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08.08.2017 · IWW-Abrufnummer 195717

Kammergericht Berlin: Beschluss vom 14.12.2016 – (4) 121 Ss 175/16 (205/16)

1. Zu den tatbestandlichen Voraussetzungen einer Steuerhinterziehung bei Bezug von Kindergeld für in der Türkei lebende Kinder.

2. Zu den erforderlichen Feststellungen zum subjektiven Tatbestand.


Kammergericht Berlin

Beschl. v. 14.12.2016

Az.: (4) 121 Ss 175/16 (205/16)

Tenor:

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Berlin vom 13. Juli 2016 mit den Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Tiergarten hat die Angeklagte am 30. Oktober 2015 wegen Steuerhinterziehung zu einer Geldstrafe von 200 Tagessätzen zu je 15 Euro verurteilt. Auf die hiergegen mit dem Ziel des Freispruchs eingelegte Berufung der Angeklagten hat das Landgericht Berlin die erstinstanzliche Entscheidung "im Rechtsfolgenausspruch" dahin abgeändert, dass die Angeklagte wegen Steuerhinterziehung in zwei Fällen zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu je 15 Euro verurteilt wird, und ihr Zahlungserleichterungen gewährt. In den Urteilsgründen wird klarstellend darauf hingewiesen, dass es sich bei der erkannten Strafe um eine Gesamtgeldstrafe handelt, die aus zwei Einzelgeldstrafen von jeweils 60 Tagessätzen zu je 15 Euro gebildet worden ist. Gegen dieses Urteil hat die Angeklagte in zulässiger Weise Revision eingelegt, mit der sie die Verletzung formellen und materiellen Rechts rügt.

II.

Das Rechtsmittel hat mit der Sachrüge Erfolg, so dass es eines Eingehens auf die ebenfalls erhobenen Verfahrensrügen nicht bedarf.
1. Das Landgericht hat seiner Entscheidung im Wesentlichen die folgenden Feststellungen zugrunde gelegt:

"(...) Die Angeklagte ist verheiratet und hat zwei Söhne, O G, geboren am 1. Februar 1997 in B., und C G, geboren am 6. Juni 1998 in K.. (...).
Die Angeklagte beantragte am 18. Februar 1997 Kindergeld für ihren Sohn O G. Auf der Rückseite des Antrages befanden sich 'Hinweise', wonach Kindergeld nur für Kinder gezahlt werde, 'die zum Haushalt des Antragstellers gehören'. Im Dezember 1998 übersandte die Angeklagte der Familienkasse eine Haushaltsbescheinigung vom 25. November 1998, in der sie angab, dass ihre Kinder O und C zu ihrem Haushalt gehören. Am 5. Oktober 1998 beantragte sie Kindergeld für ihre beiden Söhne. Am 6. Juni 2000 füllte die Angeklagte einen Fragebogen zur Prüfung des Anspruchs auf Kindergeld aus, in dem die Fragen sowohl in deutscher als auch in türkischer Sprache gestellt wurden. Vor der Unterschriftszeile findet sich der Hinweis, dass alle Änderungen, die für den Anspruch auf Kindergeld Bedeutung haben, unverzüglich der Familienkasse mitzuteilen sind.

Die Familienkasse zahlte seit der Antragstellung, d.h. von 1997 bzw. 1998, für beide Kinder der Angeklagten Kindergeld, und zwar bis Oktober 2013. Zwischenzeitliche Überprüfungen der Anspruchsberechtigung der Angeklagten nahm die Familienkasse nicht vor. Im Februar 2013 erhielt die Familienkasse einen Ermittlungsbericht der R. GmbH, wonach die Angeklagte im Meldebestand nicht ermittelt werden konnte. Daraufhin stellte die Familienkasse die Kindergeldleistungen an die Angeklagte im Oktober 2013 ein.

Die Kinder der Angeklagten lebten seit der Geburt zunächst im Haushalt der Angeklagten in B.. Seit spätestens August 2003 hielten sie sich bei ihrem Vater in der Türkei auf, der von der Angeklagten getrennt lebte. Mit einer 'Veränderungsmitteilung' vom 21. Januar 2014 teilte die Angeklagte der Familienkasse mit, dass ihre Kinder in der Türkei die Schule seit der ersten Klasse besuchen und dort bei dem Kindesvater leben.

Am 6. März 2014 reichte sie bei der Familienkasse einen Fragebogen zur Prüfung des Anspruchs auf Kindergeld ein, in dem sie angab, dass sich ihre Kinder in der Türkei aufhalten. Mit Schreiben vom 20. März 2014 hörte die Familienkasse die Angeklagte zur beabsichtigten Rückforderung des Kindergeldes für den Zeitraum von April 2007 bis Oktober 2013 in Höhe von 27.532,00 € an. Daraufhin bestätigte die Angeklagte in einer E-Mail vom 3. April 2014, dass ihre beiden Söhne seit Anfang ihrer schulischen Bildung in der Türkei bei ihrem Vater leben. Da sie und ihre beiden Söhne die deutsche Staatsangehörigkeit besäßen, sei sie von der Rechtmäßigkeit des Kindergeldbezuges ausgegangen.

Mit Bescheid vom 9. Mai 2014 verlangte die Familienkasse von der Angeklagten die Erstattung des Kindergeldes für den Zeitraum von April 2007 bis Oktober 2013 in Höhe von 27.532,00 €. Der Bescheid ist mittlerweile rechtskräftig. Am 3. September 2014 erließ die Familienkasse einen weiteren Bescheid über einen Rückforderungsbetrag in Höhe von 12.012,00 € für den Zeitraum von Januar 2004 bis einschließlich März 2007.

Dagegen legte die Angeklagte Einspruch ein. Gegen die Einspruchsentscheidung erhob sie Klage vor dem Finanzgericht Berlin-Brandenburg, das ihre Klage mit Urteil vom 20. Januar 2016 abgewiesen hat. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig.

Die Angeklagte musste damit rechnen, dass die Voraussetzungen für die Gewährung des Kindergeldes durch den Wegzug ihrer Kinder in die Türkei nachträglich weggefallen sind."

2. Diese Feststellungen tragen nicht den Schuldspruch wegen Steuerhinterziehung (in zwei Fällen) nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO i.V.m. § 68 EStG.

a) Bereits die Feststellungen zum objektiven Tatbestand erweisen sich als unvollständig und teilweise widersprüchlich.

aa) Das Landgericht hat zwar zutreffend ausgeführt, dass die Familienkassen nach § 6 Abs. 2 Nr. 6 AO Finanzbehörden im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO sind. Es ist zu Recht davon ausgegangen, dass Kindergeld nach § 31 Satz 3 EStG eine Steuervergütung ist (vgl. Ransiek in: Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rdn. 437; Joecks in Joecks/Jäger/Randt, Steuerstrafrecht 8. Aufl., § 370 AO Rdn. 142), als solche einen Steuervorteil darstellt und daher - soweit es zu Unrecht gewährt oder belassen wird - Gegenstand einer Steuerhinterziehung sein kann (§ 370 Abs. 4 Satz 2 AO). Zutreffend ist auch die Auffassung des Landgerichts, dass die Angeklagte als Antragstellerin und Bezieherin von Kindergeld nach § 68 Abs. 1 Satz 1 EStG verpflichtet war, Änderungen in den Verhältnissen, die für die Leistung erheblich sind oder über die im Zusammenhang mit der Leistung Erklärungen abgegeben worden sind, unverzüglich der zuständigen Familienkasse mitzuteilen. Ebenso hat das Landgericht zu Recht angenommen, dass der Verstoß gegen die Verpflichtung zur Mitteilung steuerlich erheblicher Tatsachen nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO strafbewehrt ist, sofern der Verpflichtete dadurch für sich oder einen anderen nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt. Alle zitierten Vorschriften galten unverändert in dem in Betracht kommenden Tatzeitraum zwischen August 2003 und Januar 2004.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO sind indes nicht vollständig belegt. Die getroffenen Feststellungen weisen zwar aus, dass die Angeklagte, die für ihre beiden Söhne Kindergeld beantragt hatte und dieses seit der Antragstellung jeweils fortlaufend bezog, es unterlassen hat, die Familienkasse über den Umzug der Kinder in die Türkei zu unterrichten. Sie erlauben jedoch nicht den Schluss, dass die Angeklagte damit ihre Verpflichtung zur Mitteilung steuerlich erheblicher Tatsachen verletzt und dadurch nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangt hat.

Zwar sind Kinder, die weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem EWR-Staat haben, nach § 63 Abs. 1 Satz 6 EStG (zuvor: § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG) bei der Zahlung von Kindergeld grundsätzlich nicht berücksichtigungsfähig. Die Gesamtumstände legen auch nahe, dass die Kinder der Angeklagten ihren Inlandswohnsitz aufgegeben haben, da sie sich zum Zwecke einer Schul- oder Berufsausbildung zu Verwandten - ihrem Vater - ins Ausland begeben und dort unter Begründung eines (neuen) Wohnsitzes über einen langen Zeitraum aufgehalten haben (dazu und zu möglichen Ausnahmen bei besuchsweisen Aufenthalten im Inland vgl. eingehend FG München, Beschluss vom 28. Februar 2008 - 5 K 1273/07 - [...] Rdn. 18; Felix in: Kirchhof, EStG 15. Aufl., § 63 Rdn. 4).

Auch dürften die Voraussetzungen der in § 63 Abs. 1 Satz 6 2. Halbs. EStG (zuvor: § 63 Abs. 1 Satz 3 2. Halbs. EStG) normierten Ausnahme vom Territorialitätsprinzip nicht gegeben sein; denn die Feststellungen legen nahe, dass der Vater - anders als die Angeklagte und die gemeinsamen Kinder - nicht deutscher (sondern wahrscheinlich türkischer) Staatsangehöriger ist bzw. war und daher im Zeitraum des Kindergeldbezuges nicht Berechtigter im Sinne des § 62 Absatz 1 Satz 1 Nr. 2a EStG war, da er als Ausländer nicht der erweiterten unbeschränkten Steuerpflicht nach § 1 Abs. 2 EStG unterlag. Im Übrigen wäre im Falle der Anspruchsberechtigung des Vaters das Kindergeld grundsätzlich an diesen und nicht an die Angeklagte zu zahlen gewesen (§ 64 Abs. 1, Abs. 2 Satz 1 EStG).

Jedoch sind in Abweichung vom nationalen Kindergeldrecht Kinder mit Wohnsitz oder gewöhnlichem Aufenthalt in der Türkei bei den nach § 62 EStG anspruchsberechtigten Personen zu berücksichtigen, sofern die Voraussetzungen des mit der Türkei geschlossenen Abkommens über soziale Sicherheit (SozSichAbk TUR; BGBl. II 1965 S. 1170, 1182) erfüllt sind (vgl. Felix, a.a.O., § 63 Rdn. 6; Hillmoth in Kanzler/Kraft/Bäuml, EStG, § 63 Rdn. 37 m.w.N.). Ob dies - zumindest in einem Teil des Bezugszeitraums - der Fall war, so dass jedenfalls ein Anspruch auf Abkommenskindergeld in der jeweils vorgesehenen Höhe bestand, lässt sich anhand der Feststellungen nicht abschließend beurteilen, da schon nicht mitgeteilt wird, ob die Angeklagte die deutsche Staatsangehörigkeit vor, während oder erst nach Ablauf dieses Zeitraums erworben hat (zur Relevanz der Staatsangehörigkeit vgl. etwa BFHE 239, 109 [BFH 27.09.2012 - III R 55/10]; 230, 545 - jeweils [...]; Weber-Grellet in Schmidt, EStG 35. Aufl., § 63 Rdn. 4).

bb) Die Feststellungen zum Zeitpunkt des Umzugs der Söhne der Angeklagten in die Türkei erweisen sich als widersprüchlich. Während die Kammer zunächst ausführt, dass sich die Kinder seit spätestens August 2003 bei ihrem Vater in der Türkei aufgehalten hätten (UA S. 4), heißt es im Rahmen der Beweiswürdigung, der ältere Sohn, der im August 2003 schulpflichtig geworden sei, habe sich spätestens seit Januar 2004 in der Türkei aufgehalten; dies gelte auch für den jüngeren Sohn, da davon auszugehen sei, dass beide zusammen in die Türkei gegangen seien. Unklar bleibt danach, für welchen Zeitraum die Angeklagte (bei Vorliegen der übrigen Tatbestandsvoraussetzungen) unberechtigt Kindergeld bezogen hat.

b) Auch die Feststellungen zum subjektiven Tatbestand sind lückenhaft.

aa) Der Tatbestand der Steuerhinterziehung kann, da § 370 AO keine Strafbarkeit der fahrlässigen Begehung anordnet, nur vorsätzlich begangen werden (§ 15 StGB). Die fahrlässige Steuerverkürzung wird in der Form der Leichtfertigkeit nach § 378 AO als Ordnungswidrigkeit geahndet (vgl. Schott in Hüls/Reichling, Steuerstrafrecht, § 370 Rdn. 258).

Vorsätzliche Begehung in Form des - hier allein in Betracht kommenden - bedingten Vorsatzes setzt voraus, dass der Täter den Eintritt des tatbestandlichen Erfolges als möglich und nicht ganz fernliegend erkennt und damit in der Weise einverstanden ist, dass er die Tatbestandsverwirklichung billigend in Kauf nimmt oder sich um des erstrebten Zieles willen wenigstens mit ihr abfindet, mag ihm auch der Erfolgseintritt an sich unerwünscht sein; bewusste Fahrlässigkeit liegt hingegen dann vor, wenn der Täter mit der als möglich erkannten Tatbestandsverwirklichung nicht einverstanden ist und ernsthaft - nicht nur vage - darauf vertraut, der tatbestandliche Erfolg werde nicht eintreten (vgl. BGHSt 36, 1 - [...] Rdn. 24; BGH StraFo 2016, 37 [BGH 05.11.2015 - 4 StR 124/14] - [...] Rdn. 29; StraFo 2013, 468 [BGH 13.08.2013 - 2 StR 180/13] - [...] Rdn. 8). Da beide Schuldformen im Grenzbereich eng beieinander liegen, müssen bei der Annahme bedingten Vorsatzes die Merkmale der inneren Tatseite grundsätzlich umfassend geprüft und durch tatsächliche Feststellungen belegt werden (vgl. BGH a.a.O.; JR 1988, 115 - [...] Rdn. 6). Ausführliche - nicht nur formelhafte - Feststellungen zum subjektiven Tatbestand sind namentlich dann erforderlich, wenn sich aufgrund der Schilderung des äußeren Sachverhalts nicht von selbst versteht, dass der Angeklagte vorsätzlich gehandelt hat (vgl. KG, Beschluss vom 15. Februar 2000 - [5] 1 Ss 16/00 [9/00] - [...]).

Bei § 370 Abs. 1 AO muss sich der Vorsatz auf die jeweiligen Tathandlungen der Nummern 1 bis 3, den Hinterziehungserfolg oder den nicht gerechtfertigten Steuervorteil und den Zurechnungszusammenhang erstrecken. Der Täter muss den Sinn des Tatbestandsmerkmals und des darunter zu subsumierenden Verhaltens zutreffend erfassen (vgl. Ransiek in Kohlmann, Steuerstrafrecht, § 370 AO Rdn. 619 f., 658 ff.). Für die Annahme bedingten Vorsatzes ist nicht erforderlich, dass der Täter den Steueranspruch dem Grunde oder der Höhe nach sicher kennt (vgl. BGH wistra 2011, 465 [BGH 08.09.2011 - 1 StR 38/11] - [...] Rdn. 21) oder gar Kenntnis von der genauen Abgabenart und der steuerlichen Anspruchsnorm hat (vgl. Ransiek, a.a.O., § 370 AO Rdn. 661). Es genügt vielmehr, dass er den Steueranspruch für möglich hält und die Finanzbehörde dennoch über die Besteuerungsgrundlagen in Unkenntnis lässt (vgl. Schott, a.a.O., § 370 Rdn. 261). Aufgrund der tatbestandlichen Besonderheiten des § 370 AO kommt dem Wissenselement entscheidende Bedeutung für das Vorliegen des dolus eventualis zu. Derjenige, der nicht auf die Richtigkeit seiner Angaben vertraut, sondern es wenigstens ernsthaft für möglich hält, dass die von ihm mitgeteilten, als potenziell steuererheblich erkannten Tatsachen unrichtig sind und einen Steuerverkürzungserfolg herbeiführen können, findet sich regelmäßig mit diesem Erfolg ab; denn er kann auf dessen Ausbleiben nicht vertrauen, da die Angaben (zwangsläufig) in die Steuerfestsetzung einfließen (vgl. Ransiek, a.a.O., § 370 AO Rdn. 614 m.w.N.; Ransiek/Hüls NStZ 2011, 678, 680 f.). Dabei darf allerdings nicht vorschnell und ohne Begründung angenommen werden, dass der Täter die Bedeutung unrichtiger oder unvollständiger Angaben erkannt oder bewusst unrichtige oder unvollständige Angaben gemacht hat. Insbesondere kann derjenige, der Tatsachen gänzlich verschweigt, durchaus auch von deren Unerheblichkeit ausgehen (vgl. Ransiek, a.a.O., § 370 AO Rdn. 615).

Bei der Unterlassungsvariante des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO muss der Täter ernsthaft für möglich halten und billigen, dass die Finanzbehörde keine Kenntnis über die entsprechenden Tatsachen hat, diese steuerlich erheblich sind, er die Aufklärung unterlässt und dadurch als Taterfolg eine Steuerverkürzung oder ein ungerechtfertigter Steuervorteil eintritt (vgl. Gehm, Kompendium Steuerstrafrecht 2. Aufl., S. 69). Ferner muss sich der Vorsatz auf die tatsächlichen Umstände erstrecken, die die steuerliche Erklärungspflicht begründen (vgl. BGH wistra 1986, 219; Joecks, a.a.O., § 370 AO Rdn. 504; Ransiek, a.a.O., § 370 AO Rdn. 665 ff. mit zahlreichen Nachweisen zum Streitstand; a.A. [Vorsatz bezüglich der Rechtspflicht als solcher] Gehm a.a.O.). Hat der Täter die Steuererheblichkeit des eigenen Verhaltens erfasst, wird er in aller Regel auch ernsthaft für möglich halten, dass ihn die vorbezeichnete Rechtspflicht trifft (vgl. Ransiek/Hüls a.a.O. S. 481). Auch ist dem Staatsbürger im Allgemeinen bekannt, dass eine Anzeigepflicht gegenüber den Finanzbehörden besteht, wenn die Voraussetzungen für eine gewährte Steuervergünstigung nachträglich weggefallen sind (vgl. BGH a.a.O.). Wer dagegen etwas vergisst oder wegen Unkenntnis der Steuerrechtslage erst gar nicht an die Abgabe einer Erklärung denkt, unterlässt nicht vorsätzlich, sondern gegebenenfalls fahrlässig (vgl. Ransiek, a.a.O., § 370 AO Rdn. 670).

bb) Die sich danach ergebenden Voraussetzungen für die bedingt vorsätzliche Verwirklichung des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO sind durch die vom Landgericht getroffenen tatsächlichen Feststellungen nicht belegt.

Diese weisen zunächst aus, dass sich auf der Rückseite des von der Angeklagten am 18. Februar 1997 ausgefüllten Antragsformulars Hinweise befanden, denen zufolge Kindergeld nur für Kinder gezahlt werde, die zum Haushalt des Antragstellers gehören. Ob die Angeklagte diese Hinweise zur Kenntnis genommen hat und ob das Antragsformular Fragen zur Haushaltszugehörigkeit des Kindes enthielt, für das Kindergeld beantragt wurde, ist den Urteilsgründen nicht zu entnehmen. Aus den Feststellungen ergibt sich ferner, dass die Angeklagte am 5. Oktober 1998 Kindergeld für ihre Söhne O und C beantragte und dass sie der Familienkasse im Dezember 1998 eine "Haushaltsbescheinigung" übersandte, in der sie angab, dass ihre Kinder zu ihrem Haushalt gehörten. Bezüglich des (vermutlich schriftlich) gestellten Kindergeldantrages fehlt es an jeglichen Angaben zu dem Inhalt des (vermutlich) ausgefüllten Formulars. Ebenso wenig wird mitgeteilt, ob es sich bei der "Haushaltsbescheinigung" um eine formularmäßige Erklärung handelte und welche (für die Angeklagte erkennbare) Relevanz die Bescheinigung hatte, ob insbesondere die Auszahlung des Kindergeldes von der Erklärung der Antragstellerin abhing. Darüber hinaus hat die Kammer festgestellt, dass sich auf einem am 6. Juni 2000 von der Angeklagten ausgefüllten Fragebogen zur Prüfung des Anspruchs auf Kindergeld vor der Unterschriftszeile der Hinweis findet, dass alle Änderungen, die für den Anspruch auf Kindergeld Bedeutung haben, unverzüglich der Familienkasse mitzuteilen sind. Zwar dürfte davon auszugehen sein, dass dieser Hinweis - ebenso wie die zu beantwortenden Fragen - in deutscher und türkischer Sprache erteilt wurde (was das Urteil nicht mitteilt) und dass die Angeklagte ihn aufgrund seiner Platzierung zur Kenntnis genommen hat. Da jedoch der Inhalt des Fragebogens nicht mitgeteilt wird, bleibt offen, ob sich aus dem Formular die Relevanz der Haushaltszugehörigkeit für den Kindergeldanspruch ergab und die Angeklagte hiervon - und folgerichtig von der Erstreckung der vorbezeichneten Mitteilungspflicht auf diesen Umstand - Kenntnis erlangte oder die Erheblichkeit entsprechender Angaben zumindest ernsthaft für möglich hielt. Auch die Feststellungen in ihrer Gesamtheit belegen dies nicht.

Anzumerken ist im Übrigen, dass die Haushaltszugehörigkeit bei - wie hier - im ersten Grad mit dem Steuerpflichtigen verwandten Kindern nur eingeschränkte Bedeutung für den Anspruch auf Zahlung von Kindergeld hat. Abkömmlinge ersten Grades werden nach § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG ohne Rücksicht auf ihre Haushaltszugehörigkeit berücksichtigt; dies ergibt sich aus dem Wortlaut der zitierten Vorschriften, die - anders als § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und 3 sowie § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG - dieses Merkmal nicht erwähnen. Der Anspruch auf Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz entfällt bei dem vorbezeichneten Personenkreis nur unter den in § 63 Abs. 1 Satz 6 EStG (zuvor: § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG) normierten Voraussetzungen, wobei es für die Ausnahme im zweiten Halbsatz der Vorschrift auf die Haushaltszugehörigkeit des Kindes ankommt. Steuerlich erheblich war daher im vorliegenden Fall (bei Vorliegen der weiteren Voraussetzungen) nicht das Ausscheiden der Kinder aus dem Haushalt der Angeklagten als solches, sondern die hiermit verbundene Verlegung ihres Wohnsitzes in die Türkei.

cc) Das Landgericht hat aufgrund der tatsächlichen Feststellungen (insoweit folgerichtig) selbst nicht den Schluss gezogen, dass die Angeklagte erkannte oder zumindest für möglich hielt, dass die Angaben zur Haushaltszugehörigkeit ihrer Kinder steuerlich erheblich waren, dass sich die in dem Fragebogen benannte Verpflichtung zur Mitteilung von Änderungen daher auf diesen Umstand bezog und dass das Unterlassen entsprechender Angaben zur Folge hätte, dass sie durch die Fortzahlung des Kindergeldes nicht gerechtfertigte Steuervorteile erlangte. Die Formulierungen weisen vielmehr nur aus, dass die Angeklagte die Verwirklichung des objektiven Tatbestandes des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO bei Anwendung der gebotenen und ihr möglichen Sorgfalt hätte erkennen können und müssen.

So heißt es am Ende Sachverhaltsschilderung, die Angeklagte habe damit rechnen müssen, dass die Voraussetzungen für die Gewährung des Kindergeldes durch den Wegzug ihrer Kinder in die Türkei nachträglich weggefallen seien. Entsprechend wird im Rahmen der rechtlichen Würdigung - nach Darstellung der rechtlichen Voraussetzungen für die Annahme bedingten Vorsatzes - ausgeführt [Hervorhebungen durch den Senat]:

"Daran gemessen musste es die Angeklagte für möglich halten, dass der Kindergeldanspruch nach dem Wegzug der Kinder in die Türkei entfallen ist. Die Tatsache des Umzugs der Kinder war ihr bekannt. Sie war aufgrund ihres Verständnishorizonts auch in der Lage zu erkennen, dass dieser Umstand Einfluss auf den Kindergeldanspruch hat. Die von ihr ausgefüllten Formulare enthielten Hinweise darauf, dass der Kindergeldanspruch vom Aufenthaltsort der Kinder abhängt. Bei dieser Sachlage hätten der Angeklagten beim Wegzug der Kinder in die Türkei zumindest Zweifel kommen müssen, ob sie weiterhin Kindergeld beanspruchen kann. Da sie trotz dieser Zweifel den Kindergeldbezug fortgesetzt hat, ohne die Zweifel etwa durch eine Klärung bei der Kindergeldkasse auszuräumen, liegt bedingter Vorsatz vor."

dd) Danach ist das kognitive Element des bedingten Vorsatzes entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht belegt; denn das "Erkennenkönnen" der objektiven Tatbestandsmerkmale reicht hierfür nicht aus (vgl. BGH StRK AO 1977 § 370 R. 4 - [...]; Ransiek, a.a.O., § 370 AO Rdn. 661).

Vielmehr ergibt sich aus den zitierten Darlegungen lediglich ein Fahrlässigkeitsvorwurf in der Form der unbewussten Fahrlässigkeit und damit allenfalls - sofern der hierfür erforderliche erhöhte Grad an Fahrlässigkeit erreicht wird und die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen erfüllt sind - eine leichtfertige Steuerverkürzung nach § 378 AO (vgl. Rolletschke, Steuerstrafrecht 4. Aufl., 1. Teil, B. I. 10 Rdn. 118 f.; Groß in Hüls/Reichling, a.a.O., § 378 Rdn. 20). Unbewusste Fahrlässigkeit ist dann gegeben, wenn der Täter die Sorgfalt außer Acht lässt, zu der er nach den Umständen und seinen persönlichen Verhältnissen verpflichtet und fähig ist, und deshalb nicht erkennt, dass er den gesetzlichen Tatbestand verwirklicht (vgl. Vogel in Leipziger Kommentar, StGB 12. Aufl., § 15 Rdn. 148, 209 m.w.N.). Leichtfertigkeit ist eine qualifizierte Fahrlässigkeit und dadurch gekennzeichnet, dass der Täter grob achtlos handelt und nicht beachtet, was sich unter den Voraussetzungen seiner Erkenntnisse und Fähigkeiten aufdrängen muss (vgl. BGHSt 33, 66 - [...] Rdn. 20; Niedersächs. Finanzgericht, Urteil vom 24. Juli 2014 - 1 K 102/13 - [...] Rdn. 84 ff. [zu § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO bei unberechtigtem Kindergeldbezug]; Fischer, StGB 63. Aufl., § 15 Rdn. 20; Vogel, a.a.O., § 15 Rdn. 293 ff. m.w.N.). Sie ist nicht auf Fälle bewusster Fahrlässigkeit beschränkt und mit dieser nicht deckungsgleich (vgl. BGH StV 1994, 480), sondern kann auch als unbewusste Fahrlässigkeit auftreten (vgl. BGH StV 1988, 203 [BGH 13.01.1988 - 3 StR 450/87] - [...] Rdn. 23; Hüls/Reichling, a.a.O., § 378 Rdn. 21; Fischer a.a.O.; Vogel, a.a.O., § 15 Rdn. 149).

Soweit das Landgericht zur inneren Tatseite abschließend ausführt, dass bedingter Vorsatz vorliege, weil die Angeklagte "trotz dieser Zweifel den Kindergeldbezug fortgesetzt [habe], ohne die Zweifel etwa durch eine Klärung bei der Kindergeldkasse auszuräumen", liegt dem zwar die zutreffende Rechtsauffassung zugrunde, dass bedingter Vorsatz anzunehmen ist, wenn ein Steuerpflichtiger Zweifel an der Berechtigung einer fortlaufend gezahlten Steuervergünstigung hat und gleichwohl - ohne gegenüber dem Finanzamt die Zweifel offenzulegen und sachkundigen Rat einzuholen - den Leistungsbezug fortsetzt (vgl. [zur Rechtmäßigkeit einer Abrechnungspraxis] BGH wistra 1995, 69 [BGH 15.11.1994 - 5 StR 237/94]). Die durch die Formulierung "trotz dieser Zweifel" nahe gelegte tatsächliche Annahme, dass die Angeklagte derartige Zweifel hatte, steht jedoch zu der vorangegangenen Aussage, dass der Angeklagten Zweifel hätten kommen müssen (tatsächlich also nicht gekommen sind), im Widerspruch. Sie findet auch in den getroffenen tatsächlichen Feststellungen keine Grundlage.

3. Da nicht auszuschließen ist, dass in einer neuen Hauptverhandlung zusätzliche Feststellungen getroffen werden können, hebt der Senat das angefochtene Urteil gemäß § 349 Abs. 4 StPO auf und verweist die Sache gemäß § 354 Abs. 2 Satz 1 StPO an eine andere Strafkammer des Landgerichts Berlin zurück.

4. Für die weitere Sachbehandlung weist der Senat auf Folgendes hin: Im Falle der Erweislichkeit einer von der Angeklagten begangenen Steuerhinterziehung durch Unterlassen wird zu prüfen sein, ob das tatbestandsmäßige Verhalten eine Tat im Rechtssinne darstellt oder ob es als mehrere Taten (§ 53 StGB) zu werten ist, wie es das Landgericht (entgegen dem Tenor unter Abänderung des amtsgerichtlichen Urteils auch im Schuldspruch) angenommen hat. Gegenstand der Prüfung ist insoweit nicht - wie im angefochtenen Urteil ausgeführt - die Beantragung und der nachfolgende Bezug des Kindergeldes, sondern das von § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO erfasste Unterlassen. Sofern die steuerlich erheblichen Tatsachen durch dieselbe Handlung mitzuteilen gewesen wären - was im Falle des gleichzeitigen Umzugs der Kinder in die Türkei und einer hierdurch ausgelösten Erklärungspflicht nahe liegt -, kommt die Wertung als Tateinheit in Betracht (vgl. BGH wistra 2014, 443; 2005, 30; Schott, a.a.O., § 370 Rdn. 434 m.w.N.; Joecks, a.a.O., § 370 AO Rdn. 723).

RechtsgebieteEStG, StGB, AOVorschriftenAO § 370 Abs. 1 Nr. 2; AO § 378 Abs. 1; EStG § 62; EStG § 63; StGB § 15

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