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20.02.2018 · IWW-Abrufnummer 199706

Bundesgerichtshof: Beschluss vom 23.01.2018 – V ZB 53/17

AufenthG § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5, § 2 Abs. 14; FamFG § 68 Abs. 3 Satz 2

a) § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG enthält einen einheitlichen Haftgrund der Fluchtgefahr, der durch die Kriterien des § 2 Abs. 14 AufenthG gesetzlich näher ausgeformt ist.

b) Das Beschwerdegericht muss den Betroffenen grundsätzlich nicht erneut anhören, wenn es die angeordnete Sicherungshaft auf einen anderen der in § 2 Abs. 14 Nr. 1 bis 6 AufenthG festgelegten Anhaltspunkte für das Vorliegen von Fluchtgefahr stützen will, als es das Amtsgericht getan hat. Anders ist es, wenn zur Ausfüllung des Begriffs der Fluchtgefahr ein neuer Sachverhalt eingeführt wird, zu dem sich der Betroffene noch nicht persönlich äußern konnte.


ECLI:DE:BGH:2018:230118BVZB53.17.0

Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 23. Januar 2018 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Stresemann, die Richterinnen Prof. Dr. Schmidt-Räntsch und Dr. Brückner, den Richter Dr. Göbel und die Richterin Haberkamp

beschlossen:

Tenor:

Die Rechtsbeschwerde gegen den Beschluss der 11. Zivilkammer des Landgerichts Osnabrück vom 24. Januar 2017 wird auf Kosten des Betroffenen zurückgewiesen.

Der Gegenstandswert des Beschwerdeverfahrens beträgt 5.000 €.



Gründe



I.

1


Der Betroffene, ein albanischer Staatsangehöriger, reiste am 30. Juli 2015 mit seiner Ehefrau und zwei minderjährigen Kindern in das Bundesgebiet ein. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte seinen Asylantrag als offensichtlich unbegründet ab und drohte die Abschiebung nach Albanien an. Die dagegen gerichtete Klage wurde am 18. Mai 2016 abgewiesen. Der Betroffene reiste zwischen dem 9. und dem 17. Mai 2016 mit seiner Familie in die Niederlande ein. Am 14. September 2016 wurde er bei der Wiedereinreise in das Bundesgebiet am Bahnhof Bad Bentheim angetroffen und von der Bundespolizei in Gewahrsam genommen.


2


Auf Antrag der beteiligten Behörde hat das Amtsgericht am 14. September 2016 Sicherungshaft gegen den Betroffenen bis längstens 27. September 2016 angeordnet. Die nach der Abschiebung des Betroffenen nach Albanien am 27. September 2016 auf Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haftanordnung gerichtete Beschwerde hat das Landgericht zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde verfolgt der Betroffene seinen Feststellungsantrag weiter. Die beteiligte Behörde beantragt die Zurückweisung der Rechtsbeschwerde.




II.

3


Das Beschwerdegericht meint, die Voraussetzungen für die Anordnung der Abschiebungshaft hätten vorgelegen. Es könne dahin stehen, ob der Haftgrund des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AufenthG angesichts der nur der Ehefrau erteilten Hinweise zu den haftrechtlichen Folgen eines Aufenthaltswechsels vorliege. Der Haftgrund der Entziehungsabsicht nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. § 2 Abs. 14 AufenthG sei gegeben. Zwar begründe allein ein etwaiger Verstoß gegen die Meldepflicht nicht den Verdacht einer Entziehungsabsicht. Der Betroffene habe sich aber noch vor der Entscheidung des Verwaltungsgerichts am 18. Mai 2016 in die Niederlande abgesetzt, obwohl er über seine Verpflichtung, jeden Wohnungswechsel umgehend mitzuteilen, belehrt worden sei. Zudem habe er im Anhörungstermin vor dem Amtsgericht ausdrücklich erklärt, er werde sich der Abschiebung entziehen (§ 2 Abs. 14 Nr. 5 AufenthG). Insgesamt sei nicht ernsthaft zu bezweifeln, dass sich der Betroffene seiner drohenden Abschiebung durch Flucht habe entziehen wollen.




III.

4


Die gemäß § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 FamFG mit dem Feststellungsantrag nach § 62 FamFG statthafte und auch im Übrigen (§ 71 FamFG) zulässige Rechtsbeschwerde hat keinen Erfolg. Die Entscheidung des Beschwerdegerichts hält einer rechtlichen Überprüfung stand. Das Beschwerdegericht hat die Haftanordnung rechtsfehlerfrei auf den Haftgrund der Fluchtgefahr gemäß § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. § 2 Abs. 14 Nr. 5 AufenthG gestützt.


5


1. Der Berücksichtigung des Haftgrundes durch das Beschwerdegericht stehen verfahrensrechtliche Hindernisse nicht entgegen. Es handelt sich, anders als die Rechtsbeschwerde meint, nicht um einen neuen Haftgrund (vgl. dazu Senat, Beschluss vom 16. Februar 2017 - V ZB 10/16, juris Rn. 9; Beschluss vom 7. Juli 2016 - V ZB 21/16, FGPrax 2016, 278 Rn. 6).


6


a) Allerdings haben die beteiligte Behörde und das Amtsgericht andere Anhaltspunkte für das Vorliegen einer Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG als das Beschwerdegericht gesehen. Die beteiligte Behörde hat den Haftantrag - neben dem Haftgrund des § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AufenthG auf § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. § 2 Abs. 14 Nr. 6 AufenthG gestützt. Das Amtsgericht hat den Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 i.V.m. § 2 Abs. 14 Nr. 1 AufenthG angenommen, ohne freilich diese Vorschrift ausdrücklich zu nennen. Es hat aber darauf abgestellt, dass der Betroffene seinen Aufenthalt gewechselt habe, ohne der zuständigen Behörde eine Anschrift anzugeben, unter der er erreichbar sei.


7


b) Das hinderte das Beschwerdegericht jedoch nicht, die Fluchtgefahr auf den Anhaltspunkt des § 2 Abs. 14 Nr. 5 AufenthG zu stützen. § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG enthält einen einheitlichen Haftgrund der Fluchtgefahr, der durch die Kriterien des § 2 Abs. 14 AufenthG gesetzlich näher ausgeformt ist.


8


aa) Der Gesetzgeber hat in § 62 Abs. 3 Satz 1 AufenthG sechs Haftgründe geregelt. Für den Haftgrund der Fluchtgefahr nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG begrenzt die Vorschrift des § 2 Abs. 14 AufenthG den Tatbestand der Fluchtgefahr auf objektive Umstände. Mit ihr hat der Gesetzgeber die von Art. 3 Nr. 7 der - hier maßgeblichen - Richtlinie 2008/115/EG (Rückführungsrichtlinie) verlangten gesetzlich festgelegten Kriterien zur Konkretisierung der im Gemeinschaftsrecht bestimmten Voraussetzungen der „Fluchtgefahr“ geregelt (vgl. dazu Senat, Beschluss vom 18. Februar 2016 - V ZB 23/15, InfAuslR 2016, 235 Rn. 8). Art. 3 Nr. 7 der Richtlinie bestimmt, dass unter Fluchtgefahr im Sinne der Richtlinie das „Vorliegen von Gründen im Einzelfall [zu verstehen ist], die auf objektiven, gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich Drittstaatsangehörige einem Rückkehrverfahren durch Flucht entziehen könnten“. Aufgrund der Verweisung in § 2 Abs. 15 Satz 1 AufenthG auf die in § 2 Abs. 14 AufenthG genannten Anhaltspunkte sind diese auch im Anwendungsbereich der Dublin-III-Verordnung heranzuziehen (vgl. dazu Senat, Beschluss vom 20. Mai 2016 - V ZB 24/16, NVwZ 2016, 1582 Rn. 7). Gemäß deren Art. 2 Buchst. n ist Fluchtgefahr das Vorliegen von Gründen im Einzelfall, die auf objektiven, gesetzlich festgelegten Kriterien beruhen und zu der Annahme Anlass geben, dass sich ein Antragsteller, ein Drittstaatsangehöriger oder Staatenloser, gegen den ein Überstellungsverfahren läuft, diesem Verfahren möglicherweise durch Flucht entziehen könnte.


9


bb) Die in § 2 Abs. 14 Nr. 1 bis 6 AufenthG festgelegten Kriterien fächern den Haftgrund nach § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG nicht in einzelne Haftgründe auf (aA: Beichel/Benedetti in Huber, Aufenthaltsgesetz, 2. Aufl., § 62 Rn. 18). Entsprechendes gilt für den Haftgrund der erheblichen Fluchtgefahr im Sinne von Art. 28 Abs. 2 der Dublin-III-Verordnung (vgl. näher Senat, Beschuss vom 11. Januar 2018 - V ZB 28/17, zur Veröffentlichung bestimmt). Sowohl nach dem Wortlaut der Vorschrift („können“) als auch nach der Gesetzesbegründung (vgl. BT-Drucks. 18/4097, S. 32) stellt das Vorliegen eines der in § 2 Abs. 14 und 15 AufenthG geregelten Anhaltspunkte lediglich ein Indiz dafür dar, dass im konkreten Fall eine Fluchtgefahr besteht. Welches Gewicht diesem Indiz zukommt und ob tatsächlich von einer Fluchtgefahr ausgegangen werden kann, bedarf immer einer Gesamtbetrachtung aller Umstände des Einzelfalls (vgl. BT-Drucks. 18/4097, S. 32 u. 34; Senat, Beschluss vom 16. Februar 2017 - V ZB 115/16, InfAuslR 2017, 253 Rn. 9). Diese obliegt gemäß § 26 FamFG auch dem Beschwerdegericht (§ 68 Abs. 3 FamFG).


10


2. a) Nach § 2 Abs. 14 Nr. 5 AufenthG kann die ausdrückliche Erklärung des Ausländers, dass er sich der Abschiebung entziehen will, ein Anhaltspunkt für eine Fluchtgefahr sein. Eine solche Erklärung liegt vor, wenn der Ausländer klar zum Ausdruck bringt, dass er nicht freiwillig in den in der Abschiebungsandrohung genannten Zielstaat reisen und sich vor allem auch nicht für eine behördliche Durchsetzung seiner Rückführung zur Verfügung halten würde (vgl. BT-Drucks. 18/4097, S. 33; Senat, Beschluss vom 12. Mai 2016 - V ZB 27/16, juris Rn. 5).


11


b) Die tatrichterliche Schlussfolgerung auf die Entziehungsabsicht unterliegt einer Rechtskontrolle nur dahin, ob die verfahrensfehlerfrei festgestellten Tatsachen eine solche Folgerung als möglich erscheinen lassen (vgl. Senat, Beschluss vom 13. Februar 2012 - V ZB 46/11, juris Rn. 9 mwN). Mit der Rechtsbeschwerde kann nicht geltend gemacht werden, dass die Folgerungen des Tatrichters nicht zwingend seien oder dass eine andere Schlussfolgerung ebenso naheliegt.


12


c) Hieran gemessen bejaht das Beschwerdegericht rechtsfehlerfrei die Entziehungsabsicht. Es stellt darauf ab, dass der Betroffene in dem Anhörungstermin vor dem Amtsgericht erklärt hat, er sei in die Niederlande gereist, weil er nach dem ablehnenden Bescheid des Bundesamts jeden Tag mit dem Eintreffen der Polizei gerechnet und vor der drohenden Abschiebung aus Deutschland Angst gehabt habe, und er wolle auf keinen Fall zurück nach Albanien, sondern mit seiner Familie in Deutschland bleiben. Das Beschwerdegericht hat diese Erklärung rechtsfehlerfrei dahingehend gewürdigt, dass der Betroffene sich einer Abschiebung in sein Heimatland nicht stellen und untertauchen würde. Dass das darin geschilderte Verhalten des Betroffenen in der Vergangenheit Aussagekraft für die Gegenwart hat (vgl. dazu Senat, Beschluss vom 28. April 2011 - V ZB 14/10, juris Rn. 8), ist eine mögliche Würdigung, die Rechtsfehler nicht erkennen lässt.


13


3. Weil es sich bei § 62 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 AufenthG um einen einheitlichen Haftgrund handelt, muss das Beschwerdegericht den Betroffenen grundsätzlich nicht erneut anhören, wenn es die angeordnete Sicherungshaft auf einen anderen der in § 2 Abs. 14 Nr. 1 bis 6 AufenthG festgelegten Anhaltspunkte für das Vorliegen von Fluchtgefahr stützen will, als es das Amtsgericht getan hat. Anders ist es, wenn zur Ausfüllung des Begriffs der Fluchtgefahr ein neuer Sachverhalt eingeführt wird, zu dem sich der Betroffene noch nicht persönlich äußern konnte (vgl. Senat, Beschluss vom 11. Januar 2018 - V ZB 28/17, zur Veröffentlichung bestimmt). So liegt es hier nicht. Der in § 2 Abs. 14 Nr. 5 AufenthG geregelte Anhaltspunkt für die Fluchtgefahr ergibt sich aus der Einlassung des Betroffenen bei der persönlichen Anhörung vor dem Haftrichter.




IV.

14


Die Kostenentscheidung beruht auf § 84 FamFG, die Festsetzung des Gegenstandswerts auf § 36 Abs. 3 GNotKG.


Stresemann Schmidt-Räntsch Brückner
Göbel Haberkamp

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