitte befahren (Verstoß gegen § 41 Abs. 1 StVO i.V.m. Zeichen 295, 298) und beim Abbiegen in ein Grundstück nicht die äußerste Sorgfalt angewandt (Verstoß gegen § 9 Abs. 5 StVO), denn sie hat sich nicht links eingeordnet (Verstoß gegen § 9 Abs. 1 S. 2 StVO) und nicht rechtzeitig geblinkt (Verstoß gegen § 9 Abs. 1 S. 1 StVO).

58

(1)

59

Die Beklagte zu 1) hat, was sie selbst einräumt, unerlaubt die Sperrfläche in der Straßenmitte befahren, § 41 Abs. 1 StVO i.V.m. Zeichen 295, 298.

60

(2)

61

Zudem hatte die Beklagte zu 1) sich vor dem beabsichtigten Abbiegen entgegen § 9 Abs. 1 Satz 2 StVO nicht zur Mitte der Straße eingeordnet, sondern stand von der Mitte ihres Fahrstreifens sogar ein Stück nach rechts versetzt. Die Pflicht zur Einordnung dient auch der Verdeutlichung der Abbiegeabsicht (Scholten in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, § 9 StVO, Rn. 28) und hätte im konkreten Fall dem Kläger auch anzeigen können, dass die Beklagte zu 1) beabsichtigte, über die Sperrfläche abzubiegen.

62

(3)

63

Weiter ist bewiesen, dass die Beklagte zu 1) auch entgegen § 9 Abs. 1 S. 1 StVO ihr Abbiegen (jedenfalls) nicht rechtzeitig unter Einsatz ihres Blinkers angekündigt hat. Ob die Beklagte zu 1) überhaupt geblinkt hat, womit sich das Landgericht vornehmlich im Rahmen der Beweiswürdigung befasst hat, kann offen bleiben.

64

Zweck des Blinkens ist, dass der nachfolgende Verkehr gewarnt wird, er soll rechtzeitig reagieren können. Danach muss ein rechtzeitiges Blinken so früh erfolgen, dass sich die anderen Verkehrsteilnehmer auf den Abbiegevorgang gefahrlos einstellen können. Maßgeblich ist weniger die Entfernung, als vielmehr die Zeit zwischen Anzeigebeginn und Abbiegen unter Berücksichtigung der Fahrgeschwindigkeit (KG Berlin, Beschluss vom 13.08.2009, 12 U 223/08, juris, Rn. 16; Scholten in: Freymann/Wellner, jurisPK-Straßenverkehrsrecht, 1. Aufl. 2016, § 9 StVO, Rn. 13 f.). Hier ergibt sich aber bereits aus den eigenen Angaben der Beklagte zu 1) im Rahmen ihrer Anhörung, dass sie nicht rechtzeitig geblinkt hat.

65

So hat sie ausgeführt, Lenken und Blinken seien quasi eine Bewegung gewesen bzw. sie habe beim Anfahren den Blinker gesetzt und sei „rübergezogen“. Auch bei einer geringen Geschwindigkeit ist ein Blinken unmittelbar vor bzw. im Zusammenhang mit dem Abbiegevorgang nicht rechtzeitig, weil der ‒ gegebenenfalls auch vorschriftswidrige ‒ Überhohlende sich auf das Abbiegen nicht mehr einstellen kann.

66

Soweit der Zeuge S. wenige Tage nach dem Unfall in einem Vermerk niedergelegt hatte, dass die Beklagte zu 1) geblinkt habe ‒ in der Zeugenvernehmung vor dem Landgericht konnte er sich daran nicht erinnern ‒ enthält auch der Vermerk keine Angaben zum Zeitpunkt des Blinkens.

67

(4)

68

Die Beklagte zu 1) hat auch gegen § 9 Abs. 5 StVO verstoßen. Sie hatte beim Abbiegen nach links auf den Supermarkt-Parkplatz nicht nur die allgemeinen Abbiegeregeln des § 9 Abs. 1 StVO zu beachten, sondern sich so zu verhalten, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen ist (§ 9 Abs. 5 StVO), d.h. sie musste äußerste Sorgfalt walten lassen. Dies hat sie ‒ wie dargelegt ‒ nicht getan.

69

bb.

70

Auf Seiten des Klägers ist bei der Abwägung die gesteigerte Betriebsgefahr seines Motorrads zu berücksichtigen. Auch er hat die Sperrfläche in der Straßenmitte befahren (Verstoß gegen § 41 Abs. 1 StVO i.V.m. Zeichen 295, 298) und ist zudem mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren (Verstoß gegen § 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO).

71

(1)

72

Das Landgericht hat für den Senat bindend (§ 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO) festgestellt, dass der Kläger über die Sperrfläche gefahren ist. Der Kläger wirft mit der Berufungsbegründung keine konkreten Zweifel an der ausführlichen und zutreffenden Beweiswürdigung des Landgerichts auf. Es ist aufgrund der Zeugenaussagen und der Verkehrssituation bewiesen, dass der Kläger frühzeitig ausgeschert ist und eine ganze Kolonne von Autos auf der Sperrfläche überholt hat. Soweit der Kläger in der Berufungsbegründung nun erstmals ‒ anders als bei seiner persönlichen Anhörung durch das Landgericht ‒ behauptet, er habe jedenfalls hinter dem F. M. der Beklagten zu 1) die Sperrfläche verlassen und sei in die freigegebene rechte Fahrspur zurückgekehrt, ist dies durch das Ergebnis der erstinstanzlichen Beweisaufnahme widerlegt. Dies erschiene schon im Hinblick auf den stockenden Verkehr fernliegend, zumal es auch an einer nachvollziehbaren Erklärung dafür fehlt, warum der Kläger zunächst eine Vielzahl von Autos überholt und dann ‒ grundlos ‒ wieder hinter dem F. M. der Beklagten zu 1) eingeschert sein will. Maßgeblich ist aber, dass keiner der Zeugen beschrieben hat, dass der Kläger zunächst wiedereingeschert wäre. Die Zeugen ‒ namentlich die Zeugen S., H. und S. ‒ haben vielmehr bekundet, dass der Kläger eine ganze Fahrzeugkolonne überholt hat.

73

(2)

74

Der Kläger ist mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren (§ 3 Abs. 3 Nr. 1 StVO), indem er mit einer Geschwindigkeit von zumindest 58 km/h gefahren ist, obwohl am Unfallort die zulässige Höchstgeschwindigkeit 50 km/h beträgt. Dies ist aufgrund der sachverständigen Feststellungen erwiesen.

75

cc.

76

Im Rahmen der nach § 17 Abs. 1 StVO vorzunehmenden Abwägung überwiegt die durch das erhebliche Verschulden der Beklagten zu 1) erhöhte Betriebsgefahr ihres F. M. die gesteigerte Betriebsgefahr des klägerischen Motorrads.

77

Bei der Abwägung der Verursachungsbeiträge ist im Ausgangspunkt zu berücksichtigen, dass die Betriebsgefahr des F. M. der Beklagten zu 1) diejenige des Motorrads des Klägers übersteigt. Zwar kann die Instabilität und die daraus resultierende Sturzgefahr die Betriebsgefahr eines Motorrads erhöhen, sofern und soweit sich diese nachweislich als Unfallursache ausgewirkt hat. Dies ist hier aber nicht erkennbar. Dass der Kläger als Motoradfahrer selbst einer erhöhten Verletzungsgefahr ausgesetzt ist, führt zu keiner anderen Beurteilung, denn die allgemeine Betriebsgefahr eines Fahrzeugs wird vor allem durch die Schäden bestimmt, die dadurch Dritten drohen (vgl. BGH, Urteil vom 01.12.2009, VI ZR 221/08, juris, Rn. 27 f.). Danach wirkt sich hier auch eine fehlende Schutzkleidung nicht aus.

78

Hinzukommt, dass in der Regel die Betriebsgefahr desjenigen, der ‒ wie hier die Beklagte zu 1) ‒ unter Außerachtlassung der Sorgfalt des § 9 Abs. 5 StVO in ein Grundstück abbiegen will, in der Regel doppelt so hoch zu bewerten ist wie die Betriebsgefahr desjenigen, der den Abbieger in unzulässiger Weise überholt (Senat, Urteil vom 06.05.2014, I-1 U 32/13, juris, Rn. 10). Zudem hat die Beklagte zu 1) über eine Sperrfläche hinweg abbiegen wollen und musste auch mit Verkehr auf der Sperrfläche rechnen. Denn unstreitig fuhren dort Straßenbahnen; die Sperrfläche war sogar eingerichtet, damit diese störungsfrei fahren konnten. Auf Seiten des Klägers ist allerdings zu berücksichtigen, dass er ebenfalls über die Sperrfläche gefahren ist. Weiter ist er zu schnell gefahren. Entgegen seiner Ansicht handelt es sich auch nicht um eine zu vernachlässigende Geschwindigkeitsüberschreitung. Sie betrug immerhin etwa 15 %, wenn es auch in absoluten Zahlen nur 8 km/h waren, wobei sich bei der Verursachung maßgeblich der erhebliche Geschwindigkeitsüberschuss gegenüber dem stockenden Verkehr ausgewirkt hat.

79

Insgesamt hält der Senat daher bei der Abwägung im Rahmen des § 17 Abs. 1 und Abs. 2 StVG eine Quote von 40 % zu 60 % zu Lasten der Beklagten für angemessen.

80

c.

81

Der Kläger hat danach einen Anspruch auf Ersatz des mit dem Klageantrag zu 1. geltend gemachten Sachschadens (nur) in Höhe von 2.015,81 € (60 % des unstreitigen Betrag i.H.v. 6.580,39 € abzgl. der gezahlten 1.932,42 €) und im Hinblick auf die mit dem Klageantrag zu 5. geltend gemachten Abschleppkosen in Höhe von 82,32 € (60 % von 137,20 €). Danach war der Klageantrag zu 1. im Übrigen und der Klageantrag zu 5. teilweise nämlich hinsichtlich der Abschleppkosten in Höhe von 54,88 €, abzuweisen (Abschleppkosten i.H.v. 137,30 € abzgl. der zuerkannten 82,32 €).

82

d.

83

Dem Kläger ist es - im Rahmen der Entscheidung über den Feststellungsantrag und den Haftungsgrund  -  auch nicht als Verschulden gegen sich selbst (§ 254 Abs. 1 BGB i.V.m. § 9 StVG) anzulasten, dass er außer dem Motorradhelm keine Schutzkleidung ‒ in Rede stehen hier Motorradjacke, -hose und ‒handschuhe - getragen hat, auch wenn sich dies bei seinem  Personenschaden ausgewirkt hätte.

84

Denn eine entsprechende Obliegenheit bestand zum Unfallzeitpunkt nicht

85

aa)

86

Eine gesetzliche Pflicht, Schutzkleidung zu tragen, gibt es bis heute nicht; nach § 21a Abs. 2 StVO war und ist lediglich vorgeschrieben, dass ein Motoradfahrer während der Fahrt einen geeigneten Schutzhelm tragen muss.

87

bb)

88

Immerhin könnte der Kläger eine ungeschriebene Obliegenheit verletzt haben, nämlich diejenige Sorgfalt in Acht zu nehmen, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt (BGH, Urteil vom 17.06.2014, VI ZR 281/13, juris, Rn. 9; BGH, Urteil vom 30.01.1979, VI ZR 144/77, juris, Rn. 10; MüKoBGB/Oetker, 8. Aufl. 2019, BGB § 254 Rn. 30). Unter diesem Gesichtspunkt hat der Bundesgerichtshof die Obliegenheit eines Motorradfahrers bejaht, einen Schutzhelm zu tragen (BGH, Urteil vom 09.02.1965, VI ZR 253/63, juris, Rn. 18), und die Obliegenheit eines Autofahrers erwogen, einen Gurt anzulegen (BGH, Urteil vom 20. März 1979, VI ZR 152/78. Juris, Rn. 16ff.; BGH, Urteil vom 10.04.1979, VI ZR 146/78, juris, Rn. 12ff.), obwohl zu den jeweiligen Zeitpunkt gesetzliche Verpflichtungen hierzu (noch) nicht bestanden.

89

Nach dieser Rechtsprechung besteht eine entsprechende Obliegenheit allerdings nur, wenn für Motoradfahrer das Tragen von (bestimmter) Schutzkleidung zur Unfallzeit im Jahr 2014 nach allgemeinem Verkehrsbewusstsein zum eigenen Schutz erforderlich war (vgl. BGH, Urteil vom 17.06.2014, VI ZR 281/13, juris, Rn. 8 f.; BGH, Urteil vom 30.01.1979, VI ZR 144/77, juris, Rn. 10; OLG Nürnberg, Beschluss vom 09.04.2013, 3 U 1897/12, juris, Rn. 17). Eben dies vermag der Senat nicht festzustellen, zumal aufgrund des Grundsatzes der Gewaltenteilung bei der Entwicklung von Obliegenheiten durch die Rechtsprechung Zurückhaltung geboten ist.

90

(1)

91

Ein wesentliches Indiz für das Vorliegen eines entsprechenden allgemeinen Verkehrsbewusstseins ist die tatsächliche Übung wie sie sich aus Umfrageergebnissen, Statistiken und amtlichen oder nichtamtlichen Erhebungen ergibt (vgl. BGH, Urteil vom 17.06.2014, VI ZR 281/13, juris, Rn. 12; BGH, Urteil vom 30.01.1979, VI ZR 144/77, juris, Rn. 14; BGH, Urteil vom 09.02.1965, VI ZR 253/63, juris, Rn. 19).

92

(a)

93

Der Senat hat zur Prüfung dieser Frage zunächst die von der Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) erstellten Statistiken herangezogen, da es keine Anhaltspunkte dafür gibt, dass in Duisburg, wo der Kläger wohnt und sich der Unfall ereignete, Besonderheiten gegenüber dem Bundesgebiet gelten (vgl. hierzu Offenloch, Danzl-Festschrift, 165, 175). Diese Statistiken belegen aber kein entsprechendes Verkehrsbewusstsein.

94

(aa)

95

Ausweislich der (Gesamt)Statistik für das Jahr 2014, die die gesamte Gruppe aller motorisierten Zweiradfahrer (innerorts) erfasst („Gürte, Kindersitze, Helme und Schutzkleidung ‒ 2014“, abrufbar unter www.bast.de), trugen (lediglich) 53 % dieser Gruppe ergänzend zum Helm (irgendwelche) Schutzkleidung. Diese ohnehin noch relativ geringe Quote ist mangels einer Differenzierung hinsichtlich der weiteren Schutzkleidung nicht aussagekräftig. Soweit diese Statistik auch ausweist, dass 19 % der motorisierten Zweiradfahrer eine komplette Schutzkleidung trugen, rechtfertigt diese geringe Quote nicht die Annahme eines allgemeinen Verkehrsbewusstseins.

96

(bb)

97

Auch die detaillierte von der BASt erstellte Statistik, die nur Fahrer von Krafträdern (mit einem Hubraum > 125 ccm) berücksichtigt, ist nicht hinreichend aussagekräftig.

98

Ausweislich der detaillierten Statistik trugen im Jahr 2014 zwar eine ganz erhebliche Zahl der Fahrer von Krafträdern (mit einem Hubraum > 125 ccm), nämlich 82 %, innerorts neben dem Helm als Schutzkleidung am Oberkörper (zumindest) eine Jacke (bzw. einen Anzug) und zwischen 67% und 71 % auch Handschuhe. Schutzbekleidung an den Beinen (Anzug oder Hose) trugen jedoch nur 43 % (siehe zu Letzterem schon LG Frankfurt, Urteil vom 07.06.2018, 2-01 S 118/17, juris, Rn. 7).

99

So trugen bei 2.091 beobachteten Kraftradfahrern

100

- Helm und komplette übrige Schutzkleidung              39 %

101

(d.h. Anzüge, Handschuhe und Stiefel)

102

- Helm, Jacke, Handschuhe, Stiefel              4 %

103

- Helm, Jacke, Handschuhe              24 %

104

- Helm, Jacke und Hose/Anzug, Handschuhe oder Stiefel              4 %

105

- Helm und Jacke               11 %

106

Summe               82 %.

107

Allerdings lässt die Statistik offen, welcher Art und Qualität die entsprechend festgehaltene Schutzkleidung genau ist. Soweit die Daten auf Verkehrsbeobachtungen beruhen, kann noch nicht einmal festgestellt werden, ob es sich um Schutzkleidung im eigentlichen Sinne, also um Kleidungsstücke handelt, die dazu geeignet und bestimmt sind, die Folgen eines Sturzes abzumildern. Der Kläger hat insoweit zu Recht darauf hingewiesen, dass auch bei der entsprechenden käuflich zu erwerbenden Schutzkleidung (Motorradjacke, Hosen, Anzüge aber auch Handschuhe) erhebliche qualitative Unterschiede existieren, die sich in beachtlichen Preisunterschieden niederschlagen (ebenso für Motorradstiefel OLG Nürnberg, Beschluss vom 09.04.2013, 3 U 1897/12, juris, Rn. 17).

108

Anders als beim Motorradhelm, bei dem der Gesetzgeber (seit einer Gesetzesänderung im Jahr 2005) vorschreibt, dass dieser „geeignet“ sein muss, § 21a Abs. 2 S. 1 StVO, gibt es bei der Schutzkleidung für Motorradfahrer keine verbindlichen Vorgaben. Vielmehr steht fest, dass auch die mit der Verkehrssicherheit befassten Verbände die angebotene Schutzkleidung für zum Teil nicht ausreichend sicher halten (vgl. den von dem Kläger vorgelegte Artikel „Schutzkleidung für Motorradfahrer“ des A. vom 25. Februar 2019, Bl. 546f. GA, und auch die von den Beklagten vorgelegte Auswertung der A. Unfallforschung aus April 2015 warnt vor „ungeeigneter“ Schutzkleidung, Bl. 482 GA). Auch wird darauf hingewiesen, dass Käufer darauf achten sollten, dass Protektoren (nach CE EN 1621) zertifiziert seien, woraus zu schließen ist, dass auch solche angeboten werden, die diese Voraussetzung nicht erfüllen und bei denen zu befürchten ist, dass sie von geringerer Qualität sind.

109

(b)

110

Auch die Ergebnisse anderer Untersuchungen sind nicht hinreichend aussagekräftig.

111

(aa)

112

Durch die G. (G. I.-D. A. S., ein Gemeinschaftsprojekt der Bundesanstalt für Straßenwesen (Bast) und der Forschungsvereinigung Automobiltechnik e.V. (FAT) zur umfassenden Erfassung von Verkehrsunfalldaten mit Personenschäden) wurden (schon) im Jahr 2010 im Rahmen einer Studie die Anteile getragener Schutzkleidung von Motorradfahrern und Fahrern von anderen motorisierten Zweirädern untersucht. Hier zeigte sich, dass in der Gruppe der Motorradfahrer (mehr als 125 ccm) 68,2 % eine Schutzjacke, 61,5 % Schutzhandschuhe, 56,6% eine Schutzhose, 47,7% Schutzstiefel und 28,5 % Nierenschutz trugen (vgl. Castro/Becke/Nugel, Personenschäden im Straßenverkehr, 2016, B Rn. 602). Diese ohnehin älteren Daten betreffen aber nur verunfallte Motorradfahrer, sind daher nicht repräsentativ und entsprechenden Einwänden wie die Statistiken der BASt ausgesetzt.

113

(bb)

114

Auch die Ergebnisse einer Studie des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. „Unfälle mit Krafträdern im Saarland“ (abrufbar unter www.udv.de), lassen keine sicheren Schlüsse auf ein Verkehrsbewusstsein für Motorradfahrer, Schutzkleidung zu tragen, zu. Danach wurde für Fahrer von Krafträdern (oberhalb von 125 ccm) zwar ermittelt, dass 60 % eine Schutzjacke aus Leder, 28% eine solche aus Gorotex und 12 % keine Schutzjacke trugen, sowie, dass 27 % eine Schutzhose aus Leder, 24 % eine solche aus Gorotex und 49 % keine trugen (S. 32 ff. der Studie). Da diese Statistik sich nur auf verunfallte Fahrer bezieht und überdies nur eine geringe Anzahl erfasst ‒ ausgewertet wurden nämlich lediglich 194 Verkehrsunfälle ‒, lassen sich diese Ergebnisse ebenfalls nicht verallgemeinern. Daher ist es auch nicht ausschlagegebend, dass hier nähere Angaben zur Beschaffenheit der Schutzkleidung (Leder bzw. Gorotex) zu finden sind, die allerdings auch nur beschränkte Aussagekraft besitzen, weil die genaue Qualität und ihre Effizienz im Falle eines Sturzes unklar bleiben.

115

(cc)

116

Die von den Beklagten vorgelegten Zahlen aus der Unfallforschung des A. (Anlage B2, Bl. 458 ff. GA) belegen ebenso wenig ein entsprechendes Verkehrsbewusstsein. Diese Zahlen beziehen sich nur auf die Gesamtgruppe der motorisierten Zweiradfahrer und zeigen für diese Gesamtgruppe nur eine geringe Tragequote für Schutzkleidung auf, die nicht geeignet ist, ein entsprechendes Verkehrsbewusstsein zu belegen. So trugen lediglich 17 % der Fahrer einen Vollschutz und (weitere) 5 % neben Schutzhelm noch Jacke und Handschuhe (Bl. 474 f. GA). Aussagen über die Gruppe der Kraftradfahrer lassen sich dadurch nicht gewinnen.

117

(c)

118

Soweit die Beklagten für die (mit unterschiedlichen Formulierungen aufgestellte) Behauptung, es habe für Fahrer von Supersportmaschinen im Jahr 2014 ein Verkehrsbewusstsein geherrscht, Motorradschutzkleidung zu tragen, Sachverständigenbeweis anbieten, handelt es sich um ein ungeeignetes Beweismittel. Denn die Beklagten erklären selbst, dass hierzu keine detaillierten Erkenntnisse existieren (Schriftsatz vom 02.05.2019, Bl. 530 GA), dies entspricht auch dem von der BASt mitgeteilten Datenbestand.

119

(2)

120

Andere Indizien, die bei der hier gegebenen Sachlage, die mangelnde Aussagekraft der Statistiken kompensieren und auf ein allgemeines Verkehrsbewusstsein von der Notwendigkeit entsprechende Schutzkleidung zu tragen hinweisen, sind nicht ersichtlich.

(a)

121

Aussagen und Empfehlungen von mit dem Thema „Motorrad-“ bzw. „Verkehrssicherheit“ befasster Verbände können keinen Beleg für ein entsprechendes allgemeines Verkehrsbewusstsein liefern (vgl. im Fahrradhelmfall BGH, Urteil vom 17.06.2014, VI ZR 281/13, juris, Rn. 14). Daher ist es nicht ausschlaggebend, dass diese Verbände auch vor dem Jahr 2014 dazu geraten haben, über den Helm hinaus Schutzkleidung zu tragen: so der A. auf seiner Internet-Seite „Info, Test & Rat“, das Institut für Zweiradsicherheit (ifz) in seiner Informationsbroschüre „Motorradbekleidung von Kopf bis Fuß ‒ Schutz ohne Kompromisse“ und der Deutsche Verkehrssicherheitsrat (DVR) auf seiner Internet-Seite (vgl. Brandenburgisches Oberlandesgericht, Urteil vom 23.07.2009, 12 U 29/09, juris, Rn. 18; Rebler, MDR 2014, 1187).

(b)

122

Auch die gesetzlichen Normen der Fahrerlaubnisprüfung und der Fahrschüler-Ausbildungsordnung (vgl. hierzu auch LG Heidelberg, Urteil vom 13.03.2014, 2 O 203/13, juris; Rebler, MDR 2014, 1187 f.) stellen ‒ auch im Rahmen einer Gesamtbetrachtung - kein ausreichendes Indiz für ein Verkehrsbewusstsein dar, bestimmte Schutzkleidung zu tragen. So verlangt Anlage 2.1 (zu § 4 der Fahrschüler-Ausbildungsordnung) in der ab dem 19. Januar 2013 geltenden Fassung unter 1.b) eine Unterrichtung (u.a.) über geeignete Schutzkleidung. Und die Anlage 7 zur FeV (Fahrerlaubnisprüfung, hier die Fassung vom 16.04.2014, die vom 01.05.2014 bis zum 30.09.2016 galt) sah unter Ziffer 2.2.18 vor, dass Bewerber geeignete Motorradschutzkleidung, bestehend aus einem passenden Motorradhelm, Motorradhandschuhen, einer eng anliegenden Motorradjacke, einem Rückenprotektor (falls nicht in Motorradjacke integriert), einer Motorradhose und Motorradstiefeln mit ausreichendem Knöchelschutz tragen.

123

Dabei ist aber auch zu berücksichtigen, dass der Fahrschüler bis er die praktische Prüfung bestanden hat, noch nicht den Nachweis erbracht hat, dass er befähigt ist, ein Motorrad im Straßenverkehr sicher zu führen. Das allein mag ein Grund für den Normgeber sein, einen besonderen Schutz vorzuschreiben. Hingegen kann die Unterrichtung über Schutzkleidung ‒ entsprechend der insoweit ähnlichen Empfehlung von Verbänden ‒ für sich kein tatsächliches Verkehrsbewusstsein belegen, auch wenn sie über längere Sicht gesehen ‒ ebenso wie eine allgemeine Werbekampagne der Bundesregierung, Schutzkleidung zu tragen  ‒ zum Entstehen eines Verkehrsbewusstseins beitragen mag.

124

cc)

125

Danach ist der Senat auch bei einer Gesamtbetrachtung nicht davon überzeugt (§ 286 Abs. 1 ZPO), dass im Jahr 2014 ein allgemeines Verkehrsbewusstsein für Kraftradfahrer bestand, zum eigenen Schutz (neben dem nach § 21a Abs. 2 StVO vorgeschriebenen Helm) auch (weitere) Schutzkleidung zu tragen. Die Statistiken sind hierfür insgesamt nicht hinreichend aussagekräftig. Hinzu kommt hinsichtlich des Tragens von Protektoren, dass insoweit schon gar keine Statistiken erkennbar sind und dass hinsichtlich von Schutzkleidung an den Beinen auch die ermittelten Quoten nicht ausreichend hoch sind. Unter diesen Umständen wäre es Sache des Gesetzgebers, durch die Normierung von Notwendigkeit und Qualitätsanforderungen an Schutzkleidung für Motorradfahrer für die Entwicklung einer berücksichtigungsfähigen Obliegenheit zu sorgen.

126

III.

127

Für das weitere Verfahren ist darauf hinzuweisen, dass der Umstand, dass der Kläger keine Schutzkleidung getragen hat und damit ein höheres (Verletzungs)Risiko eingegangen ist, auch bei der Bemessung des Schmerzensgelds nicht zu berücksichtigen ist. Denn die Teilnahme am Straßenverkehr ist ein sozialadäquates Verhalten und darf daher einem Geschädigten auch unter Billigkeitsgesichtspunkten nicht schmerzensgeldmindernd angelastet werden (BGH, Urteil vom 05.11.1996, VI ZR 275/95, juris, Rn. 11). Dies gilt solange die gesetzlichen Vorschriften ‒ wie hier vom Kläger, der den gesetzlich vorgeschriebenen Schutzhelm getragen hat ‒ eingehalten werden. Daher hält der Senat an der in früheren Entscheidungen (Senat, Urteil vom 20.02.2006, I-1 U 137/05, juris, Rn. 27, juris; Senat, Urteil vom 16.07.2013, I-1 U 216/12) geäußerten gegenteiligen Auffassung nicht fest.

128

IV.

129

Die Entscheidung über die Kosten des Rechtsstreits ist dem Schlussurteil vorzubehalten, da noch nicht feststeht, in welchem Umfang der Kläger obsiegt. Da die Berufung des Klägers auch einen Teilerfolg hat, ist über die Kosten nach § 92 ZPO zu entscheiden und nicht ‒ wie im Falle der erfolglosen Berufung ‒ nach § 97 Abs. 1 ZPO (Herget in: Zöller, Zivilprozessordnung, 32. Aufl. 2018, § 97 ZPO, Rn. 1; MüKoZPO/Schulz, 5. Aufl. 2016, ZPO § 97 Rn. 16). Nur im Falle der (gänzlich) erfolglosen Berufung gegen ein Grundurteil ist aber aufgrund der gesetzlich angeordneten Kostentrennung nach § 97 ZPO streitig, ob im Berufungsurteil eine Kostenentscheidung veranlasst ist (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 06.03.2014, I-23 U 112/13, juris, Rn. 2; MüKoZPO/Musielak, 5. Aufl. 2016, ZPO § 304 Rn. 36 jeweils m.w.N.).

130

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

131

Die Revision wird nach Maßgabe des § 543 Abs. 2 S. 1 Ziffer 2 ZPO im Hinblick auf die divergierende Rechtsprechung zur Feststellung eines Verkehrsbewusstseins, Schutzkleidung zu tragen (insbesondere Brandenburgisches Oberlandesgericht, Urteil vom 23.07.2009, 12 U 29/09, juris, Rn. 18; aber auch LG Köln, Urteil vom 15.05.2013, 18 O 148/08, juris, Rn. 16), zugelassen.

132

Der Gegenstandswert für den Berufungsrechtszug wird auf „bis 30.000,00 €“ festgesetzt.

RechtsgebieteBGB, StVGVorschriftenBGB § 254, StVG § 9

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